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Hin und Her

Von Bolzanobozen über Brennerobrenner nach Innsbruck. Ohne „Titolo di viaggio“. I am sorry, they took me out of the train, schreibt Peter per SMS. Ein Bericht. Und mögliche zukünftige Erinnerungen. Von Anna Rottensteiner

Es hat sich herumgesprochen, dass man die Abnahme der Fingerabdrücke vermeiden sollte. In dem Land, an dessen Küste man an Land gebracht wird. Wenn man also wieder festen Boden unter den Füßen hat. Und am eigenen Leib erfahren hat, dass es gut wäre, schwimmen zu können. Und weiß, dass man nie im Leben schwimmen lernen wird. Weil Wassermassen Angst machen werden, immer wieder.
Nur dann, wenn man sich nicht registrieren ließe, im so genannten Erstaufnahmeland, könne man, so hört man, die Grenzen, die aus Europa ein Vielländerland machen, überwinden, im nächsten Land, wo man eigentlich hinmöchte, zu bleiben versuchen.
Und man will ja so schnell als möglich Richtung Norden weiterreisen.
Man darf also keine Papiere haben und man hat sehr oft auch kein Geld mehr. Und keine angemessene Kleidung. Es wird nämlich kalt, je weiter man nach Norden fährt.
Das Land, in dem man ankommt, ist ein langgestrecktes Land. 1500 Kilometer in etwa. Das sind eigentlich keine Entfernungen, wenn man denkt, dass man schon 5000 Kilometer oder mehr hinter sich hat. Und es ist fast nicht zu glauben, dass man für diese 1500 Kilometer nur einen Tag und eine Nacht in etwa braucht. Wenn man denkt, dass man für die 5000 Kilometer einige Monate brauchte oder mehr. Die Wartezeiten in den libyschen Lagern miteinberechnet, und das Warten auf gutes Wetter für die Überfahrt. Und teuer ist die Reise, die einen von einem Ende des Landes zum anderen bringt, damit man dann ins nächste Land zu gelangen versuchen kann, auch nicht. So an die 200 Euro. Wenn man denkt, dass die Familie für die Fahrt nach Europa mehr als 5000 Euro hinlegen musste. Doch das Geld würde man bald wieder heimschicken können, damit die Familie die Schulden, die sie aufgenommen hat, wieder zurückzahlen kann. Und mehr als das würde man schicken können. Man ist ja zum Arbeiten gekommen. Wenn man sich erst einmal auf den Weg gemacht haben wird in Richtung Norden. Die Zeichen vor dem Aufbruch sprachen nur Gutes, denkt man zurück. Der Marabu, der weise Mann, hatte freundliche Menschen in der Zukunft gesehen, als man ihm Zucker und Mehl gebracht und ihn, den Blinden, um Voraussicht gebeten hatte. Die Freunde, die bereits in Europa sind, zeigen auf Messenger Fotos von goldenen Uhren an ihren Armen und von schönen großen Autos, an denen sie lehnen. Man denkt, es sind die ihren.

Doch dann geht es nicht so, wie man gedacht hat.

Man weiß genau, wo der Einstieg in den Zug ist. Nämlich jeweils dort, wo ein Polizist steht. Ein Waggon ist in etwa zehn Polizistenschritte lang. Danach steht der nächste am gelben Streifen, den man nicht übertreten sollte. Und den man auch nicht übertreten kann, weil einen der Polizist daran hindert. Tu no, sagt er. Die anderen schon. Man nicht. Das weiß man, weil man schon seit einigen Tagen versucht, von der nördlichen Stadt, in der man aus dem Zug geholt wurde, in einen jener Züge zu steigen, die in Richtung Grenze fahren. Man weiß nun, dass in Europa zwischen zwei Staaten eine Linie ist, die man nicht übertreten darf. Wenn man kein Europäer ist. Diese steigen in die Züge in der nördlichen Stadt, in Bolzanobozen, und fahren über jene Linie, die Brennerobrenner heißt. Dahinter beginnt ein anderes Land. Dorthin will man, um auch durch dieses hindurchzufahren. Man will nach Norden. Germany. Norway. Belgium. Sweden. Man wusste manchmal gar nicht, wie viele Länder dazwischen liegen. Zwischen jenem, in dem man ankam, und jenen, wo man hinwill.

