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Marginaltexte (2) Farben, Formen, Zeiten

Mit dem Wort Marginalie wird gewöhnlich Nebensächliches bezeichnet, etwas am Rande oder an der Grenze einer Sache Liegendes. In Quart werden unter diesem Titel zentrale Texte über das Leben an der Peripherie neu veröffentlicht, die längst vergriffen oder nur schwer zugänglich sind, an entlegenen Orten aufbewahrt oder gar in Archiven verschwunden. Folge 2: drei von insgesamt neun „Variationen über das Sehen“, welche die 1997 verstorbene Südtiroler Schriftstellerin Anita Pichler zwei Jahre vor ihrem Tod unter dem Titel „Beider Augen Blick“ veröffentlichte.

DIE LANDSCHAFT

Der Anfang ist nicht der Anfang vom Bild. Der Anfang hat sich in den Bildern aufgelöst. Hinter jedem Anfang steht das Prinzip, das schon lange wirkt, und über den Anfang hinaus andauernd zu wirken beginnt.
Die Bilder entstehen aus der Landschaft. Die Landschaft ist Fels, ist Sonne darauf. Riffkalke und Licht, ist Nebel darüber. Ist Nebel und Auflösung. Ist Auflösung und Versteinerung. Risse und Ritzen, von Wurzeln aufgetan, aufgeblüht und versunken, eingebrochen. Von Wassern genährt, von Wassern gespült. Von Wassern angeschwemmt, die Erde, und wieder von ihnen verlassen.
Der Ort der Bilder ist die steil ansteigende Felswand, ist der Abgrund. Im Auge, das sich daraus löst, entsteht das Bild: Linien, wie Schlangentanz, wie Vogelflug, wie der Sprung der Raubkatze oder die Flucht vom Murmeltier: Kommt ein Wesen aus der Nacht, kommt wie ein Falke, ein Rabe, eine Schwalbe, kommt mit allen Formen von Falken, Raben und Schwalben, mit allen Eigenschaften, wie das dunkle Abbild in die Sonne; setzt mit Katzenpfoten auf, wird Tiger, wird Wolf, wird Schlange, mit ihrem Hunger, mit ihren Krallen, Zähnen und mit ihrem Gift, mit ihrer Schönheit und Kraft. Dringt in die Augen der Menschen, streut Furcht und Entsetzen. Trägt als Stier alles Grauen der Welt, alle Furchtbarkeit und alle Orakel.
Das ist das Bild vom Berg; er selbst schafft es aus seinen Abhängen: Tanna ist der Name, weiblich das Geschlecht, überliefert als älteste Gottheit, Schöpferin alles Lebendigen: Sie wirft die Pflanzen, die Tiere, die Menschen, wirft Wasser, Luft und Feuer, eins nach
dem anderen, eines neben das andere, so die Parabel.
Und das Symbol ist die Zeit: Sie wirft alles durcheinander und ordnet den Lauf der Dinge. Sie trennt das Leben vom Tod und macht alles sichtbar.
Sie lehrt die Menschen, mit dem Tod zu rechnen und mit der Furcht.
Sie ist ihr Haus im Wind und im Regen, in Tagen und Nächten. Sie ist das Schiff, in das alles sich flüchtet, Gut und Böse, Licht und Dunkel, Wachen und Schlaf. Sie hält den Raum offen, und alles geschieht: Freude geschieht, Angst und Macht geschehen, Kälte und Durst. Sehnsucht und Leidenschaft, Schweres und Leichtes; und der Haß geschieht und die Liebe geschieht.
Siegen geschieht und Verlieren. Untergang ist der Anfang vom Bild. Am anderen Ende der Zeit wandelt die Sonne durch die Nacht.

Wien-Obereltes-Hütte, 1993


DER RAUM

Seit einem Jahr lebe ich nun in dieser Stadt am See, in dieser Landschaft, unter diesen Bäumen, in diesen Häusern, Straßen, auf diesen Plätzen und Terrassen, auf diesen Wegen in diesem Ort am See. Mit diesem Bahnhof, mit diesen Menschen, die hier leben, nicht vorüberziehen wie ich: Ohne sie gäbe es hier keine Stadt, keine Häuser, keine Straßen, auch der See wäre anders; es gäbe keine Fabriken, keine Büros, keine Schule, kein Kino, kein Theater, keine Beitz. Und die Sprache: Es hat alles hier, bloß keine U-Bahn und kein Meer. Mehr aber brauche ich nicht.

