zurück zur Startseite

„sei du bei mir in meiner Sprache Tollheit“

Friederike Mayröckers „ekstatischem“ Spätwerk war am Brenner-Archiv der Universität Innsbruck ein Symposium gewidmet. Ein Bericht von Eleonore de Felip

Im Fokus der internationalen Tagung* stand das jüngere und jüngste Schaffen der großen österreichischen Autorin. Der letzte Band ihrer „Gesammelten Prosa“ (hrsg. v. Klaus Reichert) erschien bereits 2001, ihre „Gesammelten Gedichte“ (2004, hrsg. v. Marcel Beyer) 2004, doch mit beeindruckender poetischer Kraft schreibt Mayröcker täglich weiter. Für die germanistische Forschung ist es eine kaum zu bewältigende Herausforderung, mit der Produktivität der Autorin Schritt zu halten. Die in den letzten 20 Jahren erschienenen Werke zeigen stets neue Facetten ihrer ‚grenzüberschreitenden‘ Poetik. Sie inszenieren einen poetischen Balanceakt zwischen Lyrik und Prosa, zwischen (auto-)biographischer Narration und poetologischer Reflexion, zwischen emotioneller Intensität und formalem Experiment. Seit der Mitte der 1990er Jahre entstanden Lyrikbände, Prosawerke und Hörspiele, deren formale und thematische Komplexität erstaunen. Mehr denn je sperren sich Mayröckers Schriften gegen die Zuordnung zu gängigen Kategorien. Die poetische Intensität, mit der die Autorin über ‚ihre‘ Themen schreibt (über das Schreiben, das Glück des Lebens, das Skandalon der Sterblichkeit und die Liebe), nimmt mit den Jahren nicht ab, sondern zu. Ihre Sprache bleibt radikal und unbeirrt ‚bei sich‘.
Die Tagung bot ein Forum, auf welchem Aspekte dieses ungewöhnlichen Spätwerks vorgestellt und diskutiert werden sollten. Während in zeitlicher Hinsicht der Schwerpunkt auf Mayröckers späteren Schriften lag, umfasste die Tagung in thematischer Hinsicht ein breites Spektrum. Präsentiert und diskutiert wurden formale Aspekte ebenso wie poetologische und thematische Fragestellungen.
Der Titel der Tagung, „sei du bei mir in meiner Sprache Tollheit“, ist einem Gedicht von Friederike Mayröcker entnommen, das mit 5.8.2008 datiert ist. Gleich zu Beginn des Gedichts wendet sich die lyrische Instanz in der Art eines antiken Musenanrufs an die ‚Tollheit‘, auf dass sie ihr in ihrem Sprechen beistehe so wie sie es schon seit je getan habe:

„sei du bei mir in meiner Sprache Tollheit du hast

die Blumenkränzchen mir ins Haar gedrückt da ich 1

Kind.“


Etwas später, ab Vers 10, heißt es dann:

