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Sowas gibt’s.

Eigentlich wollte Heinrich Steinfest erzählen, wie es dazu kam, dass das Schmirntal und das Valsertal zu Schauplätzen in seinem erfolgreichen Roman „Der Allesforscher“ wurden.
Aber dann kam er wieder einmal vom Weg ab.

Das passierte mir ständig, daß ich auf dem Weg nach Wien oder Innsbruck – und nachdem ich, von Stuttgart kommend, in München umgestiegen war – einnickte und in einen tiefen Schlaf verfiel, aus dem ich erst kurz vor Innsbruck oder kurz nach Linz aufwachte. Ich muß also sagen, daß ich die Existenz von Salzburg und Rosenheim, obgleich ich in den letzten zwanzig Jahren sicher mehr als fünfzig Mal durch diese Städte hindurchgefahren bin, nicht aus eigener Anschauung bestätigen kann. Salzburg und Rosenheim sind auf eine gewisse Weise die „Städte meiner Träume“, wobei mir gerade die Träume, in die ich auf diesen „Schlaffahrten“ gerate, oft horribel oder zumindest aufreibend erscheinen (daß Salzburg und Rosenheim in einer ähnlichen Weise wie die Stadt Bielefeld eine Erfindung darstellen oder in charmanter Weise der Theorie von einem bloß erfundenen Mittelalter verwandt sind – und darum in Anlehnung an den Begriff „Dunkles Jahrhundert“ als „Dunkle Städte“ gelten können –, soll hier nicht behauptet werden, umso mehr, als ich zahlreiche Menschen persönlich kenne, die mir versichern, sowohl in Salzburg als auch in Rosenheim gewesen zu sein und zumindest teilweise eine Übereinstimmung mit den Bildern und Berichten über diese Städte festgestellt zu haben; allerdings kenne ich auch erstaunlich viele Personen, die mir erzählt haben, beim Durchfahren durch Salzburg oder Rosenheim stets von einer schlafbringenden, fast märchenhaft anmutenden Müdigkeit überfallen zu werden).
Ich schreckte jetzt also hoch und erkannte durch das Fenster hindurch einen Bahnsteig, auf dem der Zug soeben zum Stehen gekommen war. Ich war überzeugt, es müsse sich um Innsbruck handeln, auch wenn ich kein Schild erkennen konnte. Rasch katapultierte ich mich in die Höhe und griff nach meiner Tasche, in die ich meinen Laptop mit jener Behändigkeit fügte, mit der man kleine Kinder in Schlafanzüge rutschen läßt. Ich zog meinen Koffer vom Gepäckfach herunter und lief los, um in aller Eile aus dem Zug und auf den Bahnsteig zu springen. Und war glücklich, es gerade noch geschafft zu haben. Allerdings nicht mehr ganz so glücklich, als der Zug nun losfuhr und mir endlich der Blick auf ein Stationsschild verriet, mich nicht in Innsbruck, sondern in Kufstein zu befinden. Ein Ort, an dem ich in der Regel ebenfalls schlafend durchzufahren pflege. Dessen Existenz mir allerdings durch ein Erlebnis meiner Jugend als „hundertprozentig“ gesichert erscheint. Mit vierzehn Jahren nahm ich an den Schüler-Staatsmeisterschaften im Judo teil, die eben dort, in einer Kufsteiner Sporthalle stattfanden. Ich kann mich kaum an etwas erinnern, freilich daran, gewonnen zu haben, und zwar in der Gewichtsklasse bis 40 Kilogramm, was mir wiederum ins Gedächtnis ruft, was für ein „Hendl“ ich damals gewesen bin und warum ich von meiner Mutter überhaupt erst zu dieser Sportart gedrängt worden war. Sie wollte mich ein wenig kräftiger haben, weil sie glaubte, ich sei krankhaft dünn. Wobei sie in keiner Weise damit gerechnet hatte, ich könnte den Sport so ernst nehmen, im Zuge derartiger Kräftigung Turniere gewinnen und hernach mit gewonnenen Pokalen das Bord über dem Fernseher vollstellen.