Ich ließ mich in den großen weißen Raum führen, er wird ein Jahr dauern. Unter mir ist China, beinahe ein Kontinent, der nach Zwiebeln riecht, nach süßen und scharfen Gewürzen. Über mir das Schlafzimmer des Ehepaares, links eine Tür, der Name daran führt zurück nach Italien.
In der Ecke ist die Mauer krumm, eine Linie, die sich bodenwärts nach innen neigt, in den Raum: Der Wand sieht man es nicht mehr an, dem Staub sieht man es nicht mehr an: Einmal muß das hier die Mauer der ganzen Stadt gewesen sein, die Grenze zwischen Wildnis und Gesetz, zwischen Quellen und Häusern, zwischen Kälte und Öfen und so weiter. Heute halten sich nur die Schatten dunkler in den Winkeln und in der Nische. Draußen ist Straße, ist Kreuzung, ist Schule, draußen ist mittendrin.
Die Nische drückt sich wie ein aufgebrochenes Versteck in die Wand. Plötzlich steht der Wächter drin, er ist mit dem Nebel sichtbar geworden und geht in den Morgenstunden. Er führt seine Gespräche allein: kein Visier im Gesicht, keine Lanze in der Hand, er friert nicht, er ist nicht müde, er ist nicht wach. Ich kitzle ihn, und mir kribbelt die Nacht an den Fingern, ich streichle ihn und kriege einen Brief: Stell dir vor, steht darin. Mit diesen Vorstellungen gehe ich dann hinaus in die Stadt, sie sind mein Panzer, mein Spiegel, alles prallt an ihnen ab und wischt vorüber.
Der Kunstledersessel ist mein Fernsehgaul; ich stelle ihn ans Fenster. Wenn er lostrabt, in den Raum, bleibt nicht einmal ein Steckenpferd, ein Rappe, der mich nicht braucht: Er trug mich zu oft in diesem Jahr der Kriege. Der Divan ist das grüne Gästebett, eine Kuhhaut spannt sich darüber. Im Norden, so erzählt Birgir, der aus Island hierher kam, erhielt ein Mann, wenn er sich auf der Insel niederließ, Land, so weit der Pfeil flog. Die Frau mußte das Land mit einem Kalb abschreiten, solange der Tag ging. Im Süden wurde geschnippelt: Dido erhielt, was in die in Streifen geschnittene Kuhhaut paßte.
Hier bin ich etwa auf halbem Weg zwischen Karthago und Reykjavík. Purcell habe ich mitgebracht, Didos Lied: Remember me, but ah, forget my fate.
Bücher habe ich mitgebracht, Schuhe habe ich mitgebracht, als wäre ich ein Steinläufer, der zu den Hundertfüßlern gehört, und Kleider für ein anderes Klima. Vor mir hat eine alte Frau hier gewohnt. Sie hörte nicht mehr so gut, sah nicht mehr so gut. Sie ist hier gesessen und hat hier geschlafen, sie ist in meinem Winter gestorben. Sie hat hier geträumt, hat hier gelesen, brach die Lampe aus der Fassung. Sie hat von ihrer Zeit die letzten Tage an einem anderen Ort gefordert. Ob es ihr leicht fiel, ob sie in meinen Traum fällt, wenn der Nachtvogel sich im Turm verfliegt?
Der Turm steht in der Küche, ein blinder Wehrturm mit Gittern an den Scharten gegen Tauben und Fledermäuse. Türme sind seltsam. Selbst als Ruinen ragen sie weiter in die Erinnerung der Menschen und in ihre Vorstellung: Einer muß im Turm stehen wie ein Heiliger in der Ikone. Im Rücken das Land und vor ihm das Wasser. So muß es hier gewesen sein. Einer muß dastehen für alle anderen, die hinter seinem Rücken weiterbauen, eine ganze Stadt; die hinter seinem Rücken reden und lachen, lieben und leiden. Manchmal kribbelt es ihm die Wirbelsäule entlang, ein winziger Schauer. Was er im Rücken weiß, stärkt ihn: Brunngasse, Obergasse, Ring, der Brunnen von Engel und Teufel, der Brunnen der doppelschwänzigen Nixe, der Brunnen der zwei Schalen der Gerechtigkeit, dann Untergasse, Kirchgäßli, Burggasse, Römergasse und die Kastanien auf dem Kirchplatz. Er hat die Bilder der Stadt hinter sich. Er kennt die Geräusche der Bewohner.
Alles machen sie für ihn. Sie backen das Brot und keltern den Wein. Sie füttern die Tiere für ihn und scheren sie, spinnen Garne und weben ihm das Tuch, nähen ihm die Kleider auf die Haut; sie schlachten die Tiere, zerteilen sie und braten sie ihm überm offenen Feuer. Er hört das Knistern, erwischt von den aufsteigenden Düften gerade noch einen Zipfel und spürt den Speichel flüssiger im Mund.
Er hört noch Hämmern und Sägen, aber die neuen Geräusche erkennt er nicht, sein Blick schweift zu hoch über Straßen und Wasser.
Und als die Sirene losheult, schaut er noch weiter hin-
aus, schaut der Sonne nach, die im Westen hinter die Petersinsel, die er vorn weiß, ins Wasser gesunken ist, schaut in die Dunkelheit und wundert sich in der Stille der Nacht, daß ihm niemand eine Mahlzeit gebracht hat, nicht einmal Wasser.

