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Organische Texturen

In seiner 38-teiligen Serie für Quart Nr. 29 transformiert der Künstler Benjamin Zanon die Texte der rechten Seite in Zeichnungen auf der linken Layouthälfte. Für diese Spiegelungen kombiniert er eine akribische Zeichenanalyse mit intuitiver Geste zu einer eigenständigen Handschrift. Von Sabine Dreher

Seine filigranen Zeichnungen, die sich offensichtlich aus tausenden grafischen Elementen zusammensetzen, erwecken unmittelbar Assoziationen mit dynamischen Gebilden wie Strömungen, Sandhosen, Insektenschwärmen oder fallweise auch mit geordneten Strukturen wie Stadtplänen, ohne dass sich jedoch der Code, in dem sie verfasst sind, entschlüsseln ließe. Erst die Indexlegende liefert den Hinweis, dass die flatternden Zeichen einer festgeschriebenen Logik folgen.

Zunächst wird jede ausgewählte Textseite mittels eines Computerprogramms in ihre kleinsten Bestandteile, die Glyphen, zerlegt und dann die Häufigkeit ihres Auftretens als Statistik ausgewiesen. Aus der in die drei Kategorien Kleinbuchstaben, Großbuchstaben und Satzzeichen geteilten Zeichenmenge wird ermittelt, wie viele Zeichen einer bestimmten Art pro Seite vorkommen. Daraus ergibt sich eine Aufstellung des Zeicheninventars in Form von 135 × a, 117 × B, 4 × ? usw.

Jeder auf diese Weise identifizierten Glyphe ordnet Benjamin Zanon nun handschriftlich ein neues Zeichen zu. Dabei entwickelt er jeweils für die erste Seite eines Textes ein neues Alphabet, wobei die Zeichenreihe auf jeder folgenden Seite leicht variiert wird. Dadurch ähneln sich die Seiten, obwohl die Parameter laufend ausgetauscht werden. Auch wenn Zanon akribisch darauf achtet, dass die Zeichen immer der gültigen Legende entsprechen, kommt es bei hundertfachen Wiederholungen vor, dass sich deren Gestalt durch die Dynamik der Handschrift sukzessive verändert, so dass das letzte dem ersten nicht immer gleicht. Leerzeichen werden in allen Alphabeten mit einem Punkt übersetzt, wodurch es zum Füllzeichen wird.
Nebst der mathematischen Präzision bei der Übertragung leitet sich die Gestaltung je nach Intention und Tagesverfassung aus unterschiedlichen willkürlichen Faktoren ab. Während etwa das Alphabet für das Brenner-Gespräch mittels abstrakter Zeichen die im Interview beschriebene Ästhetik wiederzugeben versucht, beziehen sich die wesentlich konkreter gestalteten Elemente auf inhaltliche und strukturelle Aspekte (so gibt es etwa beim Text von Bernd Schuchter Referenzen zu Land, Vorort oder Stadt etc.)

Der Bezug zum Inhalt und zu einzelnen Textstellen ist zwar ein zusätzliches Feature, aber maßgeblich wird das Ergebnis von der Anzahl bestimmter Buchstaben im Ausgangstext beeinflusst, deren Häufigkeit vorhersehbar ist. Mit seinem Gespür für die Auswirkungen der Erscheinungsformen auf die Gesamtkomposition benutzt der Künstler das Zeichensystem als eine Art Textfilter, wodurch er jene Übersicht erlangt, die es ihm ermöglicht, das System auszuhebeln und Kontrolle über das Resultat zu gewinnen. Wenn er beispielsweise die Übetragung mit den häufig vorkommenden Buchstaben „a“ oder „e“ beginnt, entstehen schwarmähnliche Bilder, während sind ganz andere Anmutungen entwickeln, wenn er mit selten auftretenden „y“, „c“ oder mit Großbuchstaben startet. Auch wenn am Anfang des Prozesses eine gewisse Vorstellung steht, ist das Ergebnis am Ende doch stets überraschend.

