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Was man leider nur auf dem Lande findet

Egon Friedell, Kabarettist, Schauspieler, Kritiker, Schriftsteller, Kulturphilosoph, Hundefreund und Lebemann, verschlug es in den 1930er Jahren sommers nach Kufstein. Sein idyllisch gelegenes Landhaus wurde ihm, dem Stadtmenschen, zum Refugium. Von Susanne Gurschler

Der letzte Auftritt war kurz und dramatisch. Egon Friedell, der sich schon für die Nachtruhe zurechtgemacht hatte, sah die zwei SA-Männer, die am Eingang zur Wohnung standen und nach dem „Jud Friedell“ gefragt hatten. Er ging zum Fenster, öffnete es, hievte seinen massigen Körper auf das Fensterbrett und sprang. Er soll, so erzählte eine Nachbarin, die den Sturz beobachtet hatte, einem vorbeikommenden Passanten noch höflich zugerufen haben, zur Seite zu treten. Dann habe er sich kopfüber fallen lassen.
Freunde und Wegbegleiter wie die Autoren Franz Theodor Csokor und Alfred Polgar oder die Mäzenin und Journalistin Berta Zuckerkandl hatten ihn in den Tagen vor seinem Sprung in den Tod noch gebeten, ja gedrängt, das Land zu verlassen. Doch Friedell wollte nicht. Er konnte nicht. Er konnte seine riesige Bibliothek, seine Bücher voller Marginalien in kleiner, enger Schrift, voller Markierungen und Querverweise, nicht zurücklassen – sein ganzer Geist, das Surrogat seiner Beschäftigung mit Geschichte, mit Philosophie, mit Physik, mit Kunst und Kultur, sein ganzes denkendes Ich fand sich in der Gentzgasse 7. Alles, was er war.
In einem anderen Land wäre er doch nur ein „Schnorrer“, eine „lächerliche Figur“, sagte er wenige Tage vor seinem Selbstmord zum Schriftsteller Carl Zuckmayer. Friedell ging es nicht ums Überleben, es ging ihm um ein Leben zu seinen Bedingungen.
Und er war noch voller Pläne gewesen. In Kufstein, wo er seit 1932 die Sommermonate verbrachte, hatte er den zweiten Band seiner „Kulturgeschichte des Altertums“ bis auf das letzte Kapitel abgeschlossen. Danach wollte er eine Geschichte der Philosophie schreiben und einen „Alexanderroman“. „Man sollte überhaupt nur Sachen machen, die sich ganz von selbst schreiben, wie nach Diktat. Deshalb wird die Geschichte der Philosophie gut werden, der Alexanderroman hingegen schlecht, weil er mir Mühe machen wird“, schrieb er Ende September 1937 an die Schauspielerin Lina Loos. Für die Geschichte der Philosophie hatte er sich schon Notizen gemacht, das Exposé zum Alexanderroman war bereits angelegt; 500 Seiten stark sollte er werden, 300 Personen auftreten.
Heute erinnert in Kufstein nur noch wenig an ihn: ein kurzer Weg im Stadtteil Zell, eine Büste im dritten Stock des Rathauses, im Stadtarchiv ein Ordner mit Unterlagen und Tonaufzeichnungen, die der Autor und Regisseur Klaus Peter Dencker in den 1970er Jahren für ein Filmporträt und ein Buch über Friedell gesammelt hat, und das Häuschen, in dem Friedell wohnte. Nichts, was einem die Person Friedell näherbrächte oder sein Verhältnis zu Kufstein erklärte.

Hätte Egon Friedell sich seinen letzten Auftritt aussuchen können, die Wahl wäre wohl auf Goethe gefallen. 30 Jahre hindurch verkörperte er immer wieder diese Figur in der gleichnamigen „Groteske in zwei Bildern“, verfasst gemeinsam mit Alfred Polgar, mit dem er über lange Zeit ein kongeniales Autorenduo bildete, Kabarett- und Bühnentexte schrieb und bearbeitete, bevor er ihn Mitte der 1920er Jahre durch Hanns Sassmann ersetzte. Sassmann war kein so hervorragender Autor wie Polgar, aber er hatte ein gutes Gespür dafür, was ankommt – die sprachliche Prägnanz, die pfiffigen Wendungen steuerte ohnehin Friedell bei.
