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Innsbrucker Rede

Langjähriger Verleger und Autor Michael Krüger hielt zum Erscheinen von Quart Nr. 26 eine ganz und gar nachlesenswerte Rede: über aus der Mode gekommene Denkmoden, einen leeren Himmel, die Vulgarisierung der Verlagsprogramme und Kulturzeitschriften als Gradmesser einer Kultur.

In den sechziger Jahren, als ich zaghaft selber zu denken begann, beherrschten, noch vor den revolutionären Umtrieben um 1968, einige Themen und Motive die ästhetische Diskussion, später: den Diskurs, die heute, fünfzig Jahre später, bereits wie nach Steinzeit klingen: z. B. die Wiederentdeckung der Psychoanalyse als kulturkritische Methode, heute so total vergessen, dass man geradezu erschrickt, wenn in der Rezension eines literarischen Buches auf Freud oder Jung hingewiesen wird; oder die Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz von Kunst, heute eine Lachnummer; brauchen freie Gesellschaften überhaupt Kunst, und wenn ja: warum eigentlich und welche? Oder die Frage, ob der dialektische Materialismus die Existenz und Bedeutung von Kunst besser erklären könne als der Idealismus, da lachen heute die Hühner; es wird gemalt und geschrieben und komponiert, was das Zeug hält, und natürlich wird erwartet, dass diese Produktion gefördert wird, an der Begründung wird nicht mehr gearbeitet; Kunst ist Kunst, und damit basta. Ökonomie des Kulturmarkts, ein Dauerthema der frühen sechziger Jahre – längst passé.
Oder hat die Romantik mit ihrer Vergegenwärtigung einer versunkenen Welt, oder die Gegenaufklärung oder die Nachtseite der Vernunft, haben uns in einer durchrationalisierten Welt diese Begriffe noch etwas zu sagen? Die damalige Antwort: nein, alles falscher Schein; heute sind große Teile der kulturellen Produk-
tion neo-romantisch und die Frage nach der Tradition gilt als obsolet. Referenzpunkt ist immer das letzte Ereignis, das Jetzt, alles was früher war, ist vergessen. Auch die schönste Sonntagsrede kann daran nichts ändern.

Die Frage nach dem Ende der Kunst im Anschluss an Hegel, wohl eine der wichtigsten Fragen, die man sich aber gar nicht mehr zu stellen traut, die nichtsdestotrotz wichtig bleibt für den, der heute produziert: Warum bin ich der Ansicht, dass ausgerechnet MEIN Werk, mein Musikstück, mein Roman, meine Videoinstallation dem schon Vorhandenen noch etwas hinzufügt?
Oder die Frage der Ethno-Poesie, von Hubert Fichte wortgewaltig vertreten, also die Frage danach, was die ehemals sogenannten primitiven Kulturen mit ihren synkretistischen religiösen Praktiken zu unserem Kunstverständnis beitragen können, eine Frage, die die Wissenschaft nach wie vor umtreibt, die aber praktisch als erledigt gilt – oder interessieren wir uns tatsächlich für afrikanische Literatur und Kunst?

Und so weiter, und so fort, ich könnte lange Listen aufstellen. Wer einmal in die Literatur- und Kulturzeitschriften jener Zeit schaut, der kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Mit welcher Emphase wurde ein Werk wie das von Walter Benjamin entdeckt und produktiv gemacht, mit welchem Ernst das Werk von Claude Lévi-Strauss diskutiert oder die Schriften von Roland Barthes und Michel Foucault und Hans Blumenberg! Und man fragt sich natürlich, wo dieser Schwung geblieben ist.
Es ist merkwürdig, wie schnell Probleme, Werke und Autoren, die einer Generation als die wichtigsten erscheinen, der nächsten oder übernächsten Generation bereits wie Spinnweben vorkommen. Weil sie sich von selbst erledigt haben? Nein, ganz gewiss nicht. Weil sie zu radikal waren? Nein, nicht wirklich. Weil die post-ideologische Moderne einfach neue Probleme braucht, um sich nicht mit den alten zu langweilen? Da könnte was dran sein. Wer zehnmal in seinem Leben mit einer neuen Bildungsreform sich auseinanderzusetzen hatte, will partout von einer elften nichts mehr hören. Das ist verständlich. Man braucht neue Reize. Aber ist das eine anthropologisch nachvollziehbare Antwort? Sind Sie, die ja alle jünger sind als ich, völlig verschiedene Menschen?