Jedenfalls hatte ich im Zuge dieser erfolgreichen Staatsmeisterschaftserringung das letzte Mal meine Füße auf Kufsteiner Boden gehabt, nackte Füße, wie beim Judo üblich. Jetzt hingegen, als der aktuell Fünfundfünfzigjährige, stand ich da mit leichten, dünnen Sommerschuhen, verärgert ob meines dummen Fehlers, Kufstein für Innsbruck gehalten zu haben.
Ich begab mich in die Ankunftshalle und schaute hin-
auf zur Anzeigetafel, um nach dem nächsten Zug nach Innsbruck zu schauen, jene Stadt, die mir weniger durch die dramatisch schöne Nähe der Berge so lieb ist, sondern weil ich an keinem anderen Ort der Welt Flugzeuge so gut beobachten kann. Maschinen, die dort in rascher Folge knapp über die Stadt fliegen, um dann knapp hinter der Stadt zu landen, weshalb ich mich extra ganz oben im höchsten Hotel der Stadt, dem aDLERS, einzuquartieren pflege, um die ansteigenden und absteigenden fliegenden Kisten, die das Hoteldach körpernah queren, besser sehen zu können. Es ist eine Form von Birdwatching, die ich dort betreibe.
Jetzt aber … Während ich da vor der Anzeigetafel stand, ging mein Blick nach draußen, hinüber zu den Haltestellen, wo soeben ein Bus vorfuhr, auf dessen „Stirn“ Hinterthiersee Grub als Endstation aufschien.
Hinterthiersee? Davon hatte ich als literarisch wie touristisch interessierter Mensch schon einmal gehört. Lag dort nicht dieses Hotel, wo sie die Teppiche auf den Gängen mit Texten von Raoul Schrott ausgestattet hatten und kein noch so potenter Staubsauger in der Lage gewesen wäre, diese Wörter und Sätze zu beseitigen? Und wo die Leidenschaft für Bücher so weit ging, den Gästen selbst noch im Spa-Bereich mit einer Bibliothek liebevoll zu Leibe zu rücken?
Oder verwechselte ich schon wieder mal zwei Orte miteinander, wie mir das leider des öfteren passiert, etwa eine Straße in Meidling suchend, die allein in Mödling zu finden ist, oder nach einer Therme in Alt-
erlaa schauend, die ich viel besser in Oberlaa entdeckt hätte? Ich weiß auch nicht, wieso ich so ein Händchen dafür habe, mich zu verirren. Und wieso ich dennoch so gerne auf Pläne und Karten und neutechnische Orientierungshilfen verzichte und auf meinen Instinkt vertraue. Er betrügt mich und ich nenne ihn untrüglich.
Aber Instinkt ist möglicherweise eine seelenhafte Intervention, deren Sinn tiefer geht als das Erraten von zumindest drei richtigen Zahlen im Lotto. Jedenfalls sah ich mich verführt, nach draußen zu gehen, in den Bus zu steigen und ein Ticket nach Hinterthiersee zu lösen, um mich zu überzeugen, ob ich recht hatte oder nicht. Das würde ja keine Weltreise werden, sondern mich kurz in eine Gegend bringen, in der ich nie zuvor gewesen war. (Ich bin manchmal allen Ernstes zu träge und gehemmt, mein Handy herauszuholen und etwas nachzuschauen. Ganz abgesehen davon, daß meine Angst vor Spinnen so weit geht, jede Art von Netz zu fürchten.)

Der Ausflug lohnte sich, wie ich bald feststellen durfte, als der Bus – chauffiert von einem für Tiroler Verhältnisse unglaublich freundlichen Fahrer, so daß ich fast meinte, in eine dieser Sendungen mit versteckter Kamera geraten zu sein – nun hochfuhr in ein Tal, das wie ein breiter, langer, feuchtgrüner Faltenwurf der ganzen Landschaft eine klassische Eleganz verlieh. Und als wir nun das am Thiersee gelegene Vorderthiersee erreichten … Nun, der Busfahrer war mitnichten schuld, er hatte Vorfahrt, im Gegensatz zu dem geradezu blind eine Ausfahrt rückwärts verlassenden Fahrer mit Münchner Kennzeichen, der genau dieses Kennzeichen seitlich in den Bus schraubte. Bayern lag ja gleich um die Ecke, weshalb es kaum als eine Kollision zwischen einem einheimischen Bus und einem ausländischen PKW zu bezeichnen war, eher als ein Unfall unter Nachbarn. Ich war nicht gesessen, sondern neben meinem Koffer gestanden, hatte den Halt verloren und war ein Stück nach vorn geflogen, um aber von einer älteren Dame – nein, eigentlich war es eine wunderschön verwuzelte Greisin, die ihre Hand gleich einer Kelle ausgestreckt hatte – am Stürzen gehindert zu werden. Ich weiß, es hätte sich eigentlich umgekehrt gehört. Doch man kann sich das nicht immer aussuchen (es wird viel von Haiangriffen gesprochen, aber niemals davon, daß Haie Menschen retten, derartiges will man nur den Delphinen zugestehen; die Wahrheit würde uns verblüffen, schockieren und unsere Angst zunichte machen).
