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Von rollenden Fäden und sitzenden Hosen

Franz Prader schneidert in Kitzbühel nach Maß. Marlene Groihofer hat ihn besucht – in fadenscheiniger Begleitung.

Von rollenden Fäden und sitzenden Hosen

Franz Prader schneidert in Kitzbühel nach Maß. Marlene Groihofer hat ihn besucht – in fadenscheiniger Begleitung.

Wenn ich der Zwirn wäre, ich glaube, ich wäre auf hundertachtzig. Vielleicht sogar mit rasendem Puls und einem leichten Schwindelgefühl. Gerade habe ich wie eine Wahnsinnige nach ihm gesucht. Meine ganze Kramuri-Kiste habe ich auf den Kopf gestellt. Ziemlich viel liegt da drinnen. Und ganz unten halt der Zwirn. Recht lieblos, das Ende schlecht aufgewickelt, kugelt er herum, von Büroklammer zu Glühbirne und zurück. Kein Tageslicht, keine Nadel, nicht einmal ein Fingerhut als Nachbar. Nie würdige ich ihn eines Blickes. Aber jetzt ist er in meiner Tasche und ich bin am Bahnsteig. Fast schon hätte ich ihm eine Fahrkarte gekauft. Der Zwirn muss mit! Der Zwirn kommt mit! Die Entscheidung ist erst ein paar Stunden alt. Und noch ist die zentrale Frage ungeklärt: Um des Zwirnes willen, was macht der Zwirn in Kitzbühel? Wie immer, wenn ich nicht weiterweiß, rufe ich an. Diesmal sogar über die Landesgrenze. „Was der Zwirn in Kitzbühel macht? Vielleicht kann er dort einfach nur fein sein“, meint meine bayerische Freundin. „Er ist da bestimmt in etwas verwickelt“, flüstert mein Mitbewohner. „Die Sache ist doch klar“, sagt meine Kollegin: „Er verliert den Faden.“ Genial, denke ich. Das ist es. Er verliert den Faden! Warum mir das nicht selbst eingefallen ist. Seinen schönen weißen Faden kann er verlieren, Stück für Stück oder in voller Länge. Ganz langsam kann die Abwicklung erfolgen oder rasch. Es kann lautlos passieren, ohne Aufsehen, immer und überall. Sogar augenblicklich, in meiner Tasche hier. Wenn das nicht praktisch ist! Aber soll er wirklich alles verlieren, was er hat? Frühestens in Kitzbühel, beschließe ich, und wähle einen Fensterplatz.

Zeit, die Nadeln zu begutachten. Goldene Köpfe haben sie und sehen in der Plastikhülle aus wie Orgelpfeifen. Zwanzig Stück! Eine hätte auch genügt, denke ich, aber gut, dass sie da sind. Schnell noch war ich in der Drogerie. Beinahe wäre ich ohne Nadeln losgefahren. Dabei könnte es doch sein, dass der Zwirn eine braucht. Nicht jetzt im Moment, nicht gleich nach dem Einsteigen, aber später vielleicht. Felder ziehen an mir vorbei, Häuser und ein leicht bewölkter Himmel. Der Zwirn fährt schwarz, obwohl er weiß ist. Fürs Erste muss er in der Tasche bleiben.

Nach unserem Halt in Salzburg darf er auf den ausklappbaren Tisch. Sonnenschein und schneebedeckte Gipfel links und rechts. Vor mir die kleine weiße Rolle. 100 Prozent Nylon steht drauf. Extra strong. Made in Germany. Bei 95 Grad waschbar. Und 100 Meter lang.
Ungefähr 1000 Meter brauche ich vom Bahnhof Kitzbühel ins Zentrum. Ziemlich finster ist es, als ich ankomme. Hummer in Salzwasser, sagt meine Nase. Josef-Herold-Straße 15a, sagt Google. Prader, sagen meine Augen. Hier also. Hier also bin ich richtig. Wenn ich der Zwirn wäre, ich glaube, mir wäre jetzt ein bisschen bang. Sieht ganz danach aus, als würde seine Hauptrolle am seidenen Faden hängen.