So kam zum Beispiel – mit einem neuen Papst – die alte Religion wieder auf den Tisch, die so richtig tief keinen mehr berührte. Man hatte sich irgendwie daran gewöhnt, dass der Himmel leer war und auch die Metaphysik nichts anderes ist als eine Kopfgeburt. Aber aus irgendwelchen Gründen wollte man das noch einmal überprüfen, weil die Welt ohne Religion offenbar als zu ärmlich empfunden wurde. Offenbar konnte man den leeren Himmel nicht aushalten, und die Kunst, die einspringen wollte, um die Lücke zu füllen, hat sie nicht füllen können. Sie ist gescheitert, wenn sie mehr sein wollte als Kunst. Nietzsches Bemerkung: Wir brauchen die Kunst, um nicht an der Wahrheit zu Grunde zu gehen, geht ins Leere, wenn es DIE Wahrheit nicht mehr gibt und die tausend Wahrheiten jeglicher Verbindlichkeit ermangeln. Und auch das alberne Ranking, ein durch und durch abgeschmacktes kapitalistisches Gesellschaftsspiel, kann die Frage nach der Bedeutung und der Künstlichkeit der Kunst nicht beantworten. Und doch entstehen so Bedeutungen, wenn wir das Wort ganz neutral betrachten, zum Beispiel für den Kunstmarkt. So wie einer, der fünftausend Follower hat, eine andere Bedeutung hat als einer mit nur fünfundzwanzig.

Und was die Religion betrifft, die plötzlich noch einmal hervorgeholt wurde, so wurden natürlich keine religiösen Glaubensfragen diskutiert, sondern es wurde zum tausendsten Mal die Frage nach der Enthaltsamkeit der Priester gestellt – und natürlich wieder vertagt, während eine andere Religion sich nicht mit solchen Kinkerlitzchen herumschlägt, weil sie zum unumstößlichen Gesetz wurde: Sie, von der wir fast nichts wissen, von der wir aber jeden Tag reden, soll mit terroristischen Mitteln durchgesetzt werden, also mit einer durch und durch gewalttätigen Methode, die wir aus unserer christlichen Kirchengeschichte nur gut genug kennen. Wer nicht an mich glaubt, soll verdorren. Dass dieser Islam Hunderte von Jahren als eminente Quelle der hellsten Inspiration gedient hat, geht im gegenwärtigen Krieg mit einer islamistischen Minderheit unter. Kann man sich eine Situation vorstellen, in der wir unsere Religion noch einmal zum Gesetz erheben?

Wir brauchen also neue Kontexte, um unsere alten, ungelösten Probleme überhaupt noch einmal zur Sprache bringen zu können. Aber kann man Kontexte herstellen?
Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang einer neuen Kontextualisierung an die Begeisterung, mit der der alte Robert Jungk in Salzburg von seinen Zukunftswerkstätten sprach, winzigen Einrichtungen in Afrika oder Asien, wo zwei oder drei sich zusammengetan hatten, um eine alte Technik der Töpferei zu pflegen oder ein frühmittelalterlich-jemenitisches System der Wasserversorgung. Dieses Recycling alter Methoden war für ihn die modernste Art, über Zukunft nachzudenken. Wo andere mit großen Theorien aufwarteten, empfahl er diese minimalen Revitalisierungen einmal gewusster Handwerkskünste zur Überwindung globaler Krisen. Wer heute über Zukunft nachdenkt, schaut zur Weltbank oder der Fed oder zum Entwicklungsministerium und kann sich dann, wenn er unbedingt will, zusammenreimen, warum der afrikanische Bauer, der mit dem jemenitischen Wassersystem seine Tomaten wässert, sich niemals einen Traktor anschaffen kann. Nie!