Erstmals als Goethe auf der Bühne stand Friedell in der Silvesternacht 1907/08 im Wiener Kabarett „Fledermaus“. Der Inhalt des Sketches ist rasch erzählt: Ein etwas verhuschter Prüfungskandidat schafft es nicht, sich die vielen Daten aus Leben und Werk von Goethe zu merken. Da erscheint ihm dieser selbst und bietet an, das Examen für den Schüler zu bestreiten – aber siehe da, Goethe versagt bei konkreten Angaben zu seiner eigenen Biografie und fällt durch.
Es muss Friedell in jungen Jahren ein großer Spaß gewesen sein, in dieser Parodie auf reines Faktenwissen als Deutschlands bedeutendster Dichter auf der Bühne zu stehen und den Ansprüchen des Professors nicht zu genügen. Immerhin brauchte er selbst vier Anläufe, um die Reifeprüfung zu schaffen, war bereits 21 Jahre alt, als es ihm gelang. Das Studium der Philosophie und Germanistik verlief dafür ohne Probleme und er dissertierte über Novalis als Philosoph.
Er galt als hinreißender Unterhalter, auf der Bühne und im Privaten. Seine Darbietungen und Vorträge gestaltete er als eine Mischung aus „erlesener Geistigkeit, profundem Wissen und raffinierter Schauspielkunst“, wie es in einer zeitgenössischen Kritik heißt. Die Auftritte waren so angelegt, als spräche Friedell in intimem Rahmen, plaudere mit Freunden im Kaffeehaus.
Die Lokaltouren mit Peter Altenberg, Adolf Loos, Alfred Polgar und anderen Freunden sind legendär und anekdotenreich; sie brachten Friedell den Ruf ein, ein Kaffeehausliterat zu sein, ein „Bonvivant“, ein Müßiggänger. Als Kabarettist füllte er Säle bald nicht mehr nur in Wien, sondern ebenso in Frankfurt, Hamburg oder Berlin. In Berlin holte ihn Max Reinhardt als Untersuchungsrichter in Tolstois „Der lebende Leichnam“ auf die Bühne, dann als Kaiser in George Bernard Shaws „Androklus und der Löwe“. Friedells zweite Karriere als Schauspieler nahm ihren Lauf. Später wurde er Mitglied der Wiener Volksbühne, schließlich nahm ihn Reinhardt in sein Ensemble auf.
Früh begann Friedell, Artikel für Zeitungen zu schreiben, es folgten Essays und Satiren etwa für das „Neue Wiener Journal“, für das er bis zu seinem Lebensende arbeitete. Und er war als Autor tätig. Nach seiner Dissertation über Novalis, die nicht unter seinem Geburtsnamen Friedmann, sondern seinem Künstlernamen Friedell erschien, veröffentlichte er weitere Bücher, darunter „Ecce Poeta“ anlässlich des 50. Geburtstags seines Freundes Altenberg, dem er in seinen – frei erfundenen – „Altenberg-Anekdoten“ bereits ein humorig-bissiges Denkmal gesetzt hatte.

Wie turbulent es in seinem Leben auch zuging, Friedells Anker waren stets die Wohnung in der Gentzgasse 7, die er, kaum volljährig, mit dem vom Vater geerbten Geld gekauft hatte – und seine Haushälterinnen. Marie Gabriel war ihm nach der Trennung der Eltern und dem frühen Tod des Vaters Mutterersatz geworden; in der Gentzgasse unterstützte sie bald Hermine Schimann, die bis zu seinem Tod den Haushalt führte und die er testamentarisch zu seiner Erbin machte.