Faktum ist, daß es im Moment nicht weiterging und alle Gäste den Bus verlassen mußten. Aus der Ferne tönten bereits Sirenen. Der Busfahrer vergewisserte sich, daß niemand verletzt war. Und als gleich darauf Polizei und Rettung vorfuhren, wurde ein weiteres Mal die Unversehrtheit aller Beteiligten festgestellt. Weiter ging es trotzdem nicht, der Verkehr an dieser Stelle wurde für eine Weile zur toten Zone.
Weil der See in Sichtweite war, der Tag so heiß wie schön, eine Badehose in meinem Gepäck lagerte und ich unter allergrößten diätetischen Mühen im Frühjahr fünf Kilo ab- und eine halbwegs ansehnliche Badefigur angenommen hatte, begab ich mich mit Sack und Pack auf einem Weg hinunter zum See, wo ein kleines, gut besuchtes Strandbad lag. (Natürlich, es ist kein Verbrechen, auch mit etwas Übergewicht ins Wasser zu gehen, aber man sollte vielleicht bedenken, daß nicht nur gegenüber anderen Menschen so etwas wie eine Scham besteht, sondern auch gegenüber der Natur; wenn man sich manche Leute ansieht, wie sie in hautengen, in Giftfarben gehaltenen Radfahrertrikots die Berge hin-
auftreten, und wie da ihre Bäuche das Gewebe fast zum Zerreißen bringen und dabei im Takt wippen, und wie ihre breiten Schenkel feucht und fleischig glänzen, meint man, sie wollten genau diesen herrlichen Bergen ein ästhetisches Grauen entgegensetzen; die Erfindung des E-Bikes ist darum ein Verbrechen, weil es Leute auf ein Rad bringt, die auf diesem nichts verloren haben).
Es war herrlich, dieses Thierseewasser, nicht kalt, dennoch erfrischend, und ich war dankbar, im Zuge zweier „Unfälle“ an diesen Ort und in dieses Gewässer geraten zu sein. Das Geplärr der Kinder stand wie eine kleine Wolke über dem See und schattete die Geräusche der Natur ein.
Ich bewegte mich zügig ins Wasser und durchschwamm fast den gesamten See, kehrte wieder an den Strand zurück und setzte mich auf eine der Bänke, um meinen so mühevoll gebauten Körper im warmen Mittagslicht trocknen zu lassen.
Das Merkwürdige war, daß ich gleich im ersten Moment, als ich den See erblickt hatte, also noch vom Bus aus, mir dachte: „Den kenne ich doch.“ Den See, die sanft ihn umgebende Landschaft, das Schilf am Rande, den Blick hinauf zum Berg, welcher gegen das Inntal hin als ein hochgestreckter, sicherlich weit über tausend Meter hinausragender Daumen die Gegend mit dem Himmel verband. Und selbst noch das ausgelassene Kindergeschrei an genau diesem See weckte eine Erinnerung. – Klar, eine derartige Landschaftsbeschreibung war auf eine Vielzahl von Orten zu übertragen und das Geschnatter kleiner bis mittelgroßer Kinder im Bereich von Badeanstalten so wenig ein Alleinstellungsmerkmal wie hohe Berge in Gegenden ausgeprägter Faltenbildung. Und dennoch meinte ich, etwas wiederzuerkennen, auch wenn ich mit Sicherheit sagen konnte, niemals an diesem Ort gewesen zu sein, ihn auch nicht etwa schlafend durchfahren zu haben wie das gute Salzburg.