Der Bauer war dann plötzlich nicht mehr interessant genug, um unser Interesse zu provozieren, wir interessierten uns für strukturelle Probleme. Solange die Tomate in der Auslage liegt und noch bezahlbar ist, so lange denken wir nicht mehr darüber nach, unter welchen Umständen sie dorthin gekommen ist.
Der Bauer wurde erst dann wieder interessant, als er plötzlich vor unserer Tür stand, zusammen mit einer Million anderer Habenichtse, die ihre Hacken und altmodischen Bewässerungssysteme zurückgelassen haben und nun hier leben wollen. Sie wollen ihre Tomaten bei uns kaufen und verspeisen.
Der neue Beruf der Bauern aus der dritten Welt lautet Flüchtling. Er will nicht mehr Teil eines strukturellen Problems sein, sondern ein konkretes. Er will nicht noch einmal zwanzig Jahre auf die Antwort auf seine Frage warten, warum er seine Märkte für die Waren des Westens öffnen soll, während der Westen auf seine Tomaten verzichtet.
Eine dramatische Kontextveränderung hat den Tomatenbauer wieder interessant gemacht. Wenn nicht alles in die Luft geht, wird dieser Bauer oder das Kind oder Kindeskind dieses Bauern eines Tages auch in die Oper gehen wollen, um Nabucco zu hören oder die Aida und den Weltverbesserer oder die Neunte. Er will es, weil er wissen will, warum wir diese Dinge schätzen, und weil er sich anpassen will. Und was sieht und hört er dann? Und wie lange dauert es, bis er wollen will?

Aber noch einmal zurück:
Die beginnenden sechziger Jahre waren für uns, nach der lähmenden, stickigen Adenauerzeit, die eigentlich so weitermachen wollte wie vordem, ein Experimentierfeld: Jeden Tag ging, ohne dass man selber einen Handgriff tun musste, ein Fenster auf und ließ frische Luft in die Zimmer ein, die von den dichten Rauchschwaden des Existentialismus, des Geworfenseins und der Vergeblichkeit besetzt waren. Hatte uns als Schüler noch die Allegorie des armen Sisyphos in Bann geschlagen, der immer wieder von Neuem seinen Stein den Berg hinaufrollen musste, damit er, oben angekommen, wieder hinunterpolterte, so belebte uns nun der gerade erst wiederentdeckte Paul Valéry mit seiner süffisanten Bemerkung, immerhin habe der Sisyphos dadurch feste Muskeln erhalten, er soll also bitte nicht jammern.
Ich will also auch nicht jammern, obwohl diese schönen Zeiten von Aranjuez nun weiß Gott lange vorbei sind. Das Entdeckerische wurde abgelöst vom Besserwisserischen, aus der eruptiven Revolte, die als Vorschein der Freiheit gefeiert wurde, wurde entweder ein terroristischer Rundumschlag gegen DIE Gesellschaft oder ein doktrinärer Marxismus, dem folgte ein langer, nicht besonders produktiver Katzenjammer, der als Neue Subjektivität verklärt wurde, die an ihrer eigenen Langeweile erstickte. Die frei werdende Diskursfläche wurde besetzt von einer sogenannten Postmoderne, die in allen Schattierungen und Potentialitäten auftrat, mal toll kostümiert, mal asketisch gewandet, aber so richtig ernst wurde die Kultur nicht mehr genommen. Alles war da und alles war möglich, für jeden Charakter und für jeden Geldbeutel war ein Sitz reserviert, die Theorie der Kultur wurde von der Sonntagsrede abgelöst, und wem irgendwas nicht passte, der sollte halt an der nächsten Tür anklopfen. Auf jeden Fall gab es für alles eine offene Tür.
Natürlich gab es Unterschiede zwischen den deutschsprachigen Ländern. In der Schweiz wurde durch Frisch und Dürrenmatt, Muschg und Bichsel die politische Geschichte des Landes unter einem dicken Teppich aus Verdrängung und Vergessen hervorgeholt und die dabei zum Vorschein gekommenen Konten der Diktatoren aller Länder für die Öffentlichkeit geöffnet; ästhetische Probleme waren zweitrangig.