Die Bedeutung Schimanns für Friedell zeigt sich nicht zuletzt darin, dass er gern in die Küche kam, um ihr einen neuen Text vorzulesen. Er nannte das, wenig schmeichelhaft, die „Trottelprobe“. „Frau Hermine“ störte sich nicht daran. Auch die Gerüchte, er sei der Vater ihrer Tochter Herma, kümmerten sie wenig. Bis ans Lebensende waren die beiden per Sie.
Das Arbeitszimmer mit angrenzender Bibliothek war Friedells intellektuelles Refugium und eine von der unnachgiebigen Hermine energisch verteidigte Bastion, wenn er nicht gestört werden wollte – und das war, will man den Überlieferungen glauben, häufig der Fall. Eine Tafel über der Sitzecke in der Schreibstube warnte Besucher zudem unmissverständlich: „Selbst die Aufforderung, noch zu bleiben, darf man nicht immer ernst nehmen. AUCH SIE sind keine Ausnahme!“
War Friedell auf der Bühne ein gefürchteter Improvisateur, in seiner Schreibstube herrschten peinliche Ordnung und Ruhe. Alles hatte seinen Platz, das Schreibpapier ebenso wie die Bleistifte. Hermine spitzte sie täglich und legte sie in der vorgegebenen Reihenfolge auf die Ablage, so dass Friedell, ohne hinsehen zu müssen, den richtigen Stift in die Hand nahm. Für Besucher lagen eigenes Papier und eigene Stifte bereit – und wehe, sie vergriffen sich.
Schwer in Einklang zu bringen war er, dieser häusliche Friedell mit jenem öffentlichen Friedell, der in Gesellschaft brillierte mit seiner Eloquenz, seinen spritzigen Anekdoten und bissigen Kommentaren, der gern und üppig dem Alkohol zusprach, ganze Nächte durchzechen konnte und trotzdem in aller Frühe wieder auf den Beinen war. Hatte er die Korrespondenz gelesen, die wichtigen Briefe beantwortet, griff er zur Pfeife und legte sich auf den Diwan, der beim Schreibtisch stand. Beim Schreiben hielt er es mit den Menschen der Antike: Die wichtigen Dinge geschahen im Liegen. Dieser Zustand erzeuge „Milde, Objektivität, Gleichgewicht und Überlegenheit“, befand Friedell. Liegend verfasste er den Großteil seines bekanntesten Werkes, die „Kulturgeschichte der Neuzeit. Die Krisis der europäischen Seele von der Schwarzen Pest bis zum Ersten Weltkrieg“, mit dem er 1922 begann – und das ihn als Kulturwissenschafter und -philosoph etablieren sollte.
Ein trockenes Geschichtswerk hätte Friedell nicht entsprochen, ihm schwebte vor, Geschichte an Anekdoten aufzufädeln. Geschichte war ihm kein „Aschehaufen für Historiker“, vielmehr ein „dramatisches Problem“, das, in logischer Folge, einer dramatischen Bearbeitung bedurfte. Friedell war überzeugt, Details könnten Ereignisse viel einprägsamer charakterisieren als die ausführlichste Schilderung.
Bei allem Ernst, den Friedell dem behandelten Gegenstand entgegenbrachte, verpacken wollte er ihn ansprechend und literarisch – „schwere Materie mit sehr leichter Hand geformt“, wie Polgar 1938 anerkennend konstatierte. Frühere Arbeiten und Essays dienten Friedell als Material für die Kulturgeschichte der Neuzeit – in einer Art Modultechnik verwob er sie elegant mit neuen Texten zu einem großen dreibändigen Werk.

