zurück zur Startseite

„Der Knöchel der Berge / Talus / Laozi in the Tyrol“

Auf den folgenden Doppelseiten sind Ausschnitte einer Arbeit von Harald Gsaller zu sehen: Fotografien einer von Bergen geprägten Landschaft um die kleine Ortschaft Boden (Gemeinde Pfafflar, Bschlabertal, Nordtirol), die den Schutt in vorläufig ruhender Lage an den Knöcheln der Berge, in den wilden Bachstürzen zeigen. Die Fotografien werden mit grafischen Elementen und Sätzen aus dem Daodejing des Laozi zu Bild-Text-Einheiten verwoben. Der Künstler zu seiner Arbeit:

„Am Fuße der Berge findet man ihre Knöchel. Schutt bildet sie. Kalk zum Beispiel trifft auf Verwitterung und Schwerkraft.
Das lateinische Wort für Knöchel lautet Talus.
Auch die Dremelspitze am Beginn des Angerletales, einem Seitenseitental des Tiroler Lechtales, hat einen solchen Knöchel. Einen stattlichen, da die Alm am Fuße der Dremelspitze nur sanft ansteigt.
Seinem Naturell nach will der Schutt, ob grob oder fein, immer weiter den Falllinien nach Isaac Newton folgen. Der Schutt will ins Tal, heimwärts.
Im [chinesischen] Daoismus ist vom Geist des Tales die Rede. Mit Laozi sagen wir, das Tal herrsche eben dadurch, dass es unten liege (Yin), es regiere so die Flüsse, wie die Flüsse wiederum durchs Meer regiert würden, weil dieses noch tiefer liegt: Also regiert das Schwarze Meer die Donau; die Donau den Lech; der Lech den Streimbach; der Streimbach den Gstreinbach; der Gstreinbach den Angerlebach und der Angerlebach die Dremelspitze.“

Hans-Georg Möller, Das Tao des Talus:
„Himmel und Erde sind unmenschlich. Die zehntausend Berge sind ihnen Opferhunde aus Stroh, und sie lassen sie zerbröseln und fallen. So fließen die Berge in großen und kleinen Stücken hinab. Beständig, jahre- und jahrhundertelang, mäandern sie durch die Wälder bis in die Flüsse. Auf ihrem Weg zur Erde und ins Wasser mussten die Berge uns begegnen. Und weil es, wenn das Schnitzwerk begonnen wird, Namen gibt, sahen wir die Berge und gaben ihnen die dämlichsten Bezeichnungen: Dremelspitze und Potschallkopf und Hornbachgruppe. Als ob wir wüssten, dass sie, Namen habend, nicht stetig sein können. Nicht nur, dass wir ihnen Namen gaben, wir vermaßen sie und transformierten sie, und wir bestiegen sie und machten ein Foto von uns auf ihren Gipfeln. Und wir hingen es an die Wand, die aus den Steinen gemacht ist, die einst zu uns von den Bergen hinabflossen. Und dann wurden wir Bergsteiger und begehrten die Berge, und wir liebten sie. Und wir strebten nach ihren Höhen und ihren Bildern. Aber das, was begehrt sich zu regen, wird niedergehalten mit dem namenlosen unbehauenen Holz, und so verloren ihre Höhen und Bilder ihren Reiz. Und dann fingen wir an, die Berge wie Menschen zu betrachten. Wir dachten, die Berge weinten, als sie hinabflossen ins Wasser, und dass sie wegen uns weinten und wegen dem, was wir ihnen angetan hatten. Und so sahen wir die Berge in unserem eigenen Bilde. Aber Himmel und Erde sind unmenschlich, genau wie die zehntausend Berge, trotz der dämlichen Namen, die wir ihnen gaben, und der Höhen, die wir maßen, und der Fotos, die wir von uns auf ihren Gipfeln machten. Wenn Himmel und Erde ihnen keine Dauer geben können, wie soll es da der Mensch vermögen? Derweil üben sich die Berge und ihre glatten Schwestern, die Gletscher, in der Kunst der Verringerung; sie werden geringer und wieder geringer, nicht handelnd.“

 

im Heft weiterblättern


Email

registrieren

Ihre Email-Adresse wurde bei uns registriert und zur Liste der Newsletter-Abonnenten hinzugefügt.
Sie erhalten in Kürze ein Bestätigung per Email.