Man wartet also, in Bolzanobozen. Hier kann man die Unterhose wechseln, eine Binde bekommen, das Baby wickeln, Crackers und Thunfisch bekommt man, Schuhe, Socken, eine warme Jacke. Eine Decke für die Nacht in der zugigen Unterführung oder im Bahnhofspark. Man ist viele. Viele, die kein Anrecht auf eine Unterkunft haben, weil man sich nicht registrieren lassen wollte. Also scheint man auch nicht auf und hat keinen Anspruch auf gar nichts. Das wusste man nicht, als man sich nicht registrieren ließ. Und man schämt sich, wenn man dann zu betteln beginnt, hai un euro io fame. Man ist viele, die das tun. Und man trifft auf viele vom eigenen Kontinent, die es geschafft haben, irgendwie. Die Unterkunft und Essen haben, Sprachkurse, Arbeit vielleicht sogar. Man wundert sich, warum einem das niemand gesagt hat. Und man will noch schneller weiter. Wie, das weiß man noch nicht. Es bahnen sich neue Wege und Möglichkeiten an, über Brennerobrenner zu kommen. Doch davon erzählt man sich nur unter Vertrauten.
Dorthin, wo Menschen auf einen warten. Wo die Sonne oft monatelang nicht scheint. Wo die Häfen und Tunnels gesperrt sind. Wo man am defekten Ofen in einem zugigen Zimmer stirbt. Wo es auch Dschungel gibt, in die sich kein Polizist traut. Wo gejubelt wird, wenn man geschlagen wird.
Und doch will man nach Norden. Weil man glaubt: Ich schaffe es. Und weil man sich schämt.

Wenn die Sehnsucht die Gestalt eines betrügerischen Djinn annimmt

Peter sagt mir am Telefon, dass er es nicht mehr aushalte. Sieben Monate seien es mittlerweile, dass er auf die Verlängerung seiner italienischen Aufenthaltsgenehmigung im kalabresischen Crotone warte. Jeden Montag nimmt er den Bus und fährt am wunderbar tiefblauen Ionischen Meer entlang zur Questura, um nachzufragen. Am Dienstag, um den Pass aus seinem Heimatland vorbeizubringen, Ghana, denn nur am Dienstag nehme man an der Questura Pässe entgegen. Und nur am Mittwoch könne man Bestätigungen holen.

Er sehne sich nach Innsbruck. I miss you all. Peter erkundigt sich beim Reisebüro, das von den Afrikanern und deren Odysseen quer durch Europa lebt: Ja, er könne mit dem vorläufigen Dokument, das ihm die Questura ausgestellt habe, und mit seinem Reisepass die Grenze überqueren, sagt er mir am Telefon. Ich glaube ihm, vor allem deshalb, weil auch ich ihn gerne wiedersehen möchte. Seit ich ihn kenne, reist er über Brennerobrenner hin und her, hinunter und wieder herauf und hin und zurück. Dort, wo er leben möchte, darf er nicht; dort, wo er leben muss, kann er nicht, weil es keine Zukunft für ihn dort gibt, und keine Gegenwart, die es verdienen würde, gelebt zu werden.

I am fine, and you? I hope you and your family are well. Das schreibt er mir jeden Morgen, und ich bin beschämt, wenn ich mich wieder einmal ärgere, wenn der Bus zu voll ist oder zu spät kommt. Dass es seiner Mutter gut gehe. Er rufe sie jeden zweiten Tag an, sie, die, über achtzig Jahre alt, mit ihrem Sohn am Telefon scherzt und sagt, sie wisse schon, dass sie jetzt nicht sterben könne, er habe ja nicht einmal das Geld für ihre Leichentruhe. Daraufhin lache auch er, erzählt er mir. Und dass sie ihn wiedersehen möchte, bevor sie stirbt.
Dass viele Afrikaner nicht das Glück hätten, das er hätte. Er könne bei einem Landsmann wohnen, der in der Landwirtschaft arbeite. Zwiebeln, Tomaten, Oliven.
I clean and cook for my brother. Die meisten schliefen im Bahnhofspark, am Strand, sommers wie winters. Und warteten und gingen zur Questura, jeden Montag, jeden Dienstag, jede Woche. Torna la settimana prossima. Das hören sie Monate lang.
We are too many, sagt er. Ich sage das nie.

Heute wird er um 16.32 Uhr mit dem Eurocity aus Verona ankommen. Ich ärgere mich, dass der Bus wieder zu spät kommt. Da erhalte ich eine SMS von Peter.
Anna, I am sorry, they took me out of the train.
Where are you.
In Innsbruck.
I’m there in 5 minutes.
Ok.