Neben mir auf der Bank saß ein älterer Herr in einem Bademantel und rauchte eine Zigarette. Bademantel wie Zigarette sahen aus, als stammten sie aus dem vorletzten Jahrhundert. Ich fragte ihn, ob er mir sagen könne, wie der Berg heiße, auf den wir da sahen. Er erklärte mir, er wohne drüben im Hotel, auf der anderen Uferseite. – Stimmt, das langgestreckte, massive Gebäude war mir natürlich aufgefallen, ein Bau wie aus einem James-Bond-Film, aber bereits nach erfolgter Explosion. Ja, dieses Luxushotel aus viel schickem Holz machte in der Entfernung auf mich einen postapokalyptischen Eindruck, allerdings war es nicht Teil meiner dubiosen Erinnerung. Es wirkte fremd auf mich. Ein Designer-Hotel mit orthopädischer Spezialklinik, wie mir der Bademantelträger jetzt erklärte. Dabei hatte ich ja nach dem Namen des Bergs gefragt.
Den erfuhr ich erst, als ich mir ein Mountainbike mietete, um eben genau jenen Berg hochzufahren: den Pendling, wie er heißt, in der Tat über 1500 Meter hoch und von dem jemand einmal gemeint hatte, er wirke wie ein „unbefahrbarer steiler Zahn“. Aha! – Wäre ich bloß um den See herumgefahren, ich hätte dank der Installationen entlang des sogenannten Themenwegs das Thema eben dieses Wegs erfahren und dabei rasch begriffen, warum mir dieser See auf eine verschwommene Weise vertraut war. Aber nein, ich mußte ja auf den Berg! Ich mußte unbedingt „körperlich“ werden und die mühsam steile Strecke bewältigen.

Es ist immer das gleiche, sobald ich einen Berg nach oben radle, fällt mir eine Fernseh-Episode meiner Kindheit ein, eine Episode der Wirklichkeit, als 1974 bei der Österreich-Radrundfahrt der Nationalheld und „Glocknerkönig“ Rudi Mitteregger bei der Abfahrt vom Gaberl-Paß, und zwar in Führung liegend, einen Defekt am hinteren Rad erlitt. Obwohl glücklicherweise ein Kamerateam in diesem Moment vor Ort war, um das Geschehen festzuhalten, fehlte jeglicher Service-Wagen, keiner nirgends, drei Minuten lang. Drei Minuten Ewigkeit.
So mußten wir also erleben, wie unser Rudi mit heiserer, wütender, kindhaft verzweifelter und von Tränen gleichsam punzierter Stimme rief und schrie und heulte: „Wo san denn de, sagst amal?! Jo des gibt’s jo net, heast! Jo san de deppert oder was, heast?! Jo wo san denn die Aff’n, heast?! Kruzifix noamal, heast!“*
Mitteregger war gezwungen – das luftleere Rad in der Hand –, zuzusehen, wie ein Konkurrent nach dem anderem an ihm vorbeifuhr. So verlor er die Etappe, gewann aber trotzdem die Rundfahrt. Doch es war dieser Moment tiefster Verzweiflung, der sich bei allen eingeprägt hat: ein ungemein sympathischer Zorn als unmittelbarer Ausdruck österreichischer Sportlichkeit. Eine zutiefst katholische Ausformung so gänzlicher wie leidenschaftlicher Hoffnungslosigkeit.
Jedenfalls mußte ich an diese Geschichte denken, als nach vielen Höhenmetern zwar mein Rad keinerlei Defekt aufwies, sich jedoch meine Beine so schlapp anfühlten, wie Mittereggers damaliger Radschlauch gewesen sein mußte.
Nachdem ich die Kreuzung Kaltwasser erreicht hatte, ging es endlich ein wenig bergab, dann aber gleich wieder steil bergauf zur Kala-Alm. Das war wirklich der Punkt, wo ich eine kleine Pause einlegen wollte. Der Punkt war eine Wirtschaft. Während ich inmitten der Menschenmassen eine kräftigende Kaspreßknödelsuppe zu mir nahm, blickte ich hinüber nach Hinterthiersee, dort, wo immerhin jenes Literaturhotel lag, dessentwegen ich überhaupt erst in Kufstein in den Bus gestiegen war (es erscheint mir mitunter als ein Muster in meinem Leben, auf der Suche nach bestimmten Orten an völlig andere zu geraten – und das ist sicher ein Aspekt, der mich zur Gläubigkeit verführt hat, denn wenn sich Gott im Leben der Menschen manifestiert, dann in den Fehlern, die sie begehen, darin besteht seine paradoxe Gnade).