„ich liebe deine Seele Geist und hl. Leib oh sei bei mir

in meiner letzten Stunde da auffliegt der Sperling über

der Hecke da Mond und Regen Wald und Frühling Hauch 1

letztes Mal mich küssen werden und weinend Abschied

werde nehmen müssen vom Glanz der Erde Blättchen Pappel-

herzen, es war mir nie 1 Jammertal.“


Im Sprachgestus christlicher Mystikerinnen bekennt die lyrische Person ihre Liebe zur Sprach-Tollheit wie zu ihrer persönlichen göttlichen Instanz. Sie sehnt sich nach den „Verzückungen“, die sie ihr schon oft gewährt habe. Es ist ein Stoßgebet, ein Flehen um Beistand in der Stunde des Abschieds. Es folgt eine beschwörende Aufzählung ‚verzückender‘ Momente – der Sperling, der Mond, der Regen, der Wald und der Frühling. Solange sie besungen werden, haben sie eine apotropäische Wirkung. In der Einladung zur Tagung waren die Referentinnen und Referenten ersucht worden, über diese Sprache nachzudenken, der nicht nur eine Seele und ein Geist zugeschrieben werden, sondern eine physische Dimension, die für das lyrische Ich heilig ist. Die Organisatorinnen erhofften sich Beiträge, die die komplexen Manifestationen dieser poetischen Sprache beschreiben würden, in denen ihre lebenserhaltende Funktion, ihre ekstatische Qualität sowie ihre erotische Dimension deutlich würden. Von zentraler Bedeutung war für sie die Frage, ob und wie sich diese Sprache definieren lasse, oder besser: warum sie sich immer schon und im Laufe der Jahre immer radikaler jenseits definitorischer Grenzen bewege. Die Frage nach der ‚Tollheit‘ der Mayröckers’chen Sprache sei, so die Organisatorinnen, in erster Linie eine Frage nach ihrer Offenheit, ihrer Intensität, zugleich nach der ihr innewohnenden Leichtigkeit, nach ihrer Machart, kurz: nach den Merkmalen ihrer Poetizität.
Die Themen der Vorträge waren breit gefächert, dementsprechend differenziert waren auch die Antworten. Bei mehreren Vorträgen deutete sich bereits im Titel eine gemeinsame Fragestellung an, nämlich die nach der dialogischen Qualität dieser Dichtung. Immer wieder standen im Fokus der Betrachtung Mayröckers intensive Lektüren, durch welche Prozesse der Absorption und Transformation in Gang gesetzt werden. Mayröckers Dialoge mit Hölderlin, mit Hofmannsthal, mit den französischen Poststrukturalisten, mit ihrer Kollegin und Freundin Elke Erb, aber auch ihre Beziehung zur Natur seien, so der Grundtenor der Referentinnen und Referenten, immer ‚Liebesdialoge‘, in denen sich ihr berühmter „erotischer Blick“ auf die Welt offenbare. Vielleicht könne man gar sagen, dass es der erotische Blick sei, der in ihren Texten scheinbar Disparates zusammenführt und Kohärenz schafft. Er bilde in ihren traumähnlichen ‚Texturen‘ das, was Sigmund Freud den „Nabel“ der Träume nennt, ihren Kern, das Nicht-mehr-Aufzulösende, Nicht-zu-Analysierende, das, was das Traumgewebe zusammenhält.
Neben der ‚dialogischen‘ Qualität der Mayröcker’schen Texte (Intertextualität, Intermedialität) wurde auch ihre Positionierung im ‚literarischen Feld‘ der deutschsprachigen literarischen Avantgarde analysiert sowie ihre anhaltende freundschaftliche Beziehung zur Stadt Innsbruck und zum Land Tirol gewürdigt.

