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Tal der Möglichkeiten Landvermessung No. 5, Sequenz 1 Von Virgen über Hinterbichl zur Islitzer Alm

Geschichten kann man auch durch geometrische Operationen auf der Landkarte generieren: In Quart folgen unterschiedliche Autoren mit unterschiedlicher Kondition unterschiedlichen Linien (s. Übersichtskarte). Wir befinden uns derzeit auf der Geraden, die von Obermauern im Virgental Richtung Südtirol und weiter ins Trentino führt. Carolina Schutti muss wohl oder übel die Tallage genießen. Das heißt: Café Sinne, Walking Arena, Romantikrunde. Meisterwerke der Natur. Da – die Erkenntnis: „Schmale Täler lassen sich nur ertragen, wenn man sich über ihre Grenzen erhebt.“

Ganz anders hätte es kommen sollen, ganz anders. Die Linie hätte ich austricksen wollen, hätte sie von oben besehen: die Geradlinigkeit dieses gerechten Tales. Gerecht, weil kein Schattseitiger neidig auf die Sunnseitn blicken muss, weil sich die Schatten willkürlich und kleinräumig verteilen, den Bergspitzen nach: hier ein Haus und da ein Haus, aber nicht gleich ein ganzer Hang, der monatelang keine Sonne abbekommt. Den Sommer in der Muskulatur hätte ich den Anfang der neuen Linie gut fixiert, wäre spaziert von Virgen nach Obermauern (hätte Obermauern genau besehen, fotografiert und mir eingeprägt) und mangels Unterkunft wieder retour, hätte – die vorgezeichnete Linie immer im Blick – das Tal verlassen, wäre aus dem schwarzen Dreieck hinausgestiegen und 1300 Höhenmeter über dem Talgrund hätte ich in der Bonn-Matreier-Hütte Heinz begrüßt, von dem ich nun, nach vereiteltem Plan, immer noch nicht mehr als nur den Namen kenne. Ich hätte den ohnehin leichten Rucksack noch leichter gemacht, wäre noch etwas weiter nach oben gestiegen, auf den Säulkopf (3209 m) oder zumindest auf den Rauhkopf (3070 m) (immer die vorgezeichnete Linie im Blick, selbstverständlich), hätte den Blick schweifen lassen in alle Richtungen, hätte nach unten fotografiert, nach links und nach rechts, um später etwas zu haben, woran ich meine Sätze aufhängen kann (20.000 Zeichen, in meiner Sprache!, das ist viel!), um mehr Sätze erfinden zu können, hier noch einen, da noch zwei. Ich wäre abgestiegen zur Hütte, müde, glücklich, hätte mit jemandem geredet, hätte jemanden belauscht, jemanden beobachtet, jemanden gefunden, der die Quelle weiterer Sätze gewesen wäre. Hätte auf die Nacht gewartet, hätte mir die Nacht eingeprägt. Am nächsten Tag dann hätte ich die richtige Richtung eingeschlagen, die vereinbarte, von Ost nach West, die Nase immer schön in der Höhenluft, ich hätte keinen Talblick ausgelassen, und siehe da, bald schon wäre ich in den spitzen Winkel eingetreten, hätte mich im vorgegebenen Kartenausschnitt wiedergefunden, auf dem Adlerweg, der seinen Namen verdient, ich wäre hinuntergestiegen nach Hinterbichl und hätte mir überlegt: Was nun? Noch einen Tag anhängen oder zwei oder drei, der spitze Winkel öffnet sich verführerisch nach Westen, es gibt Wege, es gibt Hütten, der Rucksack ist leicht und das Wetter –

Das war’s: Das Wetter. Der Schnee. Der Sturm.
Die Anreise: blauer Himmel. Ferraris in Kitzbühel, ein beinahe leerer Postbus auf der Felbertauernstraße. ZAMG und Wetter Tirol und Erhard Berger und eine unverlässliche WetterApp, sie alle sagen voraus, was ich nicht glauben will, ich werde einen schönen Tag mit Anreise und erstem Spaziergang verschwenden und über Nacht soll Schnee fallen und ein Sturm soll aufziehen, der Bäume umwerfen wird.
