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Fließtext*
Von Hans Magnus Enzensberger

Die Kunst, sich unbeliebt zu machen

Der eine: Das ist doch ganz einfach. Du brauchst den Leuten nur zu schmeicheln und ihnen alles in Aussicht zu stellen, was sie hören möchten, ohne einen Gedanken daran zu verwenden, wie das Versprechen einzulösen wäre. Wenn ihnen das endlich klar wird, sind sie wütend.
Der andere: Schon, aber dann ist es zu spät. Wer hofft, die Abneigung, den Hass und die Verachtung seiner Mitmenschen auf sich zu ziehen, will sein Ziel sofort erreichen. Aber bald wird er feststellen, dass die Konkurrenz nicht schläft. Jeder, der sich einbildet, als Einziger in einem solchen Wettbewerb bestehen zu können, gibt sich einer Illusion hin.
Der eine: Mein Lieber, es reicht nicht aus, dass man alle andern täuscht. Ohne Selbsttäuschung ist noch kein Machthaber ausgekommen. In der Beschränktheit zeigt sich erst der Meister. Wenn ein Führer nicht an seine Unersetzlichkeit glaubt, hat er keine Chance. Duce, Comandante en Jefe, Präsident, Vater des Volkes, Sonne des Sozialismus, Conductor, ganz egal, jeder ist der Überzeugung, dass es ohne ihn nicht geht.
Der andere: Aber jeder von diesen Typen unterliegt einem Irrtum, wenn er sich einbildet, die Menschheit wäre auf ihrer Suche nach dem größeren Übel auf ihn angewiesen.
Der eine: Du meinst also, je dreister, plötzlicher und brutaler ein Anführer vorgeht, desto mehr Anhänger wird er um sich scharen?
Der andere: Das ist keine bloße Vermutung. Warum sonst scharren überall so viele Kandidaten mit den Füßen, um die Goldmedaille der Unbeliebtheit zu erringen? Sie können es gar nicht erwarten.
Der eine: Es muss ja nicht gleich eine Weltmeisterschaft oder eine Olympiade sein. Es gibt doch auch die zweite und die dritte Liga. Ich kenne mich im Sport nicht aus, aber ich habe mir sagen lassen, dass manchmal ein Lokalderby wütender ausgetragen wird als ein Finale mit Milliarden von Fernsehzuschauern.
Der andere: Das stimmt. Manche von ihnen gehen in Gegenden ans Werk, die mit dem Finger auf der Weltkarte schwer zu finden sind. Wer von uns könnte sich die Namen der jeweiligen Häuptlinge, Warlords, Chefs der einschlägigen Milizen, Aufständischen, Befreiungsfronten und Drogenkartelle merken?
Der eine: Das ist uns wirklich nicht zuzumuten. Über die feinen Unterschiede zwischen den Zuständen in Tadschikistan, Baschkirien und Nordossetien wissen nicht einmal die Geheimdienste wirklich Bescheid.
Der andere: Das sind arme Teufel. Sie ersticken in dem Morast von Daten, die sie überall einsammeln.
Der eine: Auch unsere Unterhaltung wird abgehört.
Der andere: Das macht nichts! Zum Glück sind wir unwichtig. Aus dem, was wir uns ausdenken, geht nichts Interessantes hervor. Wir posten, chatten, twittern und skypen nicht.
Der eine: Wir haben keine Ahnung, wer gerade in Somalia, Haiti, Nagorny Karabach, in Burundi, im Südsudan, im Osten des Kongo, in dieser oder jener Region des Jemen, Syriens oder Afghanistans das Sagen hat.
Der andere: Besser sieht es für unsereinen in vertrauteren, von Kameras ausgeleuchteten Umgebungen aus. Über die regierende Junta in Venezuela sind wir gut unterrichtet.
Der eine: Aber wer weiß, wie es ihr gelungen ist, eines der ölreichsten Länder der Welt so gründlich herunterzuwirtschaften, dass es schon organisierte Schlägertrupps braucht, um die Leute in Schach zu halten und das Recht auf Plünderung denen einzuräumen, die der Junta in den Sattel geholfen haben.
Der andere: Das ist mir immer noch viel zu weit weg! Wir sollten uns auf die Nachbarschaft konzentrieren. Der ungarische Präsident, ich habe leider seinen Vornamen vergessen, tut doch, was er kann, um Abneigung wie mit einem Brennglas auf sein Haupt zu lenken. Auch unsere polnischen Freunde, die Brüssel mit Milliardengaben und Schutz vor einem bösen Nachbarn im Osten verwöhnt hat, verfolgen ihre Gönner mit erbitterter Miene und mit Drohungen. Und dann ist da noch einer, dem der Größenwahn auf die Stirn geschrieben ist. Er möchte nicht nur das osmanische Reich wiederherstellen, sondern auch Europa und Zentralasien eingemeinden, und für diese Aufgabe steht nur ein einziger Mensch zur Verfügung, der mit E. anfängt.
