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Das Lied von der Erde Landvermessung No. 5, Sequenz 2. Ins Defereggental und weiter

Geschichten kann man auch durch geometrische Operationen auf der Landkarte generieren: In Quart folgen unterschiedliche Autoren mit unterschiedlicher Kondition unterschiedlichen Linien (s. Übersichtskarte). Wir befinden uns derzeit auf einer Geraden, die von Obermauern im Osttiroler Virgental Richtung Südtirol und weiter ins Trentino führt. Die Schauspielerin und Autorin Dörte Lyssewski begegnete – ausgerechnet! – im Defereggental Gustav Mahler.

Liebe, wenn Du wüsstest, was für einen weiten Weg Du noch vor Dir hast! Du bist noch schmal, träumst zäh und gelangweilt dahin, ein besseres Rinnen Deines jungen Lebens, mehr nicht. Wie schön Du bist. Du wirst breiter werden … dein geschmeidiger, schneller Körper glitzert jetzt bereits munter in der Sonne. Du gibst erste glucksende, plätschernde Laute von Dir. Wo Dich dein Weg wohl hinführen wird? Du bist abenteuerlustig und aufgeregt und an dieser Biegung lasse ich Dich nun. Ich bin krank. Wir werden einander nie wiedersehen, nimm mit von mir, was du begehrst, meine Entrinnende. Schwindel. Warum bin ich ins Schattental gegangen? Wär ich nicht ins Schattental gegangen, wär vielleicht alles anders gekommen. Ich hätte Mut gefasst und wäre nicht gestorben.
Nun will die Sonn so hell aufgeh’n, als sei kein Unglück die Nacht gescheh’n!
Er hatte sich aufgerichtet und die Augen aufgeschlagen. Dieses eine Mal war er ungewöhnlich früh gekommen, voll Ungeduld, ohne Aufschub jedweden Moments. In dem Vorgefühl einer Ereignishaftigkeit, die sich nie würde wiederholen können. Früh würde er das jetzt noch junge Tal sehen und die Höh, und wusste nicht, ob er dasselbe empfände, jetzt, da er sich im gleichen Zustand fand wie das, was er verloren hatte, als kehrte er noch einmal aus dem Reich der Toten wieder. Ob er dasselbe fühlte, dasselbe dächte, dasselbe schriebe? Einmal noch, der Verdammnis zum Stillstand trotzend, war er aufgebrochen. Die Bewegung erweckte Rhythmus in ihm, sie wurde ihm Klang und wieder innere Regung und wieder Rhythmus. Bewegnisgrund und Überlebensklang. Er musste hinauf. Er brauchte den gelebten Blick und die Frische dieses Weltkörpers. Die Klarheit der Luft benahm ihn beinahe des Atems. Sie, die ihn stärkte, brachte ihn fast um. Er streckte seinen Kopf zum Fenster hinaus. Schwindel. Erste und letzte Schindeldächer, reglose Fellkringel von Katzen auf den von der Morgensonne sich erwärmenden Blechdächern. Erste Hühner rannten todesmutig auf die Straße. Vor dem Aufbruch blickte er noch einmal wie ehedem mit bemühter Selbstverständlichkeit in den Spiegel, glättete sein Haar nieder und setzte den Hut auf. Er sah seine blauen Lippen, die Wangen gerötet von Fieber. Ich fahre gerne Rad, werde aber darauf verzichten und laufen, maßregelte er sich bitter. Es lockt mich, mich der Geschwindigkeit des Autos hinzugeben, einmal, einmal noch zu fahren, doch ich werde gehen, sog er traurig den Gedanken ein. Nur nicht in den Schatten bleiben, von denen er annahm, dass sie ihn ungeduldig erwarteten. Aufbruch. In die Dunkelheit des Lichts. Er schaute ein letztes Mal zum Haus zurück. Sein Fenster, das in geschlagenes, geschichtetes Holz gefasst war, hatte ihn wie eine Wabe bewahrt und geschützt. Er war sein eigener Arbeiter und arbeitete für sich als einzigen König. Ein letztes Mal: Das himmlische Leben. Er würde nie erleben, wie laut das Tal sein würde, wenn er das Fenster öffnete und da keine Stille mehr wäre, es dröhnte; und er die Sprache derer, die ihm das Essen bereiteten, sein Bett richteten, nicht mehr verstünde; die Menschen nicht mehr schwömmen, nicht im milchigen Wasser des dunklen Sees, wie in einem verschwommenen Mond in Wolken inmitten dunkler Nacht, sondern einzig ins Wasser stiegen, um sich selber zu photographieren; und nicht mehr als Gäste dieser Welt geschätzt würden, sondern verachtet. Er sähe nicht die mit Löchern geschändeten Berge, aus denen heraus Soldaten töteten und getötet wurden, diese Menschenlöcher, klaffende Augenhöhlenbunker; keine Grotten für Heilige, einsame Jünglinge, verlassene Jungfrauen, oder ermüdeten Knappen zum Schutze. Er sähe nicht die endlosen Gräber, aber auch nicht, dass es eines Tages kleine friedliche Fallschirme gäbe, die man ihm ans Tor seines Herzens pflanzen könnte und die das Leben hereinfließen lassen würden in ihn. – Nie wieder an den See. Schwindel.