Nach der Kala-Alm ging es vergleichsweise moderat hinauf zum Pendlinghaus, auch Kufsteiner Haus genannt, wohl, weil man von dort gar so einen guten Blick hinunter aufs Inntal und Kufstein hat – Kufstein, die Stadt, von der es in einem Lied heißt, sie sei die Perle Tirols, die aber aus dieser Höhe die Wirkung eines riesigen Geschirrtuchs besaß, über das jemand einen graugrünen Strich gezogen hatte.
Ich ließ mein Rad stehen und stellte mich eine Weile in den für eine solche Höhe ausgesprochen warmen Wind. Mir kam vor, meine Schweißperlen knistern zu hören. Wie bei so einer Luftpolsterfolie, wo nicht nur Kinder immer die Noppen eindrücken. Etwas abgekühlt ging ich zu Fuß Richtung des nahen Gipfelkreuzes.
Wege sind natürlich dafür gedacht, auf ihnen zu verbleiben. Aber was mich antrieb, war es nicht, eins der beiden Kreuze zu erreichen, sondern einen guten Blick hinunter auf den See zu finden, den Thiersee. Ich sagte es schon, ich besitze ein Händchen fürs Verirren. Und auch wenn ich im ersten Moment meinte, mich weiterhin auf einem Weg zu befinden, zumindest einem kleinen, einem Pfad, war dieser angebliche Pfad nach einiger Zeit vom Erdreich wie aufgesogen. Es war mir also gelungen, auf einem von Wanderern und Radfahrern geradezu gespickten Berg – als hätte der Berg Masern, Menschenmasern – quasi ins Leere, ins Menschenleere zu laufen. Keine Frage, ich hätte umkehren müssen. Es wurde jetzt wirklich steil und rutschig und zwischen meinen Lippen brach ein Mittereggersches „Kruzifix noamal!“ hervor. Aber ich bewegte mich weiter, gezwungenermaßen auf allen Vieren, verbissen wie alle, die nach vorne marschieren, weil sie hinter sich keinen Trost zu finden meinen. Und in der Tat …
Ich glitt ab, ein paar Meter nur, mich an einem Stamm festhaltend, gerade so, daß ich links von mir zwischen den Bäumen einen kleinen Felsvorsprung erkennen konnte. Darüber das Blau des Himmels gleich einem gedrückten Spitzbogen. Einem Bogen, der deutlich anwuchs, als ich jetzt auf gerader Linie näherrobbte und schließlich die winzige Kanzel erreichte, ein paar Quadratmeter, die aus der dichten Bewaldung herausragten und einen weiten Blick hinunter ins Tal und auf den See boten.
Wunderbar! Der See wirkte von hier oben sehr viel mächtiger, viel mehr die Landschaft bestimmend, als wenn man sich an seinem Ufer befand und eher den Berg als das dominante Element wahrnahm. Der Thiersee lag so glatt da, als könnte man darauf Schlittschuhfahren. Dahinter die Ortschaft, eine Anfügung von Häusern, die im Vergleich zur Geschirrtuchanmutung Kufsteins improvisiert anmutete. Eine Verklumpung hingewehter Blüten.
Ich hatte die Beine ausgestreckt, sodaß meine sonnenbeschienenen Füße ein Stück in der Luft hingen. Oberkörper und Kopf befanden sich im Schatten. Ich legte mich zurück, die gesamte Länge der ebenen Fläche ausfüllend, und schloß die Augen. Natürlich, ich war erschöpft und außerdem am Ziel, beziehungsweise hinter dem Ziel, dort, wo auch Olympiasieger mitunter zusammenbrechen. Ich spürte die Wärme von meinen Zehen aufwärts ziehen. Die Heizdecke des Schlafes machte ein Angebot. Ich nahm es an. Und zwar in einer Weise, als würde ich tief in den Berg rutschen, in sein Inneres hinein, nahe an Lunge oder Leber. Und verblieb dort eine ganze Weile, mich an die Innereien schmiegend.