Die Tagung eröffnete RÜDIGER GÖRNER (Universität London) mit dem Vortrag „Scardanelli in Wien: Zu Friederike Mayröckers ‚poetischer Verfahrungsweise‘“. Was bedeute es, wenn das Ich in Mayröckers Texten mit Scardanelli „Hand in Hand“ gehe? Wie seien Mayröckers „kommentarlose“ Zitate aus Hölderlin (wie „sichergebaute Alpen“) zu verstehen? Wie integriert die Autorin ein poetisches Versatzstück in den Kontext des Eigenen? Mayröcker behandle ihre Sprache, so Görner, indem sie ihr „Traditionssubstanzen“ injiziere, damit sie in der Sprache des jeweiligen poetischen Textes fermentieren. Was Hölderlin die „Verfahrungsweise“ nennt, übernehme Mayröcker wörtlich als ein wiederholtes Sich-Verfahren im Labyrinth der eigenen Texte, deren Materialität sie nicht zu transzendieren versuche, sondern im umfassenden Sinne ‚aussetze‘: dem sprechenden / schreibenden Ich sowie dem Leser / Hörer.
In ihrem Vortrag „Verlesen. Zur Lektüre Friederike Mayröckers“ spürte KONSTANZE FLIEDL (Universität Wien) den Bedeutungsnuancen des Wortes (sich) VERLESEN nach (auf- und auslesen, sich völlig ins Lesen verlieren, sich lesend ‚irren‘). Wenn sich Mayröcker beim Lesen (von Autorennamen und Textstellen) ‚verlese‘, so entzünde sich ihre Phantasie dabei am kreativen Funken, der bei solcherart „Verfremdung“ und „Verschiebung“ entstünde. Dabei sei, so Fliedl, weniger an Freuds Analyse der „Fehlleistung“ zu denken, als vielmehr an Šklovskijs Theorie der „Entautomatisierung“. (Sich) VERLESEN erweise sich nicht nur als Schlüsselbegriff in Mayröckers Poetik, sondern als Lektüreanweisung für ihre eigenen Texte.
JOHANN HOLZNER (Universität Innsbruck) würdigte in seinem Vortrag „Das hermetische Licht. Friederike Mayröcker und Elke Erb“ die Freundschaft und den künstlerischen Dialog, die die beiden Dichterinnen nun schon seit 25 Jahren verbinden. Von ihrem poetischen ‚Gespräch‘ zeuge der Band „Friederike Mayröcker, Veritas. Lyrik und Prosa 1950–1992“, den Elke Erb zusammengestellt und mit einem Nachwort (samt lyrischen Antwortreden) 1993 im Leipziger Reclam-Verlag herausgebracht hat. Ihrerseits sprach Mayröcker in ihrer Laudatio auf die Berliner Kollegin anlässlich der Verleihung des Erich-Fried-Preises an Elke Erb 1995 in Wien von einer „Affinität“ zwischen ihrer beider Schreiben. Damit habe sie allerdings, so Holzner, keineswegs das hermetische Dunkel gemeint, das manche Leser/innen beklagen, sondern vielmehr „das hermetische Licht“, das sich in einer Sprache zeige, die das Denken nicht beendet, sondern eröffnet.
Am Abend des ersten Tages las PETER WATERHOUSE aus seinen Neuerscheinungen und aktuellen Schreibprojekten. Den Autor und Friederike Mayröcker verbindet seit Jahren eine von wechselseitiger Wertschätzung und literarischer Würdigung geprägte künstlerische Freundschaft. Er sei „ein Himmelskind der Poesie“, sagte Mayröcker in einem Interview; in ihren Prosawerken taucht sein Name wiederholt auf. Im März dieses Jahres ist nun bei Matthes & Seitz Waterhouse’ jüngster Band „Der Fink. Einführung in das Federlesen“ erschienen, der Essays zu Texten von Mayröcker und Jelinek enthält. In ihnen führt der Autor vor, was es heißt, mit weit offenen Augen und Ohren zu lesen. Er betrachtet die Wörter aus großer Nähe, einzelne Wörter wie „Fink“ zum Beispiel oder wortähnliche Gebilde wie „paschen pinx.“ (es stammt aus Mayröckers études 27). Er beugt sich über sie, er legt sein Ohr an sie. Er schaut die Buchstaben genau an, auch die Satzzeichen, die Punkte, die Doppelpunkte, die Leerräume nach und vor den Doppelpunkten. Er fragt nach dem Warum der Verkleinerungsform -chen in Wörtern wie Ästchen, Flüszchen, Blättchen. Er fragt überhaupt sehr viel, er liest gewissermaßen im Fragemodus, im Möglichkeitsmodus, sein Lesen ist ein Lesen im Konjunktiv, im Optativ. Er träumt sich in die Wortgestalten und Wortklänge hinein und erkennt die in ihnen angelegten möglichen Welten. Waterhouse nimmt die Freiheit, die sich Mayröckers Wörter nehmen, beim Wort. Er löst sie aus allen fixen Zuschreibungen, er befreit sie von der Schwere der Bedeutungen. Hinten, auf der Rückseite des Buches, steht im Klappentext (es handelt sich um ein Waterhouse-Zitat): „Die Worte haben auch Unbedeutungen, sind wie Bewegungen und Flüge: Wer die Unbedeutung oder die Nichtbedeutung eines Wortes verstehen möchte, wird sich das Wort anhören. Kann das Wort fliegen? Kann es etwas Leichtes sein? Kann man das Leichte verstehen oder braucht das Verstehen immer einen Schwierigkeitsgrad? Wenn es die Schwerkraft schon gibt, gibt es dann auch die Leichtkraft?“