In Österreich dagegen hielt man es weniger mit der Theorie der Ästhetik als vielmehr mit der ästhetischen Praxis: Wenn unsereiner, von endlosen Debatten ermattet, nach Graz zum Steirischen Herbst oder nach Wien fuhr, staunten wir nicht schlecht über die enorme Breite, die ästhetische Differenz und die überraschende Widerborstigkeit der österreichischen Literatur, mit einem Wort: Wir staunten über ihre Lebendigkeit. Während bei uns die anhaltende Diskussion um die gesellschaftliche Relevanz der Literatur zu einer Verödung der literarischen Produktion geführt hatte, die dann zu Recht von Peter Handke in Princeton eins hinter die Ohren kriegte, hatte man in Österreich noch eine lebhafte und unspießige Vorstellung von Literatur.
Ich weiß noch, wie Nicolas Born und ich in meinem Deux-Chevaux eigens nach Klagenfurt gefahren sind, um den Autor des Geometrischen Heimatromans aufzusuchen, Gert Jonke, der allerdings am selben Vormittag – ob Sie es glauben oder nicht – nach Afghanistan aufgebrochen war; ich hatte sein Buch in der FAZ besprochen, wo ich übrigens viele österreichische Bücher besprach, von dem handfesten Michael Scharang bis zu Dominik Steiger. Ich erinnere mich mit wohligem Schauder an die vollkommen verrückten Begegnungen mit Wolfi Bauer oder Helmut Eisendle, der damals den Kleinen Grazer Suizidkasten geschrieben hatte; ich kann mich gut an die Gespräche mit Alfred Kolleritsch in Graz über Heidegger erinnern, ein Gespräch, das damals in Deutschland mehr oder weniger unmöglich war; an Konrad Bayer, der mit meinem Bruder in Berlin Hörspiele produzierte; ich sehe noch vor mir, wie H. C. Artmann in großer Erregung – es ging natürlich um eine Frau – seine Schreibmaschine durch ein geschlossenes Fenster hindurch auf die Kleiststraße in Charlottenburg warf. Wie Gerhard Rühm mit todernstem Gesicht sein Gedicht Die Gute Hausfrau Stickt vorlas in einem Berliner Theater, und wie wir danach, schlapp vor Lachen, alle ins Exil gingen, zu Ossi Wiener, wo die österreichische Kolonie in Berlin sich am Abend traf, um mit herrlichen Mehlspeisen sich auf die Nacht vorzubereiten. Aber sogar später in München profitierten wir von diesem österreichischen Literaturwunder: Ich sehe noch Elfriede Jelinek vor mir, die ihr erstes Buch in der Autorenbuchhandlung vorstellte: Wir sind Lockvögel, Baby, oder Peter Handke, mit dem zusammen ich dreißig Jahre lang den Petrarca-Preis vergeben habe. Gar nicht zu reden von Ilse Aichinger, Ingeborg Bachmann, Friederike Mayröcker, Elfriede Gerstl oder Ernst Jandl, Christoph Ransmayr oder Gerhard Roth. Wenn es irgendwo wirkliche authentische Schriftsteller-Künstler gab, die diesen Namen noch verdienten, so meine damals vielleicht naive Vorstellung, dann in Österreich.
Wie stolz war man, wenn man in einer österreichischen Zeitschrift gedruckt wurde, in den „manuskripten“, in „Text und Kritik“, in Otto Breichas „Protokollen“! Ich sage das mit Bedacht, weil wir hier ja die neue Ausgabe einer Zeitschrift feiern. Literarisch-künstlerische Zeitschriften waren und sind der Gradmesser einer Kultur, das gilt für alle europäischen Länder, die stolz auf ihre Kultur sind, von Gallimards „Nouvelle Revue Française“, die übrigens nie mehr als 1.500 Exemplare Auflage hatte und wohl dennoch die bedeutendste Literaturzeitschrift der Welt ist, bis zu T. S. Eliots „Criterion“ oder die mexikanische „Vuelta“ von Octavio Paz. Für einen langen Aufsatz, den ich dort veröffentlichte, erhielt ich nach Wochen einen Scheck über einen Dollar, der allerdings von Paz selber gezeichnet war, ein symbolisches Kapital!