Grünfinken im klaren, schnellen Flug vor dem lichten Passepartout der weiten Berge durchkreuzten seine Schwermut. Ihm war heiß. Das Gewand war nass. Das Licht blendete seine Augen. Er schloss sie. Das Fieber vermochte das Weiß des Schnees nicht zu schmelzen. Vor Mitternacht noch werde ich sterben. Gibt es eine Tiefe, aus der man erwachen muss, jenseits des Schlafes? Ja, aus dem Alb dieser Begegnung. Vis-à-vis de rien. Vis-à-vis de moi. Ich bin ein Anfänger am Ende des Lebens. Im Lindenbaum vor dem Haus duckte sich eine Taube, eine Amsel schimpfte, schon so früh!, ein Hund bellte. Er hatte den warnenden Stern der Nacht nicht beachtet. Heiß und weiß hatte dieser auf ihn herabgesehn und war ihm durch seinen Fiebertraum gefolgt. Ich bin im Schatten. Nicht nur des Abends. Auf der anderen Seite ist die Sonne.
Aus dem nahe liegenden Sägewerk wehte Essiggeruch von zerlegtem, trocknendem Holz ins Tal in sein Gesicht. Die Umschläge für das fiebernde Kind hatten nicht geholfen. Obergottesfeld. In der Ferne sah er die Kirche mit dem hölzernen Umgang mitten auf der Wiese stehen wie einen Irrtum. Ein Pfeifen, das dem kämpfenden Körper stoßweise entwichen war, hatte ihn geweckt. Er hatte das schwere Atmen gehört, bevor er wusste, was es bedeutete. Sie hatte fiebernd dagelegen, Blut tropfte aus ihrer Nase. Zwei Tage später gab es sie nicht mehr. Er starrte auf den glitzernden Fluss. – Nie wieder an den See. Wasser, Röcheln, Atemlosigkeit. Das Gesicht seiner Tochter. Heiß und rot aufgequollen.