Den zweiten Tag eröffnete KLAUS KASTBERGER (Universität Graz) mit dem Vortrag „»1 häufchen blume 1 häufchen schuh«. Kohärenz bei Friederike Mayröcker.“ Ausgehend von seiner langjährigen Beobachtung ihres Schreibverfahrens – insbesondere ihrer Angewohnheit, Träume, Exzerpte und momentane Einfälle auf Zetteln zu notieren, diese in Körben zu sammeln oder sie zu Haufen zu stapeln – schlug er „Haufen“ wenn schon nicht als neuen Gattungsbegriff, so doch als Terminus technicus vor, um Mayröckers assoziatives Schreibverfahren begrifflich zu fassen. Textkohärenz, so Kastberger, entstehe bei Mayröcker nicht aufgrund konventioneller textsemantischer Strategien, sondern ergebe sich aufgrund des inneren Zusammenhangs der Einfälle. Sie sei das Ergebnis der inneren Logik ihrer poetischen Rede.
In ihrem Vortrag „Die Ekstase des Realen. Das Hörstück Landschaft mit Verstoßung (F. Mayröcker / B. Hell / M. 
Leitner 2014) als Antwort auf den Chandos-Brief“ würdigte INGE ARTEEL (Universität Brüssel) das Klangbuch als bemerkenswertes Kunstwerk, das sich in die literarische Tradition der Suche nach der Rückgewinnung eines sprachlichen Paradieses einschreibe. Die experimentelle Technik werde dabei nicht negativ eingesetzt (im Sinne einer Desillusionierung jener Suche), sondern affirmativ: Gerade die akustische Collage biete eine neue Auslegung der existenziell dringlichen Frage nach einer möglichen Ursprache, in der Wort und Sache zusammenfallen. Erst die Technik des akustischen Mediums ermögliche, so Arteel, dass die melancholische Sehnsucht nach dem Verlorenen zugunsten einer Ekstase des Realen verabschiedet werde.
Die geistige Verwandtschaft der Autorin mit Friedrich Hölderlin stand im Fokus des Vortrags von LUIGI REITANI (Universität Udine, Berlin): „»Ich möchte / leben Hand in Hand mit Scardanelli«. Zu Friederike Mayröckers Dialog mit Friedrich Hölderlin“. Tatsächlich lassen sich, so Reitani, in Mayröckers Spätwerk zahlreiche Anspielungen auf Hölderlin finden (insbesondere in ihrem Gedichtband Scardanelli, 2008), die Aufschluss geben über ihre intensive, teils auch ironische Auseinandersetzung mit dem schwäbischen Dichter. Dabei sei der Bezug zu Hölderlin nur eines der vielen Beispiele für die Intertextualität, die im Werk Mayröckers eine zentrale Rolle spielt. An ausgewählten Beispielen erläuterte Reitani die schwierige methodologische und hermeneutische Frage, inwieweit diese Zitate beliebig seien, in welcher Weise sie die Texte der Autorin prägen und welche Relevanz sie für deren Verständnis und Interpretation haben.
Der „immensen Dialoghaftigkeit“ der Mayröcker-Texte widmete auch BARBARA THUMS (Universität Mainz) ihren Vortrag „Natur schreiben: Friederike Mayröckers Ich sitze nur GRAUSAM da“. In den jüngeren Texten trete das schreibende, weibliche Ich nicht nur in den Dialog mit einem fiktiven, meist männlichen Du, sondern auch mit der Natur. Dabei erhalte die Natur immer wieder einen kreativen und agenziellen Status, so dass das weibliche Ich, um dessen Wahrnehmungen und Befindlichkeiten das außerordentlich ich-bezogene Schreiben kreist, kein isoliertes Selbst sei, sondern vielmehr Teilnehmer in einem Austauschprozess und Beziehungsverhältnis mit anderen Lebewesen und Dingen. Es sei dies die Vorstellung einer ‚Natur-Kultur‘, in der die Wechselwirkungen zwischen Natur und Menschen von