Das Verschwinden von Zeitschriften ist ein hundertprozentiges Indiz für die Anfälligkeit einer Kultur. Gerade in einer Zeit der extremen Konzernbildung im Verlagswesen und im Buchhandel, die ja zu einer extremen Vulgarisierung und Banalisierung der Verlagsprogramme führt, zu einem dramatischen Innovationsstopp, sind Zeitschriften auf höchstem ästhetischen Niveau, ganz gleich, in welcher Auflage sie gedruckt werden, das einzige Antidot.

Kürzlich wurde mir von einem vollkommen erschöpften Postbeamten das gesammelte Frühjahrsprogramm der Bertelsmann-Verlage, des Bertelsmann-Konzerns, vor die Tür geworfen, 46 oder 64 Programme, auf Hochglanz gedruckt, ich schätze ca. zweitausend Bücher zusammen, eine einzige ästhetische Katastrophe, ein Offenbarungseid der Literatur, des Sachbuchs und der Erbauung. Es ist mir unbegreiflich, warum keiner darüber so schreibt, wie Hans Magnus Enzensberger im letzten Jahrhundert über Die Sprache des Spiegel in seinem Buch Einzelheiten geschrieben hat: Auch dieser Konzern, das ist das deprimierende Fazit, möchte, und nicht nur aus steuerlichen Gründen, als Kulturproduzent gelten. Aber was ist Kultur, wenn dieses fürchterliche Gemisch aus amerikanischen Bestsellern, zusammengeschusterten Ratgebern und zum Himmel schreiender Esoterik Kultur genannt werden darf? Müsste einer, und noch der einfältigste Leser, diese Bücher hintereinander lesen, würde er tot umfallen. Begründet wird diese Ansammlung tödlichen Ramschs mit der Behauptung, der gestresste Leser wolle halt leichte Unterhaltung, um sich von den Strapazen des Alltags zu erholen. Ist es nicht das selbe Argument, mit dem uns unser Fernsehen, zumindest in Deutschland, abspeist, obwohl es doch seiner Verfassung nach einen Kulturauftrag hat? Ist es nicht vielmehr so, dass der Zuschauer, wenn er ununterbrochen mit diesem Ramsch bedient wird, am Ende glaubt, es gäbe nichts anderes? Ich habe vor wenigen Jahren, nach dem Tod des bedeutenden Schriftstellers W. G. Sebald, dem Fernsehsender arte den Vorschlag gemacht, einen Film über den großartigen, auf der ganzen Welt der Literatur gelesenen Schriftsteller W. G. Sebald zu produzieren, der, nebenbei gesagt, einer der besten Kenner der österreichischen Literatur der letzten hundert Jahre war, und wurde beschieden, der Autor sei zu unbekannt, um ihm dem großen Publikum vorzustellen. Da Sie, Besucher einer Buchhandlung, wissen, was ich meine, will ich hier abbrechen. Wir haben vergessen, was Literatur ist oder sein könnte. Botho Strauß, auch einer der besten, obwohl er keine Romane mehr schreibt, hat einmal eine von dem Ethnologen Bronisław Malinowski notierte Beobachtung zur Beschreibung unserer kulturellen Lage zitiert. Malinowski berichtet von der Sitte eines Buschvolkes, das sich an einem bestimmten Tag im Jahr Butter auf den Kopf schmiert, Jahr für Jahr und mit großem Ernst, es war eine rituelle Tätigkeit, die eng mit der Identität dieses Stammes zusammenhing. Auf die wiederholte Frage, warum sie das täten, wurde ihm nach langem Nachdenken mitgeteilt: Man habe es leider vergessen.