Er musste auf die andere Seite. Auf die Sonnenseite. Ein Bauer nahm ihn auf seinem Anhänger mit und da war es nun, das warme Licht der Sonne. Jetzt konnte er sein, ohne den Trost des Schattens! Im helllichten Licht in der Dunkelheit. Er stapfte um die Biegung, überquerte die Gleise und strich entlang der Auwälder, umsäumt von rehfarbenem Schilf. Ich habe Butterbrote und Schinken bei mir, trage gute Stiefel an den Füßen. Ich wäre in jedem Sinne einer, dem nichts widerfahren kann. Ein Reißen in der Brust ließ ihn innehalten. Er griff in die Brusttasche, nahm das Tuch hervor, das noch Spuren ihres Blutes trug, hielt es sich vor das Gesicht. Trocknete sich die nasse Stirn. Der bläuliche Rauch der morgendlichen Verrichtungen und Geschäftigkeiten, der aus Häusern und Hütten drang, lag schwer und zäh in den noch feuchten Tälern und umfing ihn wie der Traum eines Köhlers: Seine Angst, der Tod des Mädchens, nur die Brandnarben, der Schlafmangel des Köhlers, Schemen, die die Farbe des Rauchs, die er lange beobachtete, hervorgerufen hatte. Die erste Mühle, an der er vorbeikam, ruhte jetzt nur mehr und erinnert daran, dass, wer mahlen durfte, bei Herzass am Kartentisch entschieden wurde. Wer sterben durfte auch!, hallte es ihm der Müller in Gestalt des rauschenden Wasserfalles nach. Er stürzte durch den Wald, fiel. Blaubeerfelder, ich esse davon. Die Zeit ist zu früh. Es gibt noch keine Beeren … Schwindel. Stolpern. Endlich am Fluss. Das Wasser buchtet sich biegsam durchs Eis. Auf einer kleinen Erhebung der Insel aus Schotter die ersten Weidekätzchen. Wunderherrlich. Die Wehmut, die ihn ergriffen hatte, als er am Ende des vergangenen Sommers das Tal verlassen hatte und in die vermeintliche Weite gefahren war, in die vermeintliche Freiheit, ließ ihn als ein Anderer zurückkehren. Kein Lichtgedanke hatte ihm Trost gebracht, seit der Ereignisse am See. – Er verabschiedete sich von dem kleinen Fluss, der bald sich ergießen sollte in einen Bruder, eine Schwester, wachsen und in der Ferne als ein Anderer jegliches Erinnern an seine ursprüngliche Form unterwegs verlieren würde. Smaragdwasser und Kalk. Stürze. Alles um den kleinen Fluss herum schien unerträglich wüst, die Kanten, die das Eis im Schnee hinterlassen hatte, wurden von ihm weichgespült, ebenso wie die Strünke vergangener Jahre der Erosion. Könnte er so anmutig verfallen, so seine Zähne verlieren! Atemnot. Das matte Gras, das die Böschung einfasste, hing senffarben herab. Er überquerte den Fluss. All das zu sehen, wäre bereits Glück. Und da fing im Sonnenschein gleich die Welt zu funkeln an! Sein unsichtbares Königreich und Maria wären da. Ich bin ein Zwerg, ein Traumgörge meines Lebens. Die Steine, die das Eis einst hierher ins Tal gebracht und sie nach seiner Mahlzeit als Krümel liegen ließ, umlagern mich gleich großen Murmeln, von Riesenkindern nach dem Spiel nachlässig vergessen. Er sah ein paar Kindern in der Ferne beim Spielen im Fluss zu, wie sie mit ihren Beinen im eiskalten Wasser standen, inmitten des glitzernden Friedens, und fragte sich, wie aus ihnen, die in solcher Pracht aufwuchsen, dergleichen Menschen werden konnten, die ihn vertrieben hatten, die ihn kleinmütig hassten und demütigten, die ihn mit engen Herzen neideten und ihn ins Entlegene, Fremde getrieben hatten, wo man ihn zwar liebte, doch hatte das nur seine Fremdheit verstärkt und er verblieb noch einsamer und enttäuschter zurück. Purgatorio Solitude. Wie gern würde er sein Kind über den Fluss tragen. Es wäre ihm ein Leichtes und sie wäre leicht und je tiefer der Fluss sein würde, desto schwerer wäre beides. Christophorus, trag sie hinüber für mich! Die Tochter, die Brüder. Ich werde die Glocke um den Hals hängen und dich leiten. Durch Stromschnellen und über Steine. Ich, als verbleibende einsame Herde, die keine ist. Er hob die Hand, um seine Augen zu beschirmen. Dann blickte er ganz unverwandt, ungeschützt durchs Tal. Er faltete die Landschaft unter seinem Daumen und schob sie zusammen, dehnte und wellte sie. Extraschlag des Herzens. Die noch zum Dorf gehörigen Felder waren durch blaugräulich gefärbte, brüchige Steineinfassungen begrenzt. Als hätte der Rauch des Tales seine Farbe auf sie niedergesenkt und ihre Grenzen aufgelöst. Der Anstieg begann. Er drehte sich herum und sah hinab. Fieber. Das Grundstück, das er noch vor Kurzem erworben hatte, um auch nah der Stadt eine ähnliche Eindrücklichkeit erleben zu können, wie sie ihm hier, weit entfernt davon, widerfuhr, erwürbe jetzt ein Anderer, kam ihm in den Sinn. Ein Anderer würde jetzt dort ein Haus bauen, leben, atmen, lieben und seine Kinder würden dort über die Wiesen laufen und wären nicht ausgegangen ohne Widerkehr.