Der eine: Vielleicht sagt dir ein anderer Name etwas.
Der andere: Wen meinst du?
Der eine: Étienne de La Boétie.
Der andere: Kenne ich nicht.
Der eine: Weil er weder berühmt noch berüchtigt genug ist. Ein Freund von Montaigne. Sein einziges Werk ist sehr zu empfehlen. Es heißt: Von der freiwilligen Knechtschaft. Darin findest du eine Erklärung, warum die Herren auf unserer Liste – es sind ja meistens Herren und nur selten kann eine Dame mit ihnen wetteifern –, warum es ihnen gelingt, Abermillionen von Anhängern und Wählern unter ihren Fahnen zu versammeln.
Der andere: Da bin ich gespannt.
Der eine: „Die Völker sind es selbst, die sich quälen lassen, oder vielmehr, die sich selber quälen, denn würden sie Schluss machen mit dem Dienen, so wären sie frei davon. Das Volk unterwirft sich selbst und schneidet sich die Kehle durch, und bei der Wahl, Sklave zu sein oder frei, gibt es seine Unabhängigkeit auf und beugt sich unter das Joch, es willigt in sein Elend ein und jagt ihm vielmehr nach. (…) Kein Vogel geht so schnell auf die Leimrute, und kein Fisch lässt sich durch einen Wurm so rasch an die Angel ködern, wie sich ein Volk in die Knechtschaft locken lässt.“
Der andere: Hast du diese Zeilen auswendig gelernt?
Der eine: An diese vergessenen Lehren zu erinnern, kann nie schaden. Ich habe den Eindruck, dass sie heute dringender gebraucht werden als zuvor.
Der andere: Weil die Beliebtheit der Unbeliebten einen Grad erreicht hat, der mich erschreckt. Und dabei denke ich nicht an die lokalen und regionalen Anstifter.
Der eine: Nicht an die Marionetten, sondern an die Herrscher Chinas, der Vereinigten Staaten und Russlands. Die legen sich alle schwer ins Zeug. Der Amerikaner bemüht sich ernsthaft, nicht nur viele seiner Landsleute, sondern auch alle seine Verbündeten vor den Kopf zu stoßen. Die Chinesen annoncieren ihre Pläne für die Weltherrschaft und verlangen Zustimmung und Gehorsam. Der russische Zar, ein erfahrener Mann, der beim KGB gelernt hat, verlegt sich auf Drohungen und militärische Mittel. Alle rüsten auf. Niemand liebt sie, nur im Volk haben sie eifrige Anhänger.
Der andere: So weit geht alles seinen normalen Gang. Nur ein paar Kleinigkeiten stören das Bild. Unruhestifter und Querulanten erheben ihre Häupter. Man nennt das mit einem altmodischen und gebildeten Ausdruck Polarisierung. Auch die Risikoscheuen haben Zulauf. Sie schwärmen für den Frieden.
Der eine: „Mögen sie uns hassen, wenn sie uns nur fürchten“, bei dieser klassischen Maxime der Politik wird ihnen mulmig zumute.
Der andere: Man kann ihrem Mangel an Begeisterung natürlich mit den üblichen Mitteln der Repression und der Propaganda begegnen.
Der eine: Aber wie weit trägt das? In manchen Ländern gibt es Vorstellungen und Vorlieben, die tief verwurzelt sind. Dort hängen viele an Gewohnheiten, die ihnen schwer auszutreiben sind. Sie mögen den Rechtsstaat, ihre Verfassung und ihre Zivilisation.
Der andere: Solchen Menschen fehlt jedes Verständnis für den Größenwahn ihrer Anführer. Schon A. Hitler und J. Stalin hatten viel zu leiden unter dem Undank ihrer Völker. Sie waren enttäuscht. Es gab Momente, in denen sie am Erreichen ihrer Ziele irre wurden und an ihrer Kunst zweifelten, Hass, Verachtung und Feindseligkeit zu säen und zu ernten.

— * Text, der in einem Stück und ohne Unterbrechungen durch Absätze, Überschriften, Abbildungen, Fußnoten u. Ä. gesetzt wird.
— Aufforderung, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen und dabei nicht zurückzuschauen; freihändig draufloszulegen, ohne zu korrigieren; die Buchstaben zu Papier zu bringen und bedenkenlos aus der Hand zu geben.

 

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