Noch habe ich Pläne A und B im Gepäck.

In Obermauern ist keine Unterkunft zu haben, also steige ich bereits in Virgen aus. Virgen ist herausgeputzt wie alle Ortschaften im Tal, gelbe Alpenvereinsschilder stehen direkt an der Straße. „Das Abenteuerland für echte Alpinisten“, wie es auf der Homepage heißt, beginne hier. Nach über vier Stunden Fahrt kann ich immer noch „griaß di“ sagen, die Diskrepanz zwischen Luftlinien und Fahrtlinien ist groß, und doch nehme ich mir jetzt schon vor, bald wiederzukommen, in diesen Teil Tirols, in dem ich jetzt zum ersten Mal bin.
Die Schule hat noch nicht begonnen, die Tochter des Gastwirt-Ehepaars sitzt am Computer an der Rezeption, drückt rasch die Leertaste, als ich hereinkomme, begrüßt mich höflich und auf Standarddeutsch, zeigt mir das Zimmer, huscht raschestmöglich die Stiegen wieder hinunter, ich glaube, das Klicken der Leertaste bis hinauf zu hören. Ich blicke mich kurz um, alles ist schön hergerichtet, die Aussicht endet zwar am nahen Hang, ist aber prächtig und grün. Mittag ist vorbei, im Haus riecht es nach Brathähnchen, das gab es aber nur für die Familie, das hier ist eine Frühstückspension. Bald entfliehe ich dem Essensgeruch, ausgerüstet mit Wasserflasche, Notizbuch, Fotoapparat und Geld. Es gibt eine Bäckerei, ich muss wählen zwischen Kuchen, Topfengolatsche oder Laugenbreze ohne Salz. Ich nehme die Topfengolatsche, dazu einen Kaffee, dann breche ich auf, plangemäß (Plan A und Plan B haben hier noch dieselbe Gestalt) und gehe über den Kreuzweg nach Obermauern. Unterwegs überhole ich zwei Ordensschwestern und eine Katze, auf dem Feldweg kommt mir eine Mutter mit Sohn entgegen, sie unterhalten sich, ich höre im Vorbeigehen kein Murren, kein Knurren, sehe kein missmutiges Gesicht und wundere mich, sieht es doch ganz nach Pflichtspaziergang am Ende eines Sommerferientages aus. Ich grüße ein auf einer Bank sitzendes Urlauber(ehe)paar. Griaß eich / Halloo.
Ohne Zweifel, der Virgener Ortsteil Obermauern ist an sich schon so schön, dass Du meinst, Du befändest Dich mitten in einem Bilderbuch. Die Wallfahrtskirche Maria Schnee macht Obermauern allerdings noch mehr zu einem sehenswerten Ort. Die um 1456 erbaute Kirche beeindruckt mit faszinierenden spätgotischen Fresken, geschaffen von Simon von Taisten, dem Hofmaler des Görzer Grafen. Um die Kirche herum kannst Du das uralte Hofensemble sowie einen malerisch angelegten Kreuzweg bestaunen. (http://www.virgental.at/?id=265)

Zur Kirche also. Ich bestaune das uralte Hofensemble, ich bestaune die Alpacas, die diesem Bilderbuch Witz verleihen, ich kann mich kaum losreißen vom Anblick der tierischen Einwanderer vor Urtiroler Kulisse. Mir fällt auf: Kapuzinerkresse (Ursprung: Zentralanden) vor den Fenstern. Man sieht auch Geranien (ich recherchiere: Ursprung Südafrika, um das 17. Jahrhundert von europäischen Kaufleuten nach Europa importiert, richtiger Name Pelargonium), selbstverständlich, aber ich finde die Kapuzinerkresse netter, ich überschlage, wie viele Gläser sich mit falschen Kapern (aus den Blütenknospen der Kapuzinerkresse) füllen ließen. Dieses Jahr habe ich selbst genug, ich widerstehe der Versuchung, die kugeligen Samen aus der fremden Fensterverschönerung zu zupfen.