1925 sollte der erste Band im Berliner Ullstein Verlag erscheinen, doch der Verleger verzögerte die Auslieferung, zu riskant schien es ihm plötzlich, ein kulturhistorisches Buch aus der Feder eines „Kabarettiers“ zu veröffentlichen, und dazu noch ohne Bilder, wie Friedell gefordert hatte. Nach mehreren Anläufen gelang es Friedell schließlich, im Münchner Verleger Heinrich Beck den Richtigen für sein Werk zu begeistern. Ob sich die Verantwortlichen im Ullstein Verlag später wohl in jene Hand bissen, mit der sie Friedells Drängen abschlägig beantwortet hatten? Nun, Beck durfte jubeln. Mit Friedell holte er sich neben Oswald Spengler, dem Verfasser von „Der Untergang des Abendlandes“, und dem Arzt Albert Schweitzer einen weiteren Bestsellerautor ins Haus.
Schon der erste Band, er umfasste neben der Einleitung die Zeiträume Renaissance und Reformation und erschien 1927, machte Friedell zu einem berühmten Mann. Im Sommer 1928 folgte der zweite (Barock und Rokoko, Aufklärung und Revolution), der dritte (Romantik und Liberalismus, Imperialismus und Impressionismus, Epilog: „Sturz der Wirklichkeit“) 1931.
Die Fachwelt mag die Nase gerümpft haben. Friedell erwies sich einmal mehr als „genialer Dilettant“ und servierte die große philosophische Gedankenwelt eines Kant in ebenso appetitlichen Häppchen wie das Alltagsleben unterschiedlicher Kulturen.
Einiges von dem, was Friedell ausgewählt und geschildert hat, mag überholt sein, einige seiner Einschätzungen muten heute befremdlich an, Antisemitismus schimmert durch, seine Deutschtümelei irritiert. Die Sprache Friedells aber entfaltet bereits mit der ersten Seite eine Sogwirkung, der man sich nicht entziehen kann – und will. Im Schnitt zwei Jahre brauchte Friedell für einen Band, parallel stand er auf der Bühne, in Wien und Berlin, bearbeitete Texte für Max Reinhardt. Anfang der 1930er Jahre machte ihm sein Körper zu schaffen, zunächst eine Venenentzündung, dann eine Blinddarmoperation. Wohl ein Grund, warum Friedell sich immer stärker dem Schreiben zuwandte, ein anderer, dass die politischen Verhältnisse in Deutschland sich wandelten und es dort für jüdische Künstler immer schwieriger wurde. Jedenfalls arbeitete Friedell schon an einer Kulturgeschichte des Altertums und das Bedürfnis, sich mehr der Schriftstellerei zu widmen, wurde stärker.

Da kam es gerade recht, dass bei einem weinseligen Abend mit Sassmann und dem Münchner Schauspieler Gustav Waldau die Idee entstand, eine Künstlerkolonie zu gründen. Wie die drei auf Kufstein kamen, ist nicht ganz klar. Denn einmal heißt es, Waldau habe dort ein Grundstück besessen, ein anderes Mal, sie wären bei der Suche nach einem geeigneten in Kufstein fündig geworden. Eine dritte Variante besagt, ein Münchner Adeliger, der in Wien weilte, habe ihnen das Grundstück in Kufstein zum Kauf angeboten und die drei hätten zugeschlagen. Wie auch immer: Friedell war es ernst mit der Sache, und das, obwohl er Veränderungen grundsätzlich scheute. Andererseits hatten ihm Bühnenengagements und die Kulturgeschichte ein kleines Vermögen eingebracht und er wollte es sicher anlegen.
Erstaunen muss die Wahl des erklärten Stadtmenschen trotzdem: Denn das Grundstück lag nicht im Stadtzentrum von Kufstein, sondern an einem Hügel neben der Straße nach Thiersee, im zur Stadt gehörigen Dörfchen Morsbach. Anfang der 1930er Jahre war hier, salopp ausgedrückt, Pampa – mit einer Aussicht „wie in einem erstklassigen Lubitschfilm“, wie Friedell meinte.

Heute findet sich am Hippbichl eine kleine Siedlung. Die Nordseite der Festung ist von hier aus zu sehen, das Kaisergebirge, Kufsteins Hausberg, der Pendling, die Brandenberger, die Zillertaler Alpen, die Wiesen und Felder des bäuerlich geprägten Morsbach.
