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„… gerade das, was man sehen will“

Auf dem Umschlag des vorliegenden Heftes ist ein hypothetischer Raum von William Engelen, gebaut aus Holz, Pappe, Plexiglas – um ihn für Quart zu fotografieren: „Turning Point“ schwankt zwischen Bewegung und „Freeze“, zwischen Hoch- und Flachland.

Dieses Hin- und Herpendeln ist weniger darauf zurückzuführen, dass Engelen, ein gebürtiger Holländer, mehrfach in Tirol weilte, als auf das Modell selbst: Über einer Bodenplatte schweben mehrere Schichten, dazwischen sind Kügelchen, die ein ständig sich bewegendes System simulieren und sich immer wieder in verschiedenen Formationen zusammenfügen – zu Trauben, Türmen, Bergen. In jeder Ebene sind Notationen eingeschrieben, die auf Tanzfiguren und Bewegungsabläufe im öffentlichen Raum verweisen oder als Texte zu lesen sind: Aussagen zur Umgebung, zur Wechselbeziehung der sich überlagernden Schichten, oft sehr persönliche Notizen.

Generell entwirft Engelen in seinen hypothetischen Modellen Spiele zwischen Mensch und Natur/Architektur: „Das Spiel kennt keine Gewinner und Verlierer.“ Zu „Turning Point“ schickte er die folgenden Notizen:

Reisen

Wir sind alle Argonauten. Selbst der Mönch, der an seine Zelle gebunden ist. Denn die Vorstellung, vor allem sie, reist unaufhörlich. Vergessen und Suchen. Verdrängung einer bestimmten Anwesenheit, eines bestimmten Ortes. Traum von einer großen Zukunft, von einem fantastischen Ort, von einem utopischen Ort, einem Ort außerhalb aller bekannten Orte. Fröhlich oder nachdenklich, Reise zur See, per Ballon, mit dem Orient Express, zum Feuer des Erdinnern, zu galaktischen Entfernungen an der Grenze des Universums, zu unbeschreibbar schwindelerregenden Wüsten …*

Geografie

Hypothetische Karten, imaginäre Karten. Die Schatteninsel, Utopia, Lilliput … Soviele Inseln, die genauso wie die Kontinente und die Städte erfunden sind und die in den Geschichten ihre Runde machen. Unser Planet ist genauso wie jeder andere ein Theater. Alles darauf ist in Perspektive gebracht, man sieht gerade das, was man sehen will. Die Begriffe selbst – von Kontinent, Stadt, Landstrich – sind Geschichten, Abenteuer. Kartografie der Welt, Kartografie meiner Seele.*

Horizont

Der Horizont steckt einen umschlossenen Raum ab. Nach traditionellem Verständnis markiert er den Raum dessen, was man sehen kann, er organisiert mit anderen Worten den visuellen Raum als einDrinnen, er macht das Draußen – die Landschaft – zu einem Drinnen. Der Horizont ist ein Drinnen. Der Horizont ist nicht dasjenige, an dem irgendetwas aufhört, sondern, so wie die Griechen es sahen, dasjenige, von wo aus etwas beginnt zu sein. Was mich als Flachländer mit den Bergen verbindet, ist der Horizont.

Flachland

Das Flachland ist flach. Weil das Flachland flach ist, kann man da gut fahrradfahren. Aus demselben Grund kann der Wind dort gut wehen. Wind und Fahrradfahren gehen nicht zusammen. Also fahren die Fahrradfahrer meistens gegen den Wind. Das Flachland ist flach. Weil das Flachland flach ist, kann man da gut liegen. Mit einem Mädchen zum Beispiel. Der Wind kann dann wohl gut wehen auf dem flachen Land, aber wenn man liegt und das Fahrrad steht, kann man den Wind am besten ignorieren und liegenbleiben. Mädchen liegen lieber, als dass sie fahrradfahren. Bevor sie liegen, können, müssen sie erst fahrradfahren. Auf dem flachen Land, gegen den Wind, mit einem Röckchen an. Weil: mit einem Röckchen an liegt sichs besser. Das wissen auch die Mädchen.**

Niederländer

Der Charakter eines Volkes wird vor allem durch die Landschaft bestimmt. Unser Boden ist … platt, wir kennen weder Berge noch Täler … aber wir vertragen sie auch nicht. Gibt es irgendwo ein Wasserloch, sofort wird es trockengelegt. Eines der ersten Dinge, die einem Auswärtigen auffallen, ist die große Zahl von Wohltätigkeitseinrichtungen, und ich glaube nicht, dass es ein Land gibt, wo Wohltätigkeit so intensiv betrieben wird wie in Holland.

Wir wollen nicht, dass jemand wirklich viel niedriger gestellt ist, aber wir wollen auch nicht, dass jemand wirklich viel höher gestellt ist. Alles, was irgendwo heraussticht, erweckt in den Niederlanden den unwiderstehlichen Drang, es gleichzumachen, denken Sie nur an den 2002 ermordeten Politiker Pim Fortuyn. Dieser Urinstinkt zum Gleichmachen wirkt schon bei Kindern. Das mit Kreide auf den Zaun geschriebene „Piet ist verrückt“ bedeutet nicht, dass Piet seelisch krank ist, dann würden wir sofort Spenden für ihn sammeln, es heißt, dass Piet sich auffällig benommen hat, und das soll er lassen.

absurd (nach Boris Vian)

„… der Fluss voll Blut, die Kreuzigung eines Pferdes, das Töten von Lehrlingen, die ihre Arbeit nicht gut tun, das Einsperren von Kindern, um sie zu beschützen, Boxkämpfe in der Kirche, der Verkauf von alten Leuten“ … sich vorzustellen, dass es einen Berg in Holland geben könnte.***

[Es folgen acht Bildbeschreibungen zu Arbeiten von William Engelen:]

 

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