Dabei bewegen sich Zanons Arbeiten zwischen zwei extremen Polen: der Schrift als komplexer Kulturtechnik auf der einen Seite und dem einzeln gesetzten Zeichen als funktionales Element auf der anderen. Die Tatsache, „dass Menschen, die über den Schlüssel verfügen, ein Buch in die Hand nehmen und lesend in die Fantasie des Verfassers eintauchen, oder ein Stück Musik anhand einer Partitur in ihrem Kopf abspielen können“, steht für ihn im Kontrast zu jener gezielten Aneinanderreihung von Zeichen, wie wir sie von systematischen Ascii Bildern kennen, die vor der Verfügbarkeit von Piktogrammen und Emojis gerne als E-Mail-Absender verwendet wurden und sich im Zuge ihrer Verbreitung zu einer eigenen marginalen Kunstgattung entwickelt haben.

Ohne jemals in eines dieser Extreme zu kippen, bleiben Zanons akribisch mit einem feinen Tuschestift notierten Kritzeleien stets ambivalent. Erst in der Verortung innerhalb einer Menge generieren sie einen Zusammenhang, wenn auch keinen eindeutigen. Denn die entstehenden Formationen wirken flüchtig, als wären sie in Bewegung oder Auflösung begriffen. Nicht die gesetzten Zeichen, sondern vielmehr die Zwischenräume generieren den Kontext, der je nachdem einmal fluide, einmal statisch, aber in jedem Fall durchlässig scheint. Ein System aufzubrechen, um ein neues zu schaffen, ist nicht zwangsläufig originell und zieht sich gewissermaßen in endlosem Regress durch die gesamte Moderne. Was an Zanons Umschreibungen so besticht, ist, dass er von allen kausalen Regeln abweicht und dennoch modellhafte Repräsentation hervorbringt, die an Grafiken, Schemen und Karten erinnern, wie man sie aus der Wissenschaft kennt.

Diese Form der Emergenz, wonach „das Ganze mehr als die Summe seiner Teile ist“ (Aristoteles), gilt auch als kennzeichnend für die kollektive Intelligenz eines Schwarms, woran einige der Zeichnungen erinnern. Bei diesem Phänomen werden in einem System durch das Zusammenspiel seiner Elemente neue Eigenschaften herausgebildet, ohne dass sich diese Eigenschaften offensichtlich auf die einzelnen Elemente zurückführen lassen. Befehle wie „Bewege dich weg, wenn dir jemand zu nahe kommt“ oder „Bewege dich in etwa in dieselbe Richtung wie deine Nachbarn“ könnten auch die Hand des Künstlers führen, wenn er Zeichen um Zeichen auf das leere Blatt setzt und dabei intuitiv eine Ordnung festlegt.

Visuelle Anklänge an grafische Notationen der experimentellen Musik sind naheliegend. Lässt man sich auf eine erweiterte Betrachtung der Grafiken als Visualisierung von Klang ein, lassen synästhetische Assoziationen unmittelbar Hörerlebnisse im Kopf entstehen. Weit davon entfernt, reine Illustration zu sein, liefert etwa die fünfseitige Serie des Brenner-Gesprächs mit der Komponistin Birke J. Bertelsmeier eine völlig neue Facette dessen, was sie über ihren Zugang zur Musik vermittelt.

Schleifen zwischen Bild und Musik sind im Werk von Benjamin Zanon seit Längerem angelegt. Zur Aufführung des mit dem Komponisten Daniel Moser entstandenen Stücks „Arbitrarium“ heißt es im Jahr 2015: „Das Ende des Klanges ist der Beginn der Stille, ist der Beginn eines neuen Pinselstriches, ist die Umfriedung einer anderen Gestalt, ist ein Ende, ist ein Beginn, ist eine Geste, ist eine Erschütterung. Eine Falte, ein Knick im Gewebe der Wirklichkeit. Eine Ruptur, deren verzweigte Folgen wir hier, an unserem Ende der Wirklichkeit, nicht abschätzen können.“

Innerhalb des Œuvres des 1981 in Lienz / Osttirol geborenen Künstlers nehmen die Zeichnungen für Quart dennoch eine Sonderposition ein. Anders als seine skulpturalen und grafischen Werke, sind die eigentlichen Arbeiten nicht die Zeichnungen, die im Atelier entstehen, sondern deren Publikation im gedruckten Magazin. In diesem Kontext entfalten sie ihre Offenheit und künstlerische Kraft.

 

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