Ich kann kommen, wann ich will, weil er ist „immer da“, hat Franz Prader am Telefon gesagt. Der Zwirn ist in meiner rechten Hosentasche, als ich am nächsten Tag in der Früh die Maßschneiderei Prader betrete. Jedenfalls meint Franz Prader mit „immer da“ zum Glück nur die Öffnungszeiten seines Geschäftes. Wobei man die eigentlich „fast immer“ nennen kann. Montag bis Freitag von acht bis achtzehn und am Samstag von acht bis siebzehn Uhr. Seine Mutter war es, die ihn einst zur Schneiderei gebracht hat. Heute, mit 81 Jahren, liebt er seinen Beruf noch immer: „Aufstehen und hier arbeiten, das ist ein herrliches Leben.“ Seit 53 Jahren schon betreibt er in Kitzbühel die Maßschneiderei, in der ich ihn besuche. In dunkelblauem Blazer und grauer Hose steht er hinter einem großen, hellen Holztisch. Vor ihm ausgerollt liegt ein blau-schwarz karierter Stoff, den er gerade in seine Spezialität verwandelt, eine „Prader-Hose“. Von seinem Platz aus hat der weißhaarige Schneidermeister alles im Blick: den Geschäftsraum mit den vielen vollen Kleiderständern, die Eingangstüre mit dem holzgeschnitzten Türgriff und jeden, der im Zentrum von Kitzbühel so spazieren geht. Manchmal leidet das aufmerksame Schneiderauge ein bisschen: „Keiner versteht mehr etwas von Hosen“, klagt Franz Prader und lacht, „jeder sieht aus wie eine Ziehharmonika.“ Gerade stapft eine Familie in Skimontur zur Hahnenkammbahn hinauf. Im Radio läuft ein deutscher Schlager. „Im Winter ist viel mehr los bei uns als im Sommer“, sagt Franz Prader, „da braucht man schließlich auch mehr Kleidung. Im Sommer brauchen Sie ja fast nichts.“
Ordentlich liegen Pullover in bunten Farben im Regal. Stoffrollen schauen unter dem Zuschneidetisch hervor. Dicht an dicht hängt an den Wänden ein Promi-Foto neben dem anderen. Er hat sie alle schon dagehabt. Sean Connery, Robert Redford, die Kessler-Zwillinge, Arnold Schwarzenegger, Omar Sharif. Ob er nicht auch schon einen König eingekleidet hat, will ich wissen. „Welchen König?“, fragt Franz Prader. Irgendeinen. Er winkt ab: „Ja, das ist nicht so wichtig.“ Seine erste berühmte Kundin war Romy Schneider. Skihosen hat er für sie gemacht und Blazer und lange Hosen. Oft sei sie hier gewesen. Seit ein paar Jahren kommt Jean-Claude Juncker. „Alles ganz normale Kunden“, sagt Franz Prader.
Maßschneiderei bietet er an und Konfektion. Ob es etwas gibt, das er noch nie geschneidert hat? Er schüttelt den Kopf. „Wir haben alles schon gemacht.“ Vor Herausforderungen steht er trotzdem immer wieder: „Wenn zum Beispiel ein Mann vorbeikommt, bei dem unser Maßband von 150 Zentimetern nicht reicht. Da muss man dann dazurechnen, das ist immer eine schöne Aufgabe.“

[Tirolerin, beiger Mantel, Halstuch, Anfang 70] – Wann haben Sie zuletzt den Faden verloren? – Ich verliere den Faden nie, da schau ich schon, dass er nicht weggeht. Indem ich immer am Laufen bleibe, genau wie der Faden, genauso mache ich das im Leben. – Sie bleiben immer dran? – Immer, immer. Man muss schon schauen, dass man am Ball bleibt und am Faden auch. – Was würden Sie mit diesem Zwirn machen? – Flicken muss man damit und häkeln kann man auch mit ihm. Ein bisschen dünn, aber es würde gehen. Engel und dergleichen kann man da prinzipiell schon daraus häkeln.