Biel, 1992


DER ORT

Wo bleiben die Orte?
Wo bleiben die Orte der Kindheit, zum Beispiel, der Jugend, die Orte der Geschichten, die strategischen Orte der großen Geschichte, die taktischen Orte der Anekdoten? Wo bleibt der Ort, wenn die Erzählung zu Ende geht, wenn die Fensterläden geschlossen sind, wenn das Licht gelöscht ist und sich der Traum der Menschen bemächtigt? Hat der Tod einen Ort und der Nicht-Tod? Ist es die Zeit vor der Geburt, und wo bleibt sie?
Wo sind die Orte meiner vergangenen Jahre?
Ist der Ort eine Frage der Zeit?
Ist der Ort eine Frage?
Der Ort, an den die Lachse zum Laichen zurückkehren.
Der Ort, an dem sich die Wale paaren.
Der Ort, an dem die Delphine spielen.
Der Ort der Korallen.
Der Ort der Sardinen.

Der Ort des Wassers ist die Quelle, ist der Fluß.
Es ist die schwierige Mündung im Meer. Wasser gegen Wasser, Brandung gegen Fluß.
Es ist der Ort der Welle, der Ort der Schiffe.
Der Ort der Kielwasser, der Strömungen und der Regentropfen.
Das Wasser ist sich selber der Ort.

Und die Winde?
Wenn sie die Wasser zausen, an Bergen aufsteigen und sich in die Täler stürzen, wenn sie Kälte zeugen und Hitze, wenn sie Feuchtigkeit bringen oder das Land austrocknen, bis zum letzten Körnchen Staub?
Wo ist der Ort der Winde, wenn sie sich in Höhlen und Tälern verfangen, in Felsenstuben, an den Rändern der Kontinente, am Nordkap, am Südkap, am Kap der Guten Hoffnung?
Oder wenn sie landeinwärts fegen, über das Land hinweg, Flüsse entlang, Ebenen? Wenn sie Wüsten umwälzen, Bäume versetzen, in den Städten die Dächer von den Häusern zerren?
Wenn sie unsere Bauwerke zerstören, unsere Anlagen, unsere Behausungen, unser ganzes, an der Erde haftendes Dasein?
Ort der Adler und Geier.
Ort der Brise am Abend.
Ort der Stechmücken.
Und die Erde war Sumpf, war Wald, war Wiese, war Straßengrund.
Ist all das und die dünne Schicht Humus am Felsen. Die Erde hat den Namen des ganzen Planeten, der durch die Zeit wirbelt. Wäre ich außerhalb, im Raumschiff, könnte ich sie sehen, den Ort, den ich eine Zeitlang bewohne.
Ort der Wanzen und Läuse.
Ort der Läuse im Katzenfell.
Ort der Schlangen und Würmer.

Ich schäle mich aus dieser Erde, strecke den Kopf aus dem Sand und öffne Augen und Ohren, die Nase und die ganze Haut dem Wind. Ich löse mich und spüre das Herz schlagen, den Atem.
Ich spüre Kälte und Wärme, Regen und Wind und lerne zu unterscheiden.
Farben sind da, Formen und Zeiten.
Sind an dem Ort, wo ich die Augen öffne: ein Zimmer vielleicht, über einem anderen, ähnlichen Zimmer, unter anderen. Aber der Ort ist der Ort der warmen Hände, der Nahrung, der Zärtlichkeit oder der mangelnden Zärtlichkeit. Farben, Formen und Zeiten nehme ich erst allmählich wahr. Und ich höre allmählich Stimmen und Laute. Höre Nähe und Ferne, rechts und links, oben und unten. Mich an den Tönen bewegend, stelle ich in diesem Zimmer Entfernungen her, und es entsteht der Raum. Der Raum mit all seinen Orten: der Ort für den Blick, für das Wort, für die Zärtlichkeit und so weiter. Wenn ich mich sehr weit vorwage, gewahre ich den extremen Ort der Mitte in mir selber.
Aber ach, er hält nicht still. Er rutscht vom Herz in die Hose, steigt in den Kopf, rutscht in den Bauch, ins Handgelenk, und manchmal, wenn ich ihn schon verloren glaube, pulsiert er in der großen Zehe am linken Fuß.

 

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