Am Hippbichl also errichtete er seine Sommerresidenz, ein schlichtes Gebäude im Landhausstil, teilweise mit dunkel gebeiztem Holz verkleidet, mit Balkon, Terrasse und großzügigem Garten. Bis dahin war Friedell weder durch besondere Reisefreudigkeit aufgefallen noch durch besondere Liebe für Natur und Landschaft. Vielmehr sorgten Ortswechsel stets für Unbehagen bei Friedell und Aufregung im Haus.
Aufenthalte etwa am Grundlsee waren stets der Tatsache geschuldet gewesen, dass, wer es sich leisten konnte, sommers der brütenden Hitze Wiens entfloh und sich gleich ein paar Freunde dorthin einlud. Friedells geistiger Horizont mag groß gewesen sein, sein real geografischer war es nicht: Zwei Mal soll er nach Ägypten gereist und beide Male enttäuscht zurückgekehrt sein. Die Wirklichkeit dort war ihm, im Vergleich zur großen Geschichte des Landes, schnöde erschienen. Von anderen längeren Aufenthalten andernorts – außer zu Arbeitszwecken – ist nichts bekannt.
Am 18. August 1932, dem Geburtstag des Kaisers, wie Friedell notierte, bezog er sein neues Domizil. Die folgenden Jahre verbrachte er, je nach Witterungsverhältnissen, vom Frühsommer bis zum Herbst in Kufstein. Für seine Bücher ließ er eine eigene Transportkiste anfertigen, in die er diese systematisch einordnete.
Während Friedell schon emsig im Garten werkte, stand auf Sassmanns Grundstück lange nur eine Bank. Ein Umstand, der Friedell dazu veranlasste, dem Freund und Kollegen mit Klage zu drohen, wenn er nicht Ernst machte mit seinen Bauplänen in Kufstein. Bald sollte Friedell die ruhigen Sommertage vermissen, denn er wurde von ungebetenen Gästen geradezu überrannt, wie er meinte. Jedenfalls sah er sich veranlasst, Hermine ein „Rundschreiben an gefürchtete Gäste“ zu diktieren, in dem sie diesen mitteilte, der Doktor sei genötigt, einige Tage in München zu verbringen und sie werde ihm bald folgen. Kurzum: In Kufstein weile niemand, es lohne sich nicht, zu kommen. Eine Botschaft ganz nach dem Geschmack des Humoristen und Spötters Friedell.

Ob er tatsächlich einer Kuh beim Kalben geholfen hat, wie er in einem Brief schreibt? Möglich wäre es. Er war ein kräftiger Mann und konnte zupacken. Gut möglich aber, dass es sich um eine seiner Selbstinszenierungen handelte, für die er bekannt war. Das Landleben erwies sich jedenfalls auch in schriftstellerischer Hinsicht als sehr produktiv. „Ich stehe um 5 Uhr auf, um den Abendfrieden abzukürzen. Arbeiten kann man hier sehr gut“, schrieb er an Sassmann.
Wobei er den alten Gewohnheiten, übermäßiges Pfeiferauchen, hoher Alkoholkonsum und liegend schreiben, weiterhin frönte. Bei schönem Wetter arbeitete er auf der Terrasse an seiner „Kulturgeschichte des Altertums“. Sie schreibe sich faktisch von alleine, ließ Friedell Lina Loos wissen, für die er das Gästezimmer in ihrer Lieblingsfarbe Blau hatte streichen lassen, die ihn in Kufstein aber nie besuchen sollte. Dafür kamen Franz Theodor Csokor und Berta Zuckerkandl mit ihren Schreibmaschinen, deren Geklapper Friedell, der stets Papier und Bleistift bevorzugte, irritierte.