Lassen Sie mich noch einmal an den Anfang meiner kurzen, vielleicht aber auch schon zu langen Rede zurückkehren: In den sechziger Jahren wurde mit großer Leidenschaft ein Problem diskutiert, das man vielleicht wiederbeleben sollte, nämlich die Unterscheidung von E und U, von ernster Kunst und Unterhaltungskunst. Auch dieses Problem wurde nicht in der damaligen Zeit und schon gar nicht von uns erfunden, aber es erhielt damals eine neue Aktualität. Es war der aus dem amerikanischen Exil zurückgekehrte Philosoph Theodor W. Adorno, der es mit strenger Geste auf unseren Studiertisch legte. „Zur Selbstverständlichkeit wurde, dass nichts, was die Kunst betrifft, mehr selbstverständlich ist, weder in ihr, noch in ihrem Verhältnis zum Ganzen, nicht einmal ihr Existenzrecht …“, schrieb er, und weiter: „Ungewiss, ob Kunst überhaupt noch möglich sei; ob sie, nach ihrer vollkommenen Emanzipation, nicht ihre Voraussetzungen sich abgegraben und verloren habe. Die Frage entzündet sich an dem, was sie einmal war“ – heißt es in Adornos Ästhetischer Theorie. Für ihn war jede affirmative Kunst Teil der Kulturindustrie, was ihn gelegentlich zu harschen und oft auch nicht nachvollziehbaren Urteilen führte.
Aber Adorno war so durchdrungen von der Vorstellung, dass die bloße Existenz von schlechter Kunst die wahre Kunst, mit h, als Adjektiv, zerstören würde, dass er diese Missverständnisse in Kauf nahm. Und hat er nicht grosso modo recht behalten?
Die Unterhaltungskunst hat auf allen Ebenen gesiegt und sich, verbrüdert mit ihrer Stiefschwester, der eitlen Repräsentationskunst, zur Diskursverwalterin entwickelt. Wie das geschehen konnte, und zwar total, von dem genannten Beispiel Bertelsmann über das Fernsehen bis zu einem Kunstmarkt, der jegliche Kriterien verloren und sich vollständig in die Arme des Kapitals geworfen hat, ist meines Wissens noch nicht untersucht worden. Wenn heute, um ein paar Beispiele zu nennen, ein neues Buch von Charlotte Roche erscheint, dann erscheinen noch vor den zu erwartenden Verrissen, am besten noch einen Tag vor Erscheinen des Buches, in allen seriösen und auch weniger seriösen Zeitungen ganzseitige Interviews mit der Autorin, die den Diskurs und damit auch den Verkauf lenken wollen; da man diese Huldigung nicht kritiklos stehen lassen kann, erscheint dann am nächsten Tag die Rezension, und das bei immer weniger Platz für Kultur in den Zeitungen. Oder wir lesen bis zum Überdruss auf den Medienseiten, wie toll und großartig die amerikanischen Serien sind, die als Narrativ angeblich schon lange den Roman abgelöst haben, während gleichzeitig im Fernsehen selber stundenlang die Verleihung der unansehnlichen deutschen Fernsehpreise gefeiert wird, was Millionen an Kosten verschlingt, während das Fernsehen in Bayern z. B. gleichzeitig seine beiden Büchersendungen kippt. Am Fernsehpreis nimmt natürlich der Ministerpräsident teil, weil er auf diese Weise einmal sich ungeschoren im Fernsehen zeigen darf. Das ist Repräsentationskultur, wie Bayreuth. Auch wenn die Inszenierung noch so schlecht ist, aus Repräsentationsgründen muss man die vier Stunden absitzen, damit das Kleid und der Smoking davor und danach im Fernsehen gezeigt werden dürfen. Auf die Frage des Reporters, wie denn die Aufführung gefallen habe, kommt dann wie aus der Pistole geschossen: Sehr gut! Aber auch sehr lang. Man möchte die Herrschaften mal in ein fünfstündiges Stück von Morton Feldman schicken, am besten im Schlafanzug.
Was mit der Bildenden Kunst geschehen ist, ist in Kürze nicht darzustellen: Wie aus dem Quartett aus Künstler, Galerist, Sammler und Kritiker oder Begutachter ein mafiöses Abzockermodell entstanden ist, das einen gewaltigen Markt zwischen New York, Abu Dhabi, Kiew und Peking zum Tanzen bringt, mit dem verglichen die Renaissance mit ihren Päpsten und Dynastien ein spießiges Kinderspielchen ist, das braucht den Atem eines Proust, um alle Details wirklich auszumalen. Unnötig zu sagen, dass der Künstler der Unwichtigste in diesem Trauerspiel ist, das wir alle natürlich finanzieren sollen.