„Guten Morgen.“ Jetzt betritt ein Mann mit Glatze und grauem Bart das Geschäft. „Wie geht es dir?“, fragt Franz Prader. „Wenn ich dich sehe, gut. Du bist immer das blühende Leben“, sagt der Mann. Er möchte kurz vermessen werden. Eine Jacke ist ihm in Deutschland kaputtgegangen. Franz Prader nimmt sein Maßband zur Hand. Oberweite, Rückenbreite, Länge, Schulter, Ärmellänge. Nach fünf Minuten ist der Herr wieder weg. Und ich weiß viel mehr von ihm als nur die Maße: dass er siebzig ist, seine Mutter 102 geworden ist, er früher einen großen Textilbetrieb geleitet hat und dass er beim Wandern schwitzt, sobald er zu viel wiegt. „Das ist doch herrlich, das ist ja das Schöne an meinem Beruf“, sagt Franz Prader, „ich unterhalte mich sehr gerne mit den Leuten. Ich frage immer nach. Bei uns kommt alles vorbei. Von überall auf der Welt. Das ist Kitzbühel.“

Franz Prader setzt auf Klassik, schon immer. Jedes einzelne Maß-Kleidungsstück schneidet er selbst zu. „Die Leute brauchen heute alles schneller“, sagt er, während er mit Lineal und Kugelschreiber ruckzuck einen Hosenschnitt zu Papier bringt, „eine Hose, das geht immer, aber für Anzüge, da braucht man Zeit.“ Für Hosen ist der gebürtige Südtiroler berühmt. Auch die graue, die er selbst trägt, ist – eh klar – eine „Prader-Hose“. Er entfernt sich ein paar Schritte vom Zuschneidetisch, damit ich sie besser begutachten kann: „Schauen Sie, die fällt schön. Die Bügelfalte geht nach innen. Und Sie bekommen kein Knie in der Hose. Eine gut sitzende Hose muss nach vor gehen.“ Aber das, so sagt er, „wissen nicht einmal die Schneider“.

[Wiener Paar mit Volksschulkind, sie schwarze Haare, er gestreiftes T-Shirt] – Wann haben Sie zuletzt den Faden verloren?– Sie: Mein Mann täglich, weil er mit dem Kopf irgendwo anders ist, während er redet. Er: Das kann ich so nicht bestätigen, was meine Frau sagt. Kind: Doch, das stimmt. – Wie fühlt es sich an, wenn man den Faden verliert? – Sie zum Mann: Als Betroffener, wie fühlt es sich an? Er zu mir: Ich erinnere mich ja nicht daran, dass ich den Faden verloren habe, also ist es nicht so tragisch. – Was ist das Kreativste, das Sie mit diesem Zwirn machen würden? – Sie: Deko. Irgendwas aufhängen, Girlanden oder so. Er: Den Zwirn durch ein Nadelöhr durchschieben. Sie zu ihm: Ist das kreativ?

Eine Stiege führt vom hinteren Bereich des Geschäfts in den ersten Stock in die Schneiderei. Zwölf Angestellte hat Franz Prader insgesamt, davon acht Schneider und unter anderem seine Frau im Verkauf. Zwirn(!)rollen in allen Farben hängen an der Wand. Stoffberge, volle Kleiderständer, Nähmaschinen: Hier wird produziert. Ein Lehrmädchen ist gerade mit einem beigen Leinensakko beschäftigt. „Schauen Sie, herrlich gearbeitet. Genauso gehört der Ärmel“, lobt der Chef.

[Frau um die 70, schwarze Sonnenbrille, Handy in der Hand] – Wann haben Sie zuletzt den Faden verloren? – Den Faden? Mich dürfen Sie nicht so genau fragen. Ich bin vor Kurzem erst Witwe geworden. Da habe ich meinen Faden verloren.