In seinem neuen Werk ging Friedell nicht mehr chronologisch vor, sondern handelte Zeiträume anhand von herausragenden Leistungen der Völker ab. Als Heinrich Beck das erste Kapitel zu lesen bekam, war er begeistert: „Ihr Manuskript zur Kulturgeschichte Ägyptens habe ich mit größtem Genuß gelesen. Sie haben m. E. mit diesem Kapitel eine ganz neue Form der Darstellung gefunden. Diese übertrifft Ihre Kulturgeschichte der Neuzeit an Gemeinverständlichkeit und Volkstümlichkeit des Erzählertons, ohne deshalb auf feine Lichter und Pikanterien der Gedankenführung irgendwie zu verzichten.“
In Kufstein bewegte sich Friedell offensichtlich in anderen literarischen Dimensionen. Bereits mit der „Judastragödie“, 1916 fertiggestellt, 1920 veröffentlicht und mit mäßigem Erfolg 1923 im Burgtheater uraufgeführt, hatte er literarische Ambitionen gezeigt, nun vollendete er mit „Die Rückkehr der Zeitmaschine“ eine satirische Science-Fiction-Novelle. In Anlehnung an den 1895 erschienenen Roman „Die Zeitmaschine“
des englischen Autors H. G. Wells verfasste er einen Text, in dem er selbst als Protagonist auftritt und der Zeitreisende nicht in die Zukunft, sondern in die Vergangenheit reisen will. Technische Schwierigkeiten nötigen ihn aber, erst einmal in die Zukunft zu reisen. Das Originalmanuskript umfasste 63 einseitig mit Bleistift beschriebene Blätter und ging 1935 von Kufstein aus wohl an mehrere Verlage. Erschienen ist die Novelle allerdings erst 1946 beim Piper Verlag in München.
Wie in Wien arbeitete Friedell überwiegend von den Morgenstunden bis in den späten Vormittag. Dann machte er einen Spaziergang oder ging schwimmen. Ist er dem alten Thierseeweg gefolgt und dann links abgezweigt oder über die Wiesen im Zickzack durch den Mischwald spaziert? Eines jedenfalls ist sicher, sein Hund war stets dabei und sollte es das Schwimmverbot für Hunde damals schon gegeben haben, hat er es bestimmt ignoriert.
Friedell bevorzugte aufgeweckte Terriermischlinge. Der erste hieß Schnick und erlangte eine gewisse Berühmtheit, weil sein Herrchen einem Radiojournalisten gegenüber ausplauderte, dass er sich bei vielen Themen lieber mit dem Vierbeiner austauschte als mit einem Zweibeiner; Alfred Polgar widmete dem eigenwilligen Hund gar einen Nachruf.
Sein Nachfolger Schnack segnete 1933 das Zeitliche, ihm folgten Schacki und Lumpi. Schnack dürfte noch in den Genuss gekommen sein, im Pfrillsee zu plantschen, während das Herrchen seine Runden drehte.
Wohl kaum eine Wanderung zum Pfrillsee, die ihren Abschluss nicht im „Edschlößl“ fand. Das heute in Privatbesitz befindliche Gebäude an der Straße nach Thiersee war damals ein beliebtes Ausflugsgasthaus. Neben Arkaden im Parterre, in denen die Gäste vor Sonne und Wind geschützt speisen konnten, verfügte es an der Ostseite über ein schmuckes Salettl samt Gastgarten mit schattenspendenden Bäumen.
Friedell war häufig gesehener, auffälliger Gast. Der begnadete Selbstdarsteller machte sich gern den Spaß, als Gutsherr durch die Gegend zu flanieren, in Reithosen und -stiefeln, ein Monokel ans Auge geklemmt. Trinkfest wie er war, fand er rasch Gesinnungskollegen. Die Abende konnten lang, alkoholselig und anekdotenreich werden. Freundschaft schloss Friedell mit Annie Hellensteiner, der „Wirtin auf der Ed“, der er neckische Briefe aus Wien schickte: „Ich sehne mich schon sehr danach, endlich wieder einmal mit einem Menschen von geistigem Niveau reden zu können, wie Du es bist, was man leider nur auf dem Lande findet und küsse Dich bis dahin herzlichst! Dein Egon.“

So arbeitsintensiv, friedlich und ausgelassen die Zeit in Kufstein war, die politischen Ereignisse machten vor Friedells Arkadien nicht Halt.
