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(Nicht wie weg)

„Am meisten Angst, für provinziell gehalten zu werden, haben die provinziellen Gemüter.“
Joseph von Westphalen polemisiert.

Gegen Globalisierung und Großkonzerne sind alle, da kann man sich fast die Widerstandsenergie sparen. Die alten Werte wie Kirche und Vaterland sind längst morsch, man würde sich lächerlich machen, wenn man da noch draufhaut. Politiker beschimpfen gehört so sehr zum guten Ton, dass man mittlerweile lieber an Pazifisten, Umweltschützern und Kindern herumnörgelt, wobei einen umweltschützende Kinder, die alles ausspucken, was nicht Bio ist, wirklich zum Wahnsinn treiben können. Gewisse Irritationen kann man erzeugen, wenn man behauptet, man sei gegen Kultur: Bücher, Bilder – alles überflüssig. Wahrscheinlich aber wird man nach diesem Bekenntnis heute nicht mehr für einen Banausen oder Reaktionär gehalten, sondern für einen schicken und besonders kühnen Künstler. Musik pauschal abzulehnen wirkt immer noch befremdlich, man wird aber erstaunlich viel Zustimmung erfahren, wenn man sagt, man könne das Gezirpe dieser ewigen, superkorrekt historisch getreuen Aufnahmen nicht mehr hören oder man kämpfe für ein Gesetz, das für fünfundzwanzig Jahre das öffentliche Abspielen der verlogen wühlenden Klänge Richard Wagners verbietet. Wer gegen die Musik von Mozart ist, wird sich weniger beliebt machen, bei den Tourismusgegnern in Salzburg aber auch Rückhalt finden.

Der Spaß des Provozierens hört auf, wenn man für Sesshaftigkeit plädiert. Nicht weg wollen gilt als unbeweglich. Das ist eine der wenigen Positionen, die heute noch geächtet werden. Wer nicht weg will von da, wo er herkommt, wer einigermaßen glaubhaft versichert, zu Hause gefalle es ihm ganz gut und Reisen mache auch nicht klüger, der gibt damit keinen Diskussionsbeitrag mehr ab, der gilt als vernagelt. Statistiken, aus denen hervorgeht, dass Leute, die ständig in der Welt herumfahren, durchaus nicht erfahrener sind, werden unter Verschluss gehalten oder gar nicht erst in Auftrag gegeben. Dabei ist es evident, dass viel herumgekommene Leute noch mehr Vorurteile nachplappern als andere, dass sie Städte und Länder verwechseln und die Daheimgebliebenen bei ihrem Heimaturlaub mit besonders langweiligen Geschichten quälen. Zur Strafe sterben sie früher als andere – weniger an tropischen Krankheiten, sondern an den Folgen der ständigen Frustrationsverdrängung. Denn die Unsinnigkeit von Reisen gestehen sie sich ebensowenig ein wie andere Menschen ihre peinlichen Fehlinvestitionen auch. Der Besuch einer Opernpremiere kann auch zu etwas Furchtbarem werden, ist aber schneller überstanden und weniger teuer und anstrengend als Reisen kreuz und quer durch China.

Provinziell sein gilt als das Hinterletzte. Diese Haltung ist daher wahrhaft exklusiv. Man darf natürlich keinen Jägerhut mit einem Edelweiß tragen und keine Gamsbockhosenträger, wenn man mutig das Gebirgstal preist, aus dem man kommt. Man sollte auch Pascals Spruch vermeiden, wonach das Unglück der Welt allein daher stamme, dass der Mensch nicht ruhig auf seinem Hintern sitzen bleiben könne. Das ist zwar richtig, aber billig und bekannt. Im Übrigen ist der Verweis auf den in sich ruhenden Buddha gefährlich, weil der in seiner Jugend so lange herumwandern musste, bis er einsah, dass eben dies Wandern nichts bringt.

Man könnte damit argumentieren, dass Nestflucht zwar natürlich sei, dass aber das Natürliche auch etwas Derbes, Ordinäres habe, einem wahren Weltbürger aber könne ein Schuss Perversion nicht schaden. Man könnte auch daran erinnern, dass „Nichts wie weg!“ der Ruf der Pubertierenden sei. Zwar ist es ein bisschen gemein, die so oft verunglimpfte Pubertät schlecht zu machen. Aber ein Blick in die