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Satzspiegel*
von Verena Schoepf

Farbenpracht und Unsichtbarkeit. Diese zwei Themen haben meine Laufbahn schon bestimmt, lange bevor ich überhaupt eine Karriere als Meeresbiologin verfolgte. Und während mir der Einfluss des einen Themas bewusst war, zumindest im Ansatz, ist mir die Tragweite des anderen erst viel später klar geworden. Schon als Kind hat mich das Meer fasziniert, obwohl ich in Innsbruck aufgewachsen bin und viel Zeit in den Bergen verbracht habe. Während der Sommerurlaube am Meer bin ich dann stundenlang im Wasser gewesen und habe schnorchelnderweise eine neue Welt entdeckt, die in ihrer Farbenpracht so verlockend war, dass ich heute, mehr als zwei Jahrzehnte später, noch immer ihre Geheimnisse verstehen will. Schritt für Schritt, Experiment für Experiment, ringe ich der Natur Antworten auf meine Fragen ab, die winzig kleine Teilchen eines unendlich großen Puzzle darstellen und zusammengefügt werden müssen. Egal wie winzig und unbedeutend einzelne Teilchen erscheinen mögen, wäre doch das gesamte Puzzle unvollständig ohne sie, und jedes fehlende Steinchen weist auf neue Rätsel hin, die gelöst werden wollen. Nicht selten passiert es dabei, dass man anfangs glaubt, ein bestimmtes Bild zusammenzusetzen, und irgendwann bemerkt, dass diese Szene nur der Ausschnitt eines viel größeren Bildes ist. Tropische Riffkorallen, zum Beispiel, sind Tiere – aber gleichzeitig auch Pflanzen und Steine und sogar Wirte für eine Unzahl an Mikroorganismen, die alle zueinander in einer Fülle an Beziehungen stehen und völlig unterschiedlich auf Veränderungen in ihrer Umwelt reagieren. So sind Korallen zwar einerseits recht primitive Tiere, die gemeinsam mit ihren Verwandten, den Quallen und Anemonen, auf den unteren Entwicklungsstufen des Tierreiches stehen, aber andrerseits zugleich auch hochkomplexe Entitäten, die mehr als die Summe ihrer Einzelteile sind und nur in ihrer Gesamtheit verstanden werden können.
Unsichtbarkeit bedroht Farbenpracht. Ich habe mich schon oft gefragt, wie anders die Welt heute wäre, wenn zufälligerweise Kohlendioxid eine Farbe hätte – wenn dieses Gas nicht einfach farblos und unsichtbar wäre. Oder wenn wir es zumindest riechen, spüren oder sonst irgendwie wahrnehmen könnten. Man stelle sich nur vor, wieviel schwieriger es den Menschen dann fallen würde, den Klimawandel zu leugnen und zu ignorieren – wenn sich der Himmel zunehmend verfärben würde, erst langsam und dann immer schneller. Dass so ein willkürlicher Zufall wohl mitverantwortlich für eine der größten Herausforderungen unserer Generation ist, oder zumindest unsere Unfähigkeit, sich dieser Her-
ausforderung zu stellen, ist ein Gedanke, der schwer auszuhalten ist. Und so befinden wir uns in einer Situation, wo unsere Fähigkeit zu begreifen plötzlich von Platzhaltern abhängt, da unsere fünf Sinne uns beim Erfahren dieser Realität im Stich lassen.
Im Meer ist es so, dass Korallenriffe diese Platzhalterfunktion übernommen haben. Ihre atemberaubende Farbenpracht und Vielfalt an Lebewesen fasziniert so viele Menschen, dass es Tausenden ein Anliegen ist, genau wie mir, diese „Regenwälder des Meeres“ zu erhalten und schützen. Mindestens ebenso wichtig ist für diese Funktion natürlich tragischerweise auch ihre enorme Empfindlichkeit, mit der sie auf Meere reagieren, die zunehmend wärmer werden und versauern. Dass sich diese Empfindlichkeit dann auch noch in bestürzend visuellen Bildern von bleichen Korallenskeletten ausdrückt, die oft zugleich eine verstörend ansprechende Ästhetik besitzen, ist dabei essentiell für ihre mediale Verwertbarkeit. Je schöner und dramatischer ihr Untergang, desto erfahrbarer und deutlicher ist die Botschaft, die sich sonst so leicht unserer Wahrnehmung entzieht.
Haben mich anfangs in erster Linie die Farbenpracht von Korallenriffen und ihre Geheimnisse ganz allgemein fasziniert, so ist heute meine Neugier und mein Drang zu verstehen viel zielgerichteter. Ob es Korallenriffe (und viele andere Ökosysteme und Lebewesen, für die Korallenriffe ja nur marktfähigere Stellvertreter sind) am Ende dieses Jahrhunderts noch geben wird, ist offen. So wie wir sie heute, oder noch vor 20, 30 Jahren erleben konnten, höchstwahrscheinlich nicht. Und so reißerisch es auch klingt, die Zeit läuft uns wirklich davon. In Wahrheit ist dieses unendlich große Puzzle, das ich mithelfe zusammenzubauen, drei- oder sogar multidimensional. Momentan steht die zeitliche Dimension stark im Vordergrund, und so suche ich vor allem nach den fehlenden Teilchen, die uns helfen zu verstehen, wie Korallenriffe diese rasanten Veränderungen überstehen können. Unsere Rolle als Wissenschaftler hat sich gewandelt, da wir nicht mehr nur „Wissen schaffen“, sondern auch eine Botschaft zu vermitteln haben. Es bleibt zu hoffen, dass sie rechtzeitig ankommen wird.

— * Nutzfläche auf der Seite eines Buches, einer Zeitschrift oder anderen Druckwerken; ein bedruckten Flächen zugrundeliegendes schematisches Ordnungssystem, das den Grundriss von Schrift, Bild und Fläche definiert.
— Aufforderung, Sätze zu formulieren, die für die eigene Arbeit stehen und deren Grundgerüst bilden; das eigene Schaffen zu spiegeln und dabei die tagtäglich gebrauchten professionellen Ausdrucksmittel möglichst außer Acht zu lassen.

 

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