Interesse sind, mit der Ansätze des Material Ecocriticism, der Environmental Humanities oder des Ökofeminismus die ‚materielle Wende‘ in den Literatur- und Kulturwissenschaften markieren. Ausgehend von Ich sitze nur GRAUSAM da lotete Thums’ Beitrag die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Mayröckers Projekt des Natur-Schreibens mit solchen Konzepten aus und zeigte die verblüffende Aktualität einer Literatur, deren Sprachmagie doch eigentlich Zeit und Raum außer Kraft zu setzen scheint.
Mit der sogenannten „französischen“ Prägung ihrer jüngsten Trilogie (études, cahiers, fleurs), mit Mayröckers Liebe zur französischen Sprache und zur französischen intellektuellen Welt (Derrida), setzte sich FRANÇOISE LARTILLOT (Universität Metz) in ihrem Vortrag „Friederike Mayröckers tropologischer Widerstand in études – cahiers – fleurs, ein französisches Erbe?“ auseinander. Sie zeigte, dass die Autorin (in der Manier bestimmter französischer Poststrukturalisten) einerseits mit der Sprache spiele und dadurch bestimmte klassische Prinzipien der Philologie ad absurdum führe, dass sie andererseits aber auch an eine der textuellen Quellen der Poststrukturalisten anschließe, nämlich an den Postsymbolismus (Valéry, Mallarmé) (und vor ihnen an die lyrische Haltung der Jenaer Romantik und an die Hölderlins) und an dessen Erben (Genet, Michaux, Ponge). Sie setze deren Tradition fort, indem sie deren lyrischem Spiel eine sinnliche und empfindliche Tiefendimension verleihe.
Im darauf folgenden Panel beleuchteten ERIKA WIMMER (Universität Innsbruck), SIEGFRIED HÖLLRIGL (Meran) und CHRISTINE RICCABONA (Universität Innsbruck) Mayröckers enge Bindung zum Land Tirol / Südtirol und zur Stadt Innsbruck.
Um den inspirierenden künstlerischen Dialog zwischen der Autorin und dem Südtiroler Maler Markus Vallazza
ging es in ERIKA WIMMERS (Universität Innsbruck) Vortrag „Vom Herzzerreiszenden der Dinge. Markus Vallazzas Radierzyklus zu Sätzen von Friederike Mayröcker. Mit einem Rundblick auf weitere Rezeptionsspuren in Südtirol“. Angeregt durch die Lektüre von Das Herzzerreiszende der Dinge von Friederike Mayröcker sind in Markus Vallazzas Werkstatt im Frühjahr 1991 Zeichnungen und Radierungen entstanden, wobei der Künstler einzelne Sätze aus Mayröckers Prosa assoziativ in seine Bildsprache umsetzte. Vallazza gehe es in seiner Arbeit nie um die Illustration literarischer Werke, so Wimmer, sondern um den Niederschlag seiner persönlichen Lesart eines Textes. Anhand von Bild und Text ging die Referentin der Frage nach, inwieweit Vallazza auch hier den Text auf der Ebene des Bildes ‚weiterschrieb‘.
Der Verleger, Buchdrucker und Autor SIEGFRIED HÖLLRIGL (Meran) berichtete in seinem Vortrag „Kassandra im Fenster. Friederike Mayröcker und der Druck“ über seine nun langjährige Freundschaft mit der Autorin, die immer wieder zu künstlerischer Zusammenarbeit geführt habe. So gab er u. a. 2008 in seiner bibliophilen Reihe „Lyrik aus der Offizin S.“ den Gedichtband Kassandra im Fenster mit Gedichten von Mayröcker heraus. Höllrigl gestaltet im Handsatzverfahren jede Gedichtseite mit eigener Hand.