Das Holz hier schien klarer, reiner und frischer als der Stein, vielleicht weil die Sonne es beschien, vielleicht weil es jünger war und unmittelbarer erzählte, seine Veränderung jedem zeigte, und er nicht in Millionen Jahren wiederkehren müsste, um diese zu sehen. Es reagierte schneller, empfindsamer und weich, wie ein Mensch, angreifbar und verletzlich. Und doch waren in der Senke, die er durchschritt, Baumstümpfe und graue Steine gleichermaßen Gedenksteine und nicht mehr voneinander zu unterscheiden. Letzte zusammengescheuchte Obstbäume auf kleinen, vergilbten Flächen; der bläuliche Rauch hier und da stand wie ein Notenhals in den Himmel, wie der Zigarettenrauch des Vorabends. Er hatte gezittert. Der nächtliche Husten hatte ihn nicht schlafen lassen, sondern ihn im Sessel wachgehalten. Einzig seine Hand war ruhig geblieben und hatte den Rauch sich gleichmütig und ungestört zum Fenster hinausschlängeln lassen. Sein Herz hatte so schnell geschlagen, dass der Fuß des über das Knie geschlagenen Beines zitterte, auf- und niederwippte wie eine Wünschelrute. Der Hund schlug an und warnte nächtens vor etwas, das sich ihm entzog, da es fraglos und klar war wie die Luft der Nacht. Vor Mitternacht noch werde ich sterben. In welcher der kommenden Nächte, war ihm gleich. Doch so würde es sein. Oder schlimmer. Wer hätte wissen können, dass ich das alles nicht mehr würde sehen können? Noch am Abend hatte er den Pfad zur kleinen Kapelle genommen, sich auf die Knie geworfen und geweint. Sebastian und Christophorus sahen indes geduldig, fast gleichmütig auf ihn herab und er bemerkte, dass sie seinen Gastwirten glichen. – Heute kommt der Sand aus der Sahara. Wie ein Gast, vor dem es sich in Acht zu nehmen galt, hatte die Wirtin den Tag angekündigt. Die Wiesen lagen fleckig da, mit schwarzen Pusteln übersät, und warteten auf das frische grüne Kleid. Große Misthaufen wuchteten neben den Schutzstadeln wie aufgeworfene Maulwurfshügel gigantischen Ausmaßes. Kein Dunst verschleierte mehr die Sicht. Die unterschiedlichsten Formen der Kirchtürme streckten sich in den unerbittlichen Himmel, in jeder Form ein anderes Gebet verwahrt, eine andere Sprache der Not. Er passierte ein Marterl, drehte sich um, hielt inne. Christus war gerade dabei, sich vom Kreuz loszureißen, sich in die Tiefe stürzen zu lassen, hing bereits schräg abstehend vom Kreuz gelöst und war dabei erstarrt vom Schrecken der Erkenntnis, dass es dafür zu spät war. Eine Stunde Gehens weiter hing er wieder, als ein Anderer, ergeben da. Rechts und links seiner genagelten Arme von zwei kranken Phalli, in Form zweier Maiskolben gesäumt.
Kurze Bewusstlosigkeit. Er wachte am Boden auf. Der Himmel war blau. Stille. Ich bin der Schönheit begegnet und sie antwortete mir.
Er nahm einen Bissen vom Schinken, trank einen Schluck Honig und zog weiter. Es war egal, wo auf der Erde er sich befand, das hieß, er war angekommen, denn das, was er sah, gab es überall auf ihr: die Steinsockel, die Steinmauern, die Umfriedungen. Die Schönheit tat weh. Der Abschied von der Schönheit tat weh. Alles in der Landschaft war gesprenkelt. Eine weiße, fressende Auffächerung zwischen Schatten und Licht legte die Konturen frei. Birken, Berge, die Reflexionen des Wassers. Die Berge schwarze, abgeschattete Hüte. Das gebrochene Licht löste die scharfen Kanten auf, den Hang entlang glitten schwarz umränderte Schattenwolken. Die Zinken und Zacken einer großen, ausgefransten Welt, einer ausgefransten Landschaft. Saum, Rand und Eigentlichstes zugleich.