Am Bahnhof sehe ich auf der Anschlagtafel, dass der Eurocity bereits weitergefahren ist. Ich frage einen der zahlreichen Polizisten in der Halle, ob er mir sagen könne, wo man die Menschen, die aus den italienischen Zügen herausgeholt werden, am Bahnhof finden könne. Er schaut mich skeptisch an.
Warum ich das wissen wolle.
Ein Freund von mir.
Ich solle durch die Unterführung nach hinten zum Verladebahnhof durchgehen. Dort stehe ein Container. In ihm würden sie die Befragungen durchführen.
Ich laufe.

Anna, I am already in the police car. They bring me back to Brennerobrenner.
Let me speak with a policeman.
Ok, wait.

They say they don’t speak with anybody on the phone.
Ok Peter. Don’t worry. We’ll stay in contact. Is the battery full?
Yes, I loaded the phone in the train.

Ich stehe vor dem Container, es hat angefangen zu regnen. Ich kann nichts tun. Nur warten, dass Peter mir wieder schreibt oder mich anruft. Zwei junge Afrikaner sitzen auf einem Verladebalken und schauen zu mir herüber. Ich zünde mir eine Zigarette an und gehe Richtung Stadt.
Nach etwa einer Stunde ruft mich der diensthabende Gendarm des Gendarmeriepostens Steinach am Brenner über Peters Handy an. Man habe dessen Daten aufgenommen und festgestellt, dass er ohne gültige Aufenthaltserlaubnis und ohne einen „Titolo di viaggio“ kein Recht habe, nach Österreich einzureisen. Ich solle ihm glauben, sie seien froh, mit jemandem zu reden, dem sie alles erklären könnten. Sie täten, was in ihrer Macht stünde. Es werde keine strafrechtlichen Konsequenzen für meinen Freund haben. Es sei nur eine Verwaltungsübertretung. Ja, so ist es, antworte ich. Sie tun alles, was in Ihrer Macht steht.

Ich sage Peter, ich hätte den Gendarm gebeten, die Formalitäten zügig zu erledigen, damit er den letzten Zug, der um 21.43 von Brennerobrenner nach Bolzano-bozen fährt, noch erreichen könne. Das läge nicht nur an ihnen, hat mir der Gendarm daraufhin erklärt. Die Italiener müssten bereit sein, Peter wieder zurückzunehmen. Sie müssten in ihrer Datenbank nachprüfen, ob er dort aufscheine und welches sein Status sei. Und das könne, auch das müsse er mir leider sagen, manchmal einige Stunden in Anspruch nehmen. Bevor sie die Personen am Brennerobrenner den italienischen Behörden übergeben könnten, die diese dann zum Bahnhof brächten.

Ich telefoniere mit meiner Schwester. Die Übernachtung in Bolzanobozen ist gesichert. Ich gehe ziellos durch die Stadt, der Regen ist stärker geworden, läuft über mein Gesicht, dringt durch die Jacke auf meine Haut. Ich will mich ausgesetzt fühlen jetzt. Nicht im Sicheren. Nicht im sicheren Hafen sein. Nicht daheim sein. Können.

Zehn Minuten vor Abfahrt des Zuges ruft mich Peter an, er sei am Zugbahnhof, die italienischen Behörden hätten ebenfalls seine Daten aufgenommen und ihn dann dort abgesetzt. Ich sage ihm, er solle jemanden um Hilfe fragen, um ein Ticket zu lösen. Ok, I’ll do. Eine Viertelstunde später seine SMS, er sitze im Zug. Man werde ihn das nächste Mal ganz genau kontrollieren. Bei der Ausreise, hätten ihm die italienischen Behörden gesagt. Bei der Einreise. Die österreichischen Behörden. Um 23.53 nimmt ihn meine Schwester am Bolzanobozen in Empfang. Tags darauf tritt er die Rückreise nach Crotone an.

Und ich mache mir Vorwürfe, dass ich ihn nicht bat, mir vor Reiseantritt das vorläufige Dokument als Foto auf Whatsapp zu schicken. Dann hätte ich ihm sagen müssen, dass dort steht: „valido solo per il territorio nazionale“. Peter spricht kein Italienisch und glaubt an das Gute im Menschen. Und ich, vielleicht wollte ich ihm diesen Glauben nicht nehmen. Oder nicht in die Fratze der Gesetzeshärte schauen.