Viel zu lange. Denn als ich erwachte, war die Dämmerung bereits in ihre letzte Phase eingetreten, von rechts strahlte noch ein rötlicher Schimmer, aber ich selbst befand mich in Schichten von Schwarz eingehüllt, konnte nur mehr schwer zwischen Baumstämmen und den Lücken zwischen ihnen unterscheiden. Ich hätte mich jetzt, wie man so sagt, in den Arsch beißen können, auf diese Weise verschlafen zu haben, an solcher Stelle. Gut, es war nicht Winter, es ging kein Sturm, es begann nicht zu regnen, der Himmel war klar. Freilich wurde es jetzt deutlich kühler. Immerhin, ich besaß die Jacke, auf der ich gelegen hatte und in die ich nun hineinschlüpfte.
Trotz meines Bedürfnisses nach Arschbeißerei spürte ich auch eine gewisse Zufriedenheit, im Zuge meines Bergschlafes in diese Situation geraten zu sein. Im Grunde war es ein Kindheitstraum. Eine Mischung aus Indianerromantik und einer biedermeierlichen Naturbetrachtung. Nämlich an solch exponierter Stelle, mit einem solchen Blick auf die Welt und den Himmel und die aufkeimenden Sterne in der Dunkelheit wie in einem Fernrohr zu sitzen. Und überlegte dabei gar nicht, irgend jemandem abzugehen, etwa dem Fahrradverleih. Oder dem aDLERS Hotel in Innsbruck, wo ich nicht wie angekündigt erschienen war. Oder den Leuten, die mich auf elektronischem Wege zu erreichen versuchten. Keine Frage, ich besaß ein Smartphone, es steckte gut und sicher und warm gepolstert in der Laptoptasche, die ich zusammen mit meinem Koffer bei dem freundlichen Herrn vom Fahrradverleih gelassen hatte. Ohnehin hätte ich von hier kaum einen Empfang gehabt, jedoch immerhin über eine Taschenlampe verfügt, dank derer ich hätte versuchen können, einen Rückweg zu beschreiten. So war es allein das Licht des Mondes, welches nach und nach dem Dunkel um mich einige Konturen verlieh. Die Schatten des Tages erschienen nun wie Gespenster ihrerselbst, als spielten sie Fasching und schwärmten für Gothic.
Und weil da oben die zu Dreiviertel volle Scheibe des Monds stand, spiegelte sie sich im See. Aus der Eisfläche war glatter Beton geworden. Mehr Rollschuh als Schlittschuh.
Es war in der Folge der Eindruck, die ganze Landschaft wie auf einem Schwarzweißfoto zu betrachten, der mir endlich bewußt machte, wo ich diesen See schon einmal gesehen hatte. Diesen See, auf den ich von meiner Kanzel schaute (ich glaube, der alte Spitzweg hätte eine Freude gehabt, mich in solcher Stellung zu malen).
Es war im Film gewesen. Einem frühen, schwarzweißen.
Im Film heißt dieser See nicht Thiersee, sondern Bühlsee, ein – wie der Sprecher einleitend berichtet – „kühler, freundlicher See“ (der im übrigen zu den wärmsten Tirols zählt). Der Erzähler ist niemand geringerer als Erich Kästner und der Film heißt Das doppelte Lottchen.
Ich hatte den Film immer gerne gehabt, sogar schon als Kind, auch wenn darin einzig und allein Mädchen eine Rolle spielen. Aber als Scheidungskind, das ich war – und das den Sinn der Scheidung als eine Bösartigkeit der menschlichen Natur empfand, und wie alle Natur eben auch überwindbar – war mir die humorige und gefinkelte Weise einer Elternwiedervereinigung durch das Zwillingspaar Lotte und Luise in höchstem Maße sympathisch gewesen. Wenngleich mir der Vater in dieser Geschichte zuwider war, ein eitler Komponist und Dirigent von größenwahnsinnig-karajanschem Duktus, der eigentlich viel besser zu seiner von Senta Wengraf mit grandios aufreizender Präpotenz gespielten Geliebten paßt. So unsympathisch wie mein eigener Vater. Aber als Kind wünscht man Versöhnung und Einheit, und eben die Überwindung der menschlichen Natur.