Er war am Berg. Schwindel. Still ist mein Herz und harret seiner Stunde. Weiße Rücken tauchten in das warme Morgenlicht. Weiter unten waren ihre Rücken fleckig und räudig wie die Rücken alten Viehs. Die Gnade der Schönheit, die ihn empfing, barg immer, Moment für Moment, die Gnade, nicht verschont geblieben zu sein, es war da immer der Schmerz, das Gegenteil beweinend. Die aufgeworfene Erde ließ es eigentlich nicht zu, dass man sie betrat und ihre Schönheit schändete. Etwas musste unberührt bleiben und schön.
Er fühlte Drang und Verstummen.
Die milde Erbarmungslosigkeit machte ihn ruhig und schwer.
Der Weg zum Scheitelpunkt war versperrt. Sein Herz schlug schneller. Es bringt mich noch um.
Berg der Verklärung. Nimm mein Ungestüm und lass mich ruhn, zärtlich und versöhnlich. Ich brenne dahin. Jeder Schritt ein Jahr. Es strengt mich an, dachte er. Ich trete mir gegenüber. Es ist schwer. Mein Ton-Glimmer-Schiefer-Weg, ich sage Dir: Mir war auf dieser Welt das Glück nicht hold! – Ihre Luftröhre lag offen da mit kleinem Spalt, der ihm entgegenklaffte, als käme noch eine Botschaft, eine Weissagung, die nur ihn etwas anging. Vergebens. Vergebung. Die kleine Hand, die er bis zum Schluss gehalten hatte, war ihm entglitten. Gruppe sechs, Reihe sieben, Nummer eins. Längen- und Breitengrad meiner restlichen Existenz.
Ich habe genug.
Kurze Bewusstlosigkeit.
In der Ferne ragt das unruhige, verwitterte Gestänge der Erdpyramiden empor, wie die Kalkablagerungen in mir. Da hilft nur Sprengung. Ich geh mit der Muschel. Den Hammer im Herzen. Silber, Kupfer, Blei und Gold. Ein Bergwerk der Märchen. Ich ihr Zwerg. Das Mädchen und der Riese Tod. Die hölzernen Schutzhäuschen auf den Matten, an den Hängen und weiter unten im Tal verteilt, glichen Mausoleen für Vieh und Menschen. Solch eine Schutzhütte wünschte er sich. Und doch: Solche Schutzhütten hatte er sich eigens bauen lassen, um arbeiten zu können, an Seen, im Wald: Es hatte nichts genützt. Die Musik erstand schadlos, doch griff die Zeit nach seinem Kind und seinem ihm zugeeigneten Platz.