Versuch einer zukünftigen Möglichkeit des Erinnerns (Beginn)

Als wir hierherkamen und blieben, weil es uns verwehrt war weiterzuziehen, suchten wir nicht nach der Schönheit. Wir waren aufgebrochen, weil es uns unmöglich geworden war, an den Orten, an denen wir geboren waren, einträglich zu leben, in Würde zu leben. Was lag näher als zu gehen. Die Welt war einst zu uns gekommen, jetzt gingen wir zu ihr. Sie war klein geworden.
Die Berge machten uns Angst, und wir fragten uns, wie die Häuser auf den Bergen wohl waren, wie man in ihnen leben konnte, auf abschüssigem Grund. Ob die Menschen des Nachts nicht aus ihren Betten fielen und den Hang hinabkullerten. Ob Wasser und Milch sich nicht langsam aber stetig über die Hügel und Kuppen ergoss, ob die Tiere und die Menschen nicht ständig bedroht wären von Steinen und Felsen, die sich von weiter oben lösen und auf sie herabdonnern würden.
Wir sahen, wie sehr die Menschen ihr Land liebten. Sie wurden nicht müde, uns von seiner Schönheit zu erzählen, seiner Üppigkeit, seinem Reichtum. Wie sehr sie hätten kämpfen müssen, um hier bleiben zu können. Wie sehr sie es verteidigen würden, immer und immer wieder. Gegen wen, das fragten wir uns. Wir sahen uns um und dachten an unser Land. Und begannen, ihnen von dessen Schönheit erzählen. Doch das wollten die Menschen nicht hören. Dass es irgendwo anders, weit weg von ihrem Land, auch schön war.

Das ist alles lange her.
Es gab Menschen, die sich gegen die Mauer wehrten. Anliefen gegen die Anfänge der Wand, als es noch hieß, es würde sie nicht geben. Und doch spürten alle, dass es so weit kommen würde. Es gab Unruhen und Auseinandersetzungen zwischen den Vertretern der Macht und jenen, die ohnmächtig und wütend gegen diese aufbegehrten. Die meisten Menschen hatten sich in ihrer scheinbar gewaltlosen Welt eingerichtet und wandten sich voll Unbehagen, Abscheu fast von jenen ab, die es gewagt hatten, den Parolen von Frieden und Freiheit Taten folgen zu lassen. Elain, meine Frau, hat es mir erzählt. Sie war eine von jenen, die im Gefängnis gelandet war, weil sie gegen den Bau der Mauer aufbegehrt hatte.

Wir, die wir hierherkamen von weit her, bekamen von alldem nicht viel mit. Wir waren mit anderem beschäftigt, nachdem wir schmerzvoll einsehen hatten müssen, dass es für uns kein Weiterziehen geben würde. Manche von uns versuchten es dennoch, immer wieder, klammerten sich an die Unterseite der Züge, kauerten sich unter die Sitze in den Waggons, ließen sich auf Schlepper ein. Das war möglich zu der Zeit, in der das Land im Norden noch zauderte und zögerte. Einige kamen durch und erzählten uns enttäuscht in ihren Telefonaten, dass Europa überall gleich sei. Everywhere the same. Wir unterhielten uns auf Englisch und in Bruchstücken der unterschiedlichen Sprachen unserer Völker. Die Sprachen des Landes hier wurden für mich die Sprachen der Liebe zu Elain und später zu Digoun, meinem Sohn.

Später dann, als die Mauer das enge Tal abschloss wie ein gewaltiger Staudamm, versuchten es manche von uns über die waldigen Hänge, die sich auf beiden Seiten erstreckten. Überwanden ihre Todesangst vor den Höhen und geboten dem Schwindel Einhalt, wenn sie einen Blick über die abschüssigen Felsen hinunter ins Tal wagten. Wieviele von ihnen auf der anderen Seite angekommen sind, weiß ich nicht. Ich kannte wenige von diesen Mutigen und Entschlossenen. Mein Weg war ein anderer.

Elain und Digoun fahren regelmäßig zur Mauer und nehmen manchmal Meta und Marco mit. Obwohl sie schon alt sind und gebrechlich, meine beiden Freunde, zieht es sie immer wieder zur Mauer, die, überwuchert von Rank- und Kletterpflanzen, zu einer natürlichen geworden zu sein scheint. Sie haben gerade noch den Absprung hierher geschafft, bevor das Land im Norden seine Bewohner endgültig abschottete. Sie stehen dann vor der Mauer und hören nichts. Es müsse unsäglich still sein im Land, erzählen sie mir, wenn sie am Abend müde und traurig nach Hause kommen.

 

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