Wann ist man eigentlich gut gekleidet, will ich von Franz Prader wissen und bekomme eine ganz präzise Antwort: „Geputzte Schuhe, Hose mit Bügelfalte, Sakko, schönes Hemd, Krawatte.“ Und eine Dame? „Bei einer Dame gehen auch Jeans und ein schönes Oberteil in Ordnung. Aber die Zusammenstellung stimmt oft nicht. Je einfacher, desto besser.“ Ihn selbst trifft man jedenfalls ausschließlich gut angezogen: „Das gehört sich doch so.“

[Frau um die 45, kurze Haare, Deutschland] – Wann haben Sie zuletzt den Faden verloren? – Gerade eben. – Wie fühlt sich das an? – Blöd.

Von seinen Kindern wird keines die Maßschneiderei übernehmen, erzählt der 81-Jährige. „Aber ich fühle mich noch jung und frisch. Ich werde über hundert und mache selber weiter.“

[Mann mit Kapperl und Bart, Ostösterreicher] – Wann haben Sie zuletzt den Faden verloren? – Auf der Autobahn vor einer Radarstation. – Wie fühlt sich das an, wenn man den Faden verliert? – Man wird leicht hektisch und unter Umständen könnte man fast die Kontrolle verlieren. – Und wie findet man ihn wieder? – Indem man sich beruhigt und sich von seiner Frau entsprechende Ratschläge geben lässt. – Was sagt die Frau, damit man den Faden wiederfindet? – Ruhig Blut. – Was ist das Kreativste, das Sie mit diesem Zwirn machen würden? – Den Faden verlieren.

Das ist auch mein Plan.
 
Franz Prader wickelt meinen Zwirn um den Finger: „Der ist gut, der Zwirn, sehr gut.“ Was für ein Kompliment! Da liegt die weiße, kleine Zwirnrolle tatsächlich in der Hand eines Maßschneiders. „Sehr gut ist der, den können Sie fast nicht zerreißen. Zwirn ist überhaupt sehr gut geworden im Vergleich zu früher.“ Er könnte meinen Zwirn ganz problemlos verwenden, sagt Franz Prader, fürs „Staffieren und Nähtezunähen“. Wie viele Rollen Zwirn eigentlich in einer Prader-Hose stecken, will ich wissen. Fragend schaut er zu seiner Mitarbeiterin, die gerade die Auslage dekoriert. Beide sind sich einig: „Keine … keine ganze Rolle, nie.“
 
Wenig später bin ich im Freien und versuche, den Faden zu verlieren. Erst vor der Kirche. Eine kleine Böschung will ich ihn hinunterrollen lassen. Furchtbar beobachtet fühle ich mich! Kann man denn in Kitzbühel nirgends in Ruhe den Faden verlieren? Nicht im Zentrum, so scheint es. Neuer Versuch vor einer Kapelle. Lege den Zwirn auf ein abschüssiges Wiesenstück und stupse ihn an. Nada. Erst am Gehsteig kommt er ins Rollen. Fast geräuschlos bewegt er sich dahin, dreht sich um die eigene Achse, weißer Faden löst sich, bleibt auf grauem Untergrund zurück, zieht eine feine Spur, vermutlich als Erster seiner Spezies. Und ich? Bin peinlich berührt. Hinter mir eine Frau mit Kinderwagen. Neben mir ein Auto. Vor mir der Bahnhof. In der Öffentlichkeit den Faden verlieren? Das ist mir einfach zu unangenehm.
 
Ein Wunder, dass Franz Prader noch nie den Faden verloren hat, denke ich, als ich den Zwirn vom Boden aufhebe, aufwickle und wieder in die Tasche stecke. „Den Faden verliert man nicht“, hat er belustigt gesagt. Aber was man machen muss, um ihn wiederzufinden, weiß er schon: „Suchen soll man ihn, suchen.“

 

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