Am höchsten Punkt des Berges, den zu erklimmen ihm noch möglich war, setzte er sich nieder. Die Stille hier war dick. Eine harrende Umgebung. Nicht wirklich friedlich. Oder doch? Die Kostbarkeit jedes Tons, des Vogelsangs und Rauschens. Des Aufschreis. Der Ort wurde zur Speise, Anordnung zum Lauschen. Ohrenspitzen. Er wusste es nicht mehr. Alles war durcheinander. Hatte es noch einen Sinn, ins Tal zurückzukehren? Zurückzufahren durch den langen Wirbelsäulentunnel im Rücken des Berges? Erneut und, noch ein letztes Mal, daraufhin in die Stadt? Sollte er nicht einfach bleiben und den Rest seiner Tage sich als Christusdarsteller bei den Passionsspielen in dem Ort flussabwärts verdingen? Wer hatte „Guten Abend, gute Nacht“ komponiert? Warum fiel ihm der Name nicht mehr ein? Es wurde des Abends vom Glockenturm des Dorfes grausam als Glockenspiel in sein Zimmer geschlagen, um Kinder – welche Kinder? – in den Schlaf zu wiegen. Es tönte durchs ganze Tal wie eine finstere Erinnerung in seinem Kopf. Nichts tröstete. Am frühen Abend seiner Ankunft war er bereits schon einmal aufgebrochen, weil ihn der Hunger hinausgetrieben hatte. Erbrechen. Nicht einmal die Postkarte, die er ohne jegliches zu beschreibende Erleben unmittelbar im Café Dacapo kaufte, wollte ihm gelingen. Eine unleserliche Schrift bemächtigte sich seiner Hand, sein Auge folgte dem verwirrten Kreisen seiner Hand, die eine kryptische Adresse auf die Karte setzte, an nicht vorhandene Menschen adressiert, in einem Alphabet verfasst, das er noch nie gesehen hatte und nicht entziffern konnte. Nichtsdestotrotz hatte er sie eingeworfen, er wusste nicht, an wen, und ging über den Platz des Gasthauses zur Post, auf dem einmal sein von Kindern beturntes trostloses Denkmal stehen würde, zum Essen. Vorher kurvte er zur Seite und trat die Stiegen zur Kirche hinauf. Seine Hand senkte sich in den Griff der Drachenklinke des Eingangs. Neben dem Taufbecken in Form einer großen Bonbonnière erblickte er den kleinen, mit Reliquien bestückten Sarkophag. Könnte ich ihr auch ein Haus auf Lilienfüßen bauen! Und sie jeden Tag betrachten, Schmuck meines Lebens! Dann im Schwarzen Adler zum Nachtmahl. Ein voller Becher Weins zur rechten Zeit ist mehr wert als alle Reiche dieser Erde. Vergebens. Am Nebentisch lachten Kinder. Schwindel. Er zahlte die fette Speise und ging. Das nächtliche Dorf kulissenhaft, wie leblos. Vom Rauschen angezogen, war er auf der Brücke stehen geblieben und hatte Durst bekommen. Er schaute in den Sturzbach, in die letzten, schmelzenden Schneewehen. Ich bin ausgegangen in stiller Nacht. Im Licht der Laternen sahen die dicken Stämme der Birken wie schirmende Riesenparasole auf ihn herab. Auf dem Weg zur Pension entdeckte er eine Auslage mit allerlei Notwendigkeiten für Durchreisende. Lohnte es sich noch, ein Paar Stiefel zu kaufen? Nein. Sie standen neben einem kleinen Paar gefütterter Kinderstiefeletten und winzigen Pantöffelchen. Reißen in der Brust. Er war in sein Zimmer getaumelt. Vom Bett aus sah er das schimmernde All, aber nein, das war nur sein trübes, flackerndes Auge. Schwindel. Die Matten rutschen zu mir ins Zimmer hinab, aber nein, sie sind nur auf ihrem Weg vom Mittelpunkt der Erde zu mir erstarrt. Jetzt ist mein Herz die Lava, meine Lunge, mein Blut.
Ich denke plötzlich an den Michel, meinen Verrat, die Elbe, an meine Schwestern. An die Donau, meine Wohnung, die Klänge. Renn weg! Hatte mir die Straße täglich zugerufen. Ich habe nicht auf sie gehört.
Jetzt bin ich hier. Es ist gut. Es ist Nacht und ich bin mit dem Berg allein.
Die Nacht auf dem Berg ist besternt. Der Geruch nach Mist und das Rauschen des Falls torpedierten die Verweigerung des Berges, einen Laut anzunehmen. Er nahm kein Licht an, kein Geräusch. Zuweilen grollte er. Und dann kam immer gleich der Tod. Doch jetzt war Frühling! Sein Groll stürzte ins Tal, traf den der anderen und machte sich auf, über Umwege ins Meer. Und ich? Werde ich das Meer wiedersehen? Werde ich den Mai noch erleben? Wohin bringst du mich, Frühling? Brustschmerz. Schüttelfrost. Schwindel. Ich brauche noch Füllfedertinte und Pfefferminzöl. Bitte.

671, 671, 671, 671. Die Zahlen dröhnen durch seinen Kopf.

Dunkel ist das Leben, ist der Tod.

Sturm über Wien.

 

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