Die 1000-Mark-Sperre nötigten seinen Verleger und ihn, ihre Treffen geradezu konspirativ zu planen.
Dazu die düsteren politischen Entwicklungen: „Täglich bekomme ich schriftlich und von den wenigen Leuten, die man herüber läßt, aus Deutschland die deprimierendsten Nachrichten. Da ich das deutsche Volk nach wie vor liebe, geht mir das natürlich sehr nahe. Es ist dort das Reich des Antichrist ausgebrochen. Jede Regung von Noblesse, Frömmigkeit, Bildung, Vernunft wird von einer Rotte verkommener Hausknechte auf die gehässigste und ordinärste Weise verfolgt.“
1936 erreichte Friedell in Kufstein die Nachricht, dass Karl Kraus, anfangs Wegbegleiter, später geschätzter Widersacher, verstorben war. Sie traf ihn schwer und ließ ihn voller Wehmut an diejenigen denken, die ihn bereits verlassen hatten. „All jene Menschen aus jener Zeit: Altenberg, Loos, mein Bruder Oscar usw. hatten etwas so Lebendiges, was die heutigen Menschen gar nicht mehr haben, und ich kann bis heute noch nicht glauben, dass sie tot sind“, schrieb er an den Journalisten Walther Schneider.
Die veränderten Verhältnisse hatten zusehends Auswirkungen auf Friedells Schaffen. Der erste Band der „Kulturgeschichte des Altertums“ sollte nicht mehr, wie vorgesehen, 1935 im Beck Verlag, sondern erst 1937 im Schweizer Helikon Verlag erscheinen. Ein schwerer Schlag für Friedell, mit dem Verbot seiner Schriften im Feber 1938 brach der deutsche Markt endgültig weg. Trotzdem kehrte er mit Zuversicht und voller Pläne nach Wien zurück.
„Goethe“ sollte im Theater an der Wien auf die Bühne kommen, es galt Friedells 60. Geburtstag zu feiern.
Am 16. März 1938, wenige Tage nachdem die Nazis in Österreich einmarschiert waren, sprang Egon Friedell in den Tod. Er soll, im Fallen, an einem Herzinfarkt gestorben sein.

Literatur:
Egon Friedell: Friedell-Brevier. Aus Schriften und Nachlass. Ausgewählt von Walther Schneider. Verlag Erwin Müller, Wien 1947
Egon Friedell: Aphorismen und Briefe. Herausgegeben von Walther Schneider. Paul List Verlag, München 1961
Egon Friedell: Selbstanzeige. Essays ab 1918. Herausgegeben und mit einem Nachwort DER GANZE FRIEDELL? von Heribert Illig, Löcker Verlag, Wien/München 1985
Egon Friedell: Kulturgeschichte der Neuzeit: die Krisis der europäischen Seele von der schwarzen Pest bis zum Weltkrieg. Mit einem Vorwort von Ulrich Weinzierl. Verlag C. H. Beck, München 2012 (3. Auflage)
Egon Friedell: Die Rückkehr der Zeitmaschine. Phantastische Novelle. Europäischer Literaturverlag, Berlin 2016
Peter Haage: Der Partylöwe, der nur Bücher fraß. Egon Friedell und sein Kreis. Claassen Verlag, Hamburg/Düsseldorf 1971
Wolfgang Lorenz: Momente im Leben eines Ungewöhnlichen. Eine Biographie. Edition Raetia, Bozen 1994
Bernhard Viel: Egon Friedell. Der geniale Dilettant. Eine Biographie. Verlag C. H. Beck, München 2013

 

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