Nicht, daß ich irgendwann auf die Idee gekommen wäre, mich darum zu kümmern, welcher reale Ort hinter dem fiktiven Ort Seebühl und welcher reale See hinter dem fiktiven Bühlsee steht, obgleich ich gerade den Anfang von Geschichte und Film stets als besonders faszinierend empfand, wenn Kästner von seinem eigenen Manuskript hochsieht und den Zuseher anblickt und fragt: „Kennen Sie eigentlich Seebühl, das Gebirgsdorf Seebühl? Nein? Seebühl am Bühlsee, wirklich nicht? Sonderbar, höchst sonderbar, wen man auch fragt, keiner kennt Seebühl. Womöglich gehört Seebühl am Bühlsee zu den merkwürdigen Ortschaften, die ausgerechnet nur jene Leute kennen, die man nicht fragt. Wundern würde es mich nicht. So etwas gibt’s.“
Ja, sowas gibt’s. Und das gibt’s eben auch, nämlich an einen Ort zu geraten, der einem sogleich vertraut scheint, man dann aber einen verdammten Berg hochradeln muß, um zu begreifen, daß die Erinnerung aus einem Film stammt – vergleichbar jenen Replikanten aus Blade Runner, die Fotos aus ihrer Kindheit mit sich tragen, einer Kindheit, die sie nie erlebt haben und die dennoch Teil ihres Bewusstseins ist, vor allem aber Ausdruck einer wehmütigen Stimmung, die zu empfinden es nicht der Fähigkeit bedarf, echte Tränen zu vergießen. Manchmal sind theoretische Tränen echter als echte.
Ich konnte das jetzt noch nicht wissen, würde aber später erfahren, daß die Gemeinde Thiersee in der Nachkriegszeit Ort zahlreicher Verfilmungen geworden war, eben nicht nur von Kästners doppeltem Lottchen, sondern etwa auch von der 1949 gedrehten Beethovenverfilmung Eroica mit Ewald Balser und Oskar Werner, oder von Blaubart mit Hans Albers und Nacht am Mont Blanc (auch Fegefeuer der Liebe genannt) mit Dietmar Schönherr – ja, genau der Mann, der uns mit einer Familienshow Ende der Sechzigerjahre die Möglichkeit gab, durch das Einschalten von Elektrogeräten (später dann durch das Ausschalten derselben) oder mittels Betätigung der Klospülung den Sieger zu ermitteln und uns auf diese Weise das Gefühl zu vermitteln, direkte Demokratie zu leben (man mag sich aber nicht vorstellen, wofür und für wen und wogegen sich die Österreicher heutzutage entscheiden würden, könnten sie die Abstimmung über ihre Toilettenanlagen bewerkstelligen).
Doch wie gesagt, es war mir im Moment nicht bewußt, daß die Gemeinde Thiersee einstmals der wichtigste Ort des österreichischen Films gewesen war und man zu dieser Zeit das nahe dem Ufer stehende Passionsspielhaus in ein Filmstudio verwandelt hatte. Ein Haus, das noch immer stand – ich konnte es ja sehen, den schwarzen Brocken – und das zwischenzeitlich wieder dazu diente, alle sechs Jahre die Passion Christi auf die Bühne zu bringen (es bedeutet eine unheimliche Stimmigkeit, daß dieses Gebäude während des Kriegs als Gefangenenlager diente, bevor die SS in Vorbereitung auf die geplante sogenannte Alpenfestung hier ein Materiallager anlegte).
Ich aber dachte, unbehelligt von diesem Wissen, an Kästners doppeltes Lottchen, an die beiden Mädchen, die ihre Rollen vertauschen, wie die Münchnerin nach Wien geht, die Wienerin nach München, wie das brave, sorgsame, ordentliche Kind die Postion des wilden, ungestümen einnimmt und umgekehrt. Und wie sich hier aus der Komödie des Vertauschens wie auch aus der Dramatik der Krankheit (das hohe Fieber eines der Mädchen, ein Fieber als Ausdruck der Verzweiflung, welches die Eltern gemeinsam ans Krankenbett zwingt) eine Utopie der Versöhnung entwickelt. Kästners Geschichte ist ein Märchen, in dem die Wahrheit eines Wunsches feste Form erlangt.