Ich höre hier auf, obwohl es endlich spannend zu werden verspricht. Deshalb nur noch ein Wort zu dem Anlass, der uns hier zusammengeführt hat, das neue Heft der Zeitschrift „Quart“.
Bücher schreiben kann heute jeder, der so einigermaßen das ABC beherrscht, und wenn er oder sie keinen Verleger findet, dann gibt es für wenig Geld Möglichkeiten, das Buch drucken und über das Netz vertreiben zu lassen. Auch Fifty shades of grey stand zuerst im Netz und hat der Autorin immerhin rund 100 Millionen Dollar eingebracht, Bertelsmann weltweit sei Dank.
Aber Zeitschriften machen können nur wenige, noch dazu solche, die nicht nur Texte hintereinander drucken, sondern auch eine spezielle Vorstellung von Text und Bild entwickeln, von optischer Überraschung und intellektueller Herausforderung. Ich gebe zu, ich bin ein Zeitschriftenfreak, ich muss Zeitschriften um mich haben, sie sind meine tägliche Nahrung. Ich kenne die österreichischen Zahlen nicht, aber in Deutschland liest der Erwachsene im Jahr doch immerhin zwischen vier und sechs Bücher, wenn er überhaupt lesen kann – zu meiner Überraschung gibt es immer noch viele Analphabeten, die nur zur Tarnung sich ein Buch vor die Nase halten, und wenn das Buch auf dem Kopf steht, weiß man, dass er wirklich lesen kann.
Vier bis sechs Bücher! Mein Gott, bei der täglichen Masse an Informationen aus Kultur und Wissenschaft und Gesellschaft vier Bücher! Woher kriegt er oder sie die restlichen Informationen, um in dieser sich schnell drehenden Welt mithalten zu können? Wie kann er sein ästhetisches Niveau verbessern? Wie seinen Geschmack ausbilden? Mit vier bis sechs Büchern? Niemals. Ein Gartenbuch, ein Sportlerbuch, ein Memoirenbuch und ein erotischer Roman, damit kommt man nicht weiter. Damit kann man sich einsargen lassen! Aber nicht jeder, sagen dann die der Aufklärung verpflichteten Kulturapostel, kann wie Sie dreihundert Bücher im Jahr lesen. Nein, natürlich nicht, sage ich dann, Sie sollen Zeitschriften wie „Quart“ lesen! Was denn sonst! Hier haben Sie sehr Vieles auf kleinstem Raum. In jedem Bus, in jeder U-Bahn wird man doch schauen, was der oder die da liest – nicht die öden Zeitungen, nicht die öden Liebes- oder Kriminalromane, nein, er oder sie liest etwas, was ihr ästhetisches Empfinden verändert, nämlich „Quart“. Und plötzlich hat der Typ gegenüber keine Chance mehr, weil er nur die Bild-Zeitung kennt oder wie das Pendant in Österreich heißt, er ist hoffnungslos verloren, er kann auch noch den vierten Knopf seines Hemdes aufknöpfen und sich noch so lässig hinflegeln – Er. Hat. Keine. Chance.
Also sollte die Kulturpolitik alles tun, um dem unglücklichen Angeber, der keine Chance hat, eine Chance zu geben. Er soll auch „Quart“ lesen! Er soll auch teilhaben an der ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts, er soll freier werden, mutiger im Geiste, anspruchsvoller in seinem Geschmack.
Und schließlich lernt man, wenn man „Quart“ liest, auch, dass der alte Antagonismus zwischen Zentrum und Peripherie ein Relikt aus dem neunzehnten Jahrhundert ist, als alles in die Städte strömte und eine städtisch geprägte Kultur entwickelte, die sich sehr wohl von der ländlichen unterschied. Es ist der alte Antagonismus zwischen Athen und Jerusalem, der nun ein für allemal verschwunden ist. Kultur kann nur dort existieren, wo Athen und Jerusalem aufeinandertreffen, also zum Beispiel hier in Tirol, wie es sich in „Quart“ spiegelt.

 

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