Über den Friedhof gelange ich zur Kirche, zum Kirchlein eigentlich, und werde überrascht von der Farbintensität der Fresken, vom kunstvollen Altar und dem Deckengewölbe. Diese Kirche hat so gar nichts Bäuerliches, nichts Einfaches. Ich lese, dass sie „im Nahbereich eines vorchristlichen Kultplatzes“ errichtet, dass das ursprünglich romanische Bauwerk „mit viel Fingerspitzengefühl“ im spätgotischen Stil umgebaut wurde. Bevor ich gehe, bleibe ich vor den riesigen Statuen im Eingangsbereich stehen. Streng bewachen die Hl. Margaretha und die Hl. Katharina den Eingang.
Ich gehe ein wenig zwischen den dunklen Häusern herum. Wolken ziehen auf, es wird kühl. Zeit, die Linie zu „verriegeln“ wie den Anfang einer Naht, also gehe ich den Weg zurück, den ich gekommen bin, wissend, dass ich ihn morgen noch einmal gehen muss (Plan A und Plan B sind immer noch identisch, ich versuche, die Wolken mit bösen Blicken zu vertreiben, dann denke ich an schlechtes Karma und strahle sie an: Herzlich willkommen seid ihr, aber wartet bitte noch ein wenig!, und siehe da, die Sonne kommt für einen Moment wieder zum Vorschein). Ich will nicht an Plan B denken, zu sehr graut mir vor einer Talwanderung auf gutem Weg. Es ist schon so, schmale Täler lassen sich nur ertragen, indem man sich regelmäßig über ihre Grenzen erhebt, wenn die mauerngleichen Flanken in der Höhe zu schmalen Linien werden, zu einer Knitterfalte in einem Meer aus Gipfeln, das sich irgendwo in der Ferne im Dunst verliert.

Es ist kurz nach sechs, die Topfengolatsche ist verdaut, der Hunger meldet sich. Das Mädchen an der Rezeption hat mir ein Lokal empfohlen (das einzige), doch ich stehe vor verschlossener Tür, Montag ist Ruhetag. Die wenigen anderen Gäste haben sich mit Autos beholfen und sind nach Prägraten gefahren, erfahre ich später, doch ich, umweltgerecht angereist, sitze hier fest. Die junge Dame des Hauses hat verschwiegen: Es gibt noch ein Lokal. Es steht nicht auf der Empfehlungsliste, aber es hat geöffnet. So gehe ich also zu El Sayed Hussein ins Café Sinne, erwarte mangels Empfehlung und angesichts des ersten Eindrucks Tiefkühlpizza, aber nein: Es kommt eine der besten Pizzen meines Lebens, ein knuspriges, knoblauchiges Geschmackserlebnis. Nicht empfehlenswert ist einzig der Gastraum, der riecht trotz Rauchverbots nach kaltem Rauch und altem Kunstleder, außerdem läuft der Fernseher. Ich bleibe trotz zunehmender Kälte auf der Terrasse sitzen.