Ich hätte – an diese Geschichte, diese Utopie denkend, vor mir das Land in silbrigem Schein, die Sterne von geradezu zählbarer Klarheit –, die ganze Nacht zubringen können. Aber es gibt auch Leute, die mitdenken. Vor allem der Mann, der mir das Mountainbike vermietet hatte und der sich nicht mit dem Gedanken zufrieden gab, ich könnte es erst einen Tag später als vereinbart zurückbringen. Die Bergrettung war alarmiert worden. Gut möglich, daß man das verwaiste Rad entdeckt hatte. Bald vernahm ich die Rufe der Helfer. Ich schwieg eine Weile, derart war nun die Scham in mir. Was sollte ich denen erzählen? Einen besonders schönen Blick auf den See gesucht zu haben? Mondsüchtig zu sein? Schlafsüchtig dazu? Aber es ging natürlich nicht an, daß diese Leute mitten in der Nacht ihr eigenes Leben für ein fremdes aufs Spiel setzten, und ich mich dann taub und stumm stellte. Ich mich vor den Rettern versteckte, um mich nicht genieren zu müssen.
„Hier!“ rief ich.
Sie fanden mich, bargen mich, brachten mich zurück. Zack, zack. Ungemein professionell. Man war froh, daß ich ohne einen Kratzer war. Bei der Fahrt hinunter konnte ich nicht an mich halten und fragte einen der Helfer, ob es sich bei diesem See tatsächlich um jenen bekannten Bühlsee handeln würde.
„Bühlsee?“
Stimmt, es war ein junger Mann, der wahrscheinlich den Film gar nicht kannte, ich hätte anders fragen müssen. Doch ich sagte ausweichend: „Ach wissen Sie, ein See aus meiner Kindheit, der diesem sehr ähnlich sieht.“
„Ach ja“, meinte er und sah mich so an, wie man Leute aus der Stadt ansieht, die dort, in der Stadt, ein wenig komisch geworden sind.

*

Ich weiß, es hat mit dieser Geschichte nichts zu tun, aber ich möchte doch noch erwähnt haben, daß Rudolf Mitteregger, der Held von 1974, heute als Pensionist in seiner Heimatgemeinde lebt, und zwar an einem Ort, der den Namen „Rudolf-Mitteregger-Siedlung“ trägt. Das ist etwas, was ich wirklich jedem Menschen vergönnen würde, letztlich an einem Platz zur Ruhe zu kommen, der wie man selbst heißt.

*    „Ein tieferes Wort als Affen, wie oft vermutet, ist nie gefallen“, erklärt Sigi Lützow in seinem Artikel in der Zeitung Der Standard mit dem Titel Als der König die Contenance verlor (April 2012). Doch darüber kann man streiten, immerhin spricht Mitteregger am Ende seiner Wutrede auch von „Trotteln“, was man durchaus als tieferstehend empfinden kann als die Existenz von Affen. Vor allem jedoch wird allgemein darauf verzichtet, Mittereggers Kruzifix-noamal!-Ausspruch zu zitieren, bei dem der Rudi wie ein Kind aufstampft. Auch die betreffende Wikipedia-Seite läßt dies unerwähnt. Dort ist allein von „Aff’n“ und „deppat“ die Rede. – Übrigens kann man sich diese Szene als historisches Dokument auf youtube ansehen, und weil die Kombination „steirisch“ und „verzweifelt“ eine schwer verständliche Kombination ist und es mir unmöglich war, herauszuhören, was genau Mitteregger sagt, als er von den „Trotteln“ spricht (und auch die Macher der Dokumentation bleiben ausgerechnet diese Stelle bei den eingeblendeten Untertiteln schuldig), habe ich unter Auslobung einer Flasche Zirbenschnaps mehrere Personen, die des steirischen Idioms mächtig sind, um Vorschläge gebeten. Und möchte auch die Leser dieses Textes darum ersuchen, Interpretationen zu liefern (siehe Österreichrundfahrt 1974 – Rudolf Mitteregger, auf youtube, ab 0:32). Die bisher überzeugendste „Übersetzung“, die mir angeboten wurde, lautet: „De Trottln kennt ma beagln, heast!“, wobei unsicher bleibt, ob hier von „bügeln“ oder „prügeln“ die Rede ist.

 

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