CHRISTINE RICCABONA (Universität Innsbruck) rekonstruierte in ihrem Vortrag „Friederike Mayröckers Beziehungen zu Innsbruck. Eine biografische und poetische Spurenlese“ anhand von Fotografien und Korrespondenzstücken aus dem Bestand des Brenner-Archivs Mayröckers freundschaftliche Beziehung zur Tiroler Landeshauptstadt. In der Tat reicht diese in die frühen 1950er Jahre zurück, als die junge Autorin wiederholt eingeladen wurde, an den Österreichischen Jugendkulturwochen mit Lesungen teilzunehmen. Die von 1950 bis 1969 jährlich von der Stadt Innsbruck organisierten Jugendkulturwochen boten ein Forum für die damalige Avantgarde in Kunst, Musik und Literatur. Hier war es auch, wo sich Mayröcker und Ernst Jandl zum ersten Mal begegneten. Hier hielt sie schließlich auch – auf Einladung des damaligen Institutsleiters des Brenner-Archivs, Prof. Johann Holzner – im Studienjahr 1996/97 die Poetik-Vorlesung der Universität Innsbruck. Im November 2015 wurde sie von der Universität Innsbruck als erster österreichischer Universität für ihr herausragendes künstlerisches Lebenswerk mit dem Ehrendoktorat ausgezeichnet.
In ihrem Beitrag „»Es ist schön, daß jemand weint, Hauptsache, ich bin es nicht.« Zur Konstellation Mayröcker – Jelinek“ analysierte UTA DEGNER (Universität Salzburg) die Nähe und Ferne beider Autorinnen zueinander mithilfe der von Pierre Bourdieu entwickelten Feldanalyse. Dabei erweise sich, so Degner, dass beide trotz ihrer sehr ähnlichen Position am autonomen Pol des literarischen Feldes gänzlich konträre Ästhetiken vertreten, die sich gegenseitig negieren.
Im letzten Vortrag sprach ELEONORE DE FELIP (Universität Innsbruck) über Mayröckers poetischen Dialog mit Jacques Derrida: „»Lieblingssprache in meinem Leib meiner Seele«. Friederike Mayröckers ‚Liebesdialog‘ mit Jacques Derrida“. Die Spuren des französischen Philosophen in ihrem Werk sind omnipräsent: sei es, dass er namentlich genannt wird, sei es, dass er als Sigle JD auftaucht, als Zitat, als versteckte Hommage. Sie liebe seine Sprache, so die Autorin in einem Interview, seine Bücher liegen nachts auf ihrem Kopfkissen. Die geistige Verwandtschaft mit Derrida, der (wie sie) eine „erotische“ Beziehung zur Sprache pflegte, bedeute für sie Trost und Inspiration. Wie Mayröcker für diese Zwiesprache auf der breiten Klaviatur der intertextuellen Relationen zu spielen versteht, zeigte die Referentin anhand ausgewählter Textbeispiele aus den jüngsten Werken der Autorin (insbes. aus „Ich bin in der Anstalt. Fusznoten zu einem nichtgeschriebenen Werk“, 2010, und aus „Von den Umarmungen“, 2012).

*    Im Rahmen der internationalen Tagung „»sei du bei mir in meiner Sprache Tollheit« – Friederike Mayröckers ‚ekstatisches‘ Spätwerk“, die von Ulrike Tanzer und Eleonore De Felip organisiert wurde und am 9. Juni und 10. Juni 2016 am Forschungsinstitut Brenner-Archiv der Universität Innsbruck stattfand, gaben 13 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Einblicke in das jüngere und jüngste Werk der großen österreichischen Autorin sowie in ihre langjährige Beziehung zur Stadt Innsbruck und zum Land Tirol. Den feierlichen Rahmen bildete am ersten Abend (9. Juni) eine Lesung mit Peter Waterhouse, zum Abschluss (10. Juni) ein Konzert mit dem Organisten Peter Planyavsky, der zu Gedichten von Mayröcker improvisierte (Lesung: Veronika Schmidinger).

 

im Heft weiterblättern


Email

registrieren

Ihre Email-Adresse wurde bei uns registriert und zur Liste der Newsletter-Abonnenten hinzugefügt.
Sie erhalten in Kürze ein Bestätigung per Email.