Plan B: Als ich am nächsten Morgen aus dem Fenster schaue: Regen. Und ist das Schnee auf den Gipfeln, die für den Bruchteil einer Sekunde zwischen den Wolken herausschauen? Ich frühstücke, zögere den Aufbruch hinaus, doch es nützt nichts, wenn wetterberichtsgetreu der Regen schon da ist (und der Schnee), ist auch die Wahrscheinlichkeit für tatsächlich aufkommenden Sturm gegeben, sinnlos, sich da aufzumachen in die 3000er-Region. Ich steige in meine unpassenden, zu festen, zu harten, zu steifen Schuhe, ziehe einen Regenschutz über meinen Rucksack und gehe einige Schritte Richtung Osten, stehe vor einer großen Tafel, vor den bunten Linien, die Lust machen sollen, sich am Talboden sportlich zu betätigen. Ich lese: Adlerweg! Aber nicht „der“ Adlerweg hoch oben, sondern ein Namensvetter, Teil des „Bewegten Tals“ in der „Walking Arena Virgental“. Mein Standort hat die Nummer fünf, der Begleittext am Rand der Tafel sagt: „Das imposante Virgental am Südhang der Hohen Tauern saugt die Sonne buchstäblich auf – damit Sie sie einatmen können“ (ich lache gequält, niemand hört mich, ich stehe hier mit meinem wasserdicht verpackten Rucksack ganz allein), „denn die herrlich angelegten Wege und Steige führen Sie in alle Tallagen und gewähren Ihnen einzigartige Ausblicke auf die beeindruckende Bergwelt und die gepflegte Kulturlandschaft im Tal“. Ich beschließe, ab nun nicht daran zu denken, dass ICH in der beeindruckenden Bergwelt stehen wollte und lediglich MEIN BLICK die gepflegte Kulturlandschaft im Tal hätte streifen sollen. Schluss, aus, wer weiß, wozu es gut ist, es gibt schließlich massenhaft Leute, die gerne die Tallagen genießen, und ich lasse mich in meinen falschen Schuhen jetzt einfach darauf ein. Punkt.
Heute überhole ich niemanden. Keine Ordensfrauen, keine Katzen. Die Kinder gehen noch nicht spazieren, vielleicht kreisen sie bereits möglichst unauffällig um die Computer und warten, bis die Eltern aus dem Haus oder sonstwie beschäftigt sind. Mein „Adlerweg“ (nicht einmal den Bauch eines Adlers wird man von hier unten erkennen können, aber bitte), mein Adlerweg also soll mich in einer ersten Etappe über die Hohe Bank nach Bobojach führen. Ich durchquere Obermauern und komme bald in eine tatsächlich ansprechende Umgebung: abgegraste Wiesenflächen, Baumgruppen, Felsblöcke. Es riecht nach Berg und Regen. Der Weg wird schmal und zunehmend etwas steiler, auf einmal steht ein Schild am Wegrand, nicht gelb, sondern weiß, ich befinde mich auf der Romantikrunde, lese ich. Ach ja, die Walking Arena Virgental. Romantisch ist es, schöner Mischwald, alles voller erfrischender Regentropfen und Nebelschwaden, ab und an ein umgestürzter, halb morscher Baum. Und dann, bald nach dem Schild, ist sie da, die Schlüsselstelle! Ein Drahtseil, Felsen, ein Abgrund. Ich bleibe stehen, habe doch tatsächlich einiges an Höhe gewonnen. Die schmale Straße im Tal blitzt zwischen dichtem Wald hervor, man hört die Isel rauschen.
Immer noch bin ich allein auf meiner Romantikrunde, sehe nicht einmal ein Tier. (Allein werde ich bleiben bis zum vermuteten, aber in diesem Ausmaß doch nicht erwarteten Schrecken, aber dazu später.) Es böte sich die Gelegenheit, hier doch noch zur Bonn-Matreier-Hütte abzuzweigen, in meinen Plan A einzufädeln, aber das Wetter wird nicht besser, im Gegenteil, in den Wipfeln höre ich den Sturm.
Eine gefährliche Stelle, jetzt tatsächlich, ich packe die Stöcke aus. Der Weg verliert sich auf einmal unsichtbar in einer nicht gemähten, steilen, nassen Wiese. Eine Erinnerung an eine (lustlose) Wanderung in irgendwelchen Hügelbergen in Vorarlberg stellt sich ein. Auch damals: steile Wiesenhänge, Matsch, keine Aussicht, kein Vergnügen, wiederholtes Ausrutschen und wenige Tage später eine Meldung in der Zeitung von einem, der nicht so viel Glück hatte wie ich. Vorsichtig bewege ich mich auf ein fernes Gatter zu, wo ich den Weg vermute. Die Romantikrunde hat mich wieder, der Pfad wird zu einem Karrenweg und führt zur Straße hinunter. Ich bin in Wallhorn, bald darauf in Prägraten. Hier öffnet sich das „Tor zu einer hochalpinen Traumwelt“: Das Bergsteigerdorf bettet sich wie gemalt zwischen die vergletscherte Venediger- und die Larsörlinggruppe am Ende des Virgentals. Ein Großteil des Gemeindegebietes liegt im Nationalpark Hohe Tauern, was Dir unberührte Landschaften, intakte Gletscher mit glasklaren Seen und Flüssen sowie eine einzigartige Tierwelt garantiert. Einfach ein Meisterwerk der Natur! Atemberaubend thront die „Weltalte Majestät“ – der 3674 m hohe Großvenediger – erhaben über dem Ort, flankiert von seinem Hofstaat: Dem Rainerhorn, der Schwarzen Wand, dem Hohen Zaun, dem Hohen Aderl sowie von 60 weiteren Dreitausendern, die alle darauf warten, von Dir erobert zu werden. Denn in Prägraten kannst Du Deine Bergausrüstung bis ans Limit testen! Zum Beispiel mit anspruchsvollsten Hoch- und Skitouren, bei denen Du tagelang keinen Fuß ins Tal setzen musst. Oder bei wilden Übergängen, wie auf der Alpenkönigroute, der vielleicht schönsten alpinen Tour überhaupt. Oder bei spektakulären Kletterpartien in Fels und Eis. (http://www.virgental.at/erlebnisregion/praegraten-a-g.html). Ist gut, ist gut, sie werden noch länger warten, der XX und der XY und der XZ und auch Heinz, der Hüttenwirt. Dann vermesse ich Prägraten eben von unten, begegne dem Bergsteigerdorf auf Augenhöhe. Der Regen hat aufgehört, ich schiebe die Kapuze zurück, putze die Brille.

Wie begegnet mir der Ort? Mit grasenden Haflingern, mit einem riesigen Plakat, das Kinder in einen „Kletterpark“ lockt (= Hochseilgarten, finde ich wenig später heraus, und frage mich, warum es hier einen Hochseilgarten braucht, wo doch überall Felsblöcke herumliegen). Prägraten beginnt mit einem kleinen Spar-Markt (jahraus, jahrein) und leuchtenden Vogelbeerbäumen (jetzt, im Spätsommer). Gleich hinter dem Spar ist man „Von Kopf bis Fuß auf’s Wandern eingestellt“, der Schriftzug verteilt sich über das gesamte Schaufenster, davor hängen Jacken und Sonnenbrillen auf Metallständern. Ein paar Schritte weiter eine Krippe – um diese Jahreszeit? – statt Josef, Maria und dem Jesuskind hängt da ein Foto vom Großvenediger. Strohschafe grasen, Hirten sehe ich keine, dafür Werbung für Bergführer. Immer noch bin ich im „Virgental in Bewegung“, mein Standort ist jetzt: C_Spar-Markt. Eine türkise Linie (mit der Romantik scheint es ab nun vorbei zu sein) führt ein wenig in die Höhe (Aussicht!!! Die nehme ich!) und dann geradewegs zu meinem Tagesziel Hinterbichl, der letzten Ortschaft am Talschluss. Ich besichtige vorher noch Friedhof und Kirche, fotografiere eine Lawinensperre aus Beton, einen himmelblauen Hydranten und ein blaues Loch in den Wolken. Dann Asphalt. Die türkise Linie will es so. Ich drehe meinen Rücken in den Wind, krame vorsichtig meinen Müsliriegel aus dem Rucksack, beinahe weht es mir den Rucksackregenschutz aus der Hand. Ich werde eine Stunde länger (!) brauchen als das AV-Schild prophezeit hat, das liegt am beständigen Jacke-AN und Jacke-AUS, am Stehenbleiben, am Einprägen, am Fotografieren. Ich merke: Ich bin doch beruflich hier, es muss etwas entstehen nach dieser Wanderung und das unterscheidet sie von allen anderen Wanderungen, die unter anderem dazu dienen, den Kopf zu befreien. Nun soll ich also den Kopf füllen mit Ideen, die sich später in Sprache gießen lassen werden. Ich schultere meinen Rucksack, seufze beim Anblick der Straße. Ein Postauto rast abwärts.
Kehre um Kehre gehe ich hinauf nach Bichl (Aussicht!!!), ich fotografiere Felsen zwischen den Häusern, Unterstände für Schafe, Sonnenkollektoren mitten in der steilen Wiese. Ich stelle mich auf den ausgewiesenen Aussichtsplatz und blicke zum Talschluss, Hinterbichl liegt zum Greifen nah. Ich folge einem gelben Schild und stehe bald darauf vor einem weißen: Ich befinde mich auf dem Hinterbichl-Track. Kurze Zeit später ein gelbes Schild: Der Hinterbichl-Track ist zugleich der Höhenweg. Und der Höhenweg hat einen roten Punkt! Kein Asphalt! Kein Forstweg! Ein Steig! Ich werde schneller, der Weg wird schöner, sehr schön sogar. Die Wolken geben den Blick frei auf den ersten Schnee. Bis 2900, 2800 Meter liegt er, schätze ich.
Weit kann es nun nicht mehr sein und weit ist es auch nicht. Hinterbichl begegne ich aus der Vogelperspektive vom Endpunkt meines Höhenweges aus: Ich sehe einen Campingplatz mit einer Handvoll Wohnmobilen, eine giftgrüne Umzäunung von etwas, das wie eine Schotterhalde aussieht, verhältnismäßig große Häuser. Ein gelber Schilderwald leuchtet mir entgegen, weist unter anderem zum Defreggerhaus, das aber nicht in „meinem“ Landvermessungsdreieck liegt, keine Reue also diesmal, als ich schnurstracks absteige, um meine Unterkunft zu suchen. Ich komme direkt am Talschluss heraus, das Haus Edelweiß liegt allerdings am Ortsanfang, so sagt man mir in einem (dem einzigen) Gasthaus, in dem ich nachfrage: Ich kann es kaum fassen. Auf dem ganzen kilometerlangen Weg bin ich keinem einzigen Menschen begegnet, und nun schlagen mir Lärm entgegen und schlechte Luft, die drei Gasträume sind voll mit Menschen, wo kommen die alle her? Ich solle, wenn ich etwas essen wolle, am Abend wiederkommen, erklärt man mir, sie hätten jetzt mit den Bussen alle Hände voll zu tun. Ich flüchte. Ums Eck sehe ich sie: zwei Reisebusse, in einem sitzt ein Fahrer und schaut mich an, der andere ist leer. Ich atme rasch die „würzige Virgentaler Bergluft“ ein und vermesse das Dorf mit langen Schritten von hinten: Ökostrom Kraftwerk Dorferbach. Holzbrücke über die Isel. Steinerne Kapelle am Straßenrand. Sonnenuhr an der Außenmauer der steinernen Kapelle. In der Kapelle viel Gold und Rot und wunderbare Kapellenstille. Herausgeputzte, wirklich große Häuser rechts und links der Straße. Das letzte ist meine Unterkunft. Ich klopfe, diesmal zeigt mir eine erwachsene Frau mein Zimmer, Möbel, Boden, Decke, alles aus Holz, ein riesiges Bad, ein kleiner Balkon, ein hölzerner Schreibtisch im Eck, ein Wunderzimmer, ein Traumzimmer. Ich sage das der Vermieterin und sie freut sich. Es ist erst ein Uhr. Ich habe nur ein Buch mit, in dem ich nun doch nicht lesen möchte, ich habe den Laptop zuhause gelassen, ich könnte in mein Notizbuch kritzeln, aber dann würde ich bald ungeduldig bei der Vorstellung, wie schnell das doch mit Tastatur ginge, und dann würde ich mich ärgern und deshalb packe ich das Notizbuch gar nicht erst aus, sondern zwei Müsliriegel. Versuche, nicht auf das Bett zu krümeln, entfalte meine Wanderkarte.
Plan C. Dieses Landvermessungsdreieck öffnet sich großzügig nach Westen hin. Ich verfolge mit meinen Augen die Linien, gestrichelte, gepunktete, bleibe hängen an Clarahütte, Philipp-Reuter-Hütte, Lenkjöchlhütte, an den weglosen Gipfeln, am Grenzverlauf, der sich hier genau von Gipfel zu Gipfel zieht.
Mein Magen knurrt, die Müsliriegel sind zu wenig, ich falte die Karte zusammen, gehe nach unten und frage die Wirtin, ob es ein anderes Gasthaus gebe, aber es gibt nur das überfüllte. So gerecht, wie ich meine, sei das Tal nicht, erfahre ich außerdem, denn hier in Hinterbichl sähen sie drei Monate lang kein Sonnenlicht, mit einer einzigen Ausnahme, das Wirtshaus nämlich stehe so, dass die Sonne links hinter einem Gipfel verschwinde, bevor sie rechts wieder hervorkomme und das Gebäude exakt drei Minuten lang in Sonnenlicht tauche. Das Gasthaus gibt es seit 1606, werde ich später lesen, der frühe Vogel fängt eben den Wurm. Ich versuche, das Gespräch noch einmal aufs Essen zu lenken, die Vermieterin verweist auf die Islitzer Alm am Eingang zu Umbaltal. Und ich beschließe, Plan C einzufädeln. Die Beine sind zwar etwas müde, aber der Nachmittag ist noch allzu lang, die Entscheidung ist rasch getroffen. Eine Stunde würde ich brauchen, sagt sie, und ich lasse diesmal meine Jacke an, der Wind ist stark und kalt genug, um auch den Reißverschluss geschlossen zu halten.

Ein schöner Weg führt direkt am Wasser entlang im schmalen, teilweise zur Klamm verengten Tal. Den Fahrweg auf der anderen Seite sehe ich nicht einmal, genieße den wilden Märchenwald, komme an riesigen Felsblöcken vorbei, die wie übergroßer Kandiszucker zwischen den Stämmen liegen. Das Rauschen des Wassers wird lauter, eine kleine Aussichtskanzel gibt die Sicht auf einen Wasserfall frei, die Gischt spüre ich im Gesicht, ich fühle mich wohl, habe mich mit dem Tag versöhnt, nach Asphalt und Fitnessweg bin ich nun wirklich in der Natur angekommen, so scheint es mir. Auf den letzten Metern muss ich auf den breiten Almweg einbiegen, und dann der Schock: Bustouristen auch hier, massenweise! Und dabei war ich auf meinem kleinen Wanderweg ganz allein! Keine Menschenseele! Nur ein paar Kühe! Die Bustouristen schlagen bereits den Rückweg ein, steigen in eine Kutsche, in einen Traktorzug (nichts davon habe ich gehört vorhin, nichts gesehen), Augen zu und durch, ich muss etwas essen, dringend, ich bestelle Strudel und Kaffee, bei Strudel kann nicht viel schiefgehen, denke ich. Teig und Fülle sind in Ordnung, beim ersten Schluck Kaffee würge ich, Instantpulver (kein Löskaffee, sondern ein Pulver-Milchpulver-Sonstwas-Mix). Kapuzinerkresse vor den Fenstern. Ich zahle und gehe. Ich atme würzige Virgentaler Luft. Gehe westwärts, nehme mir zwanzig Minuten vor, um Plan C kennenzulernen, vielleicht gibt es gelbe Schilder mit Wegzeiten. Dieser Weg führt in die Einsamkeit, das hat mir meine Karte verraten, er verbindet als einziger die Hütten, unmöglich, mit Kutschen und Traktorbussen in diese Bergwildnis zu gelangen.

Plan C wird zu Plan D. Gleich hinter den Schildern steht ein weiteres Schild. Der Sturm hat so große Schäden verursacht, dass der Weg gesperrt werden musste. Talschluss. Talschluss, und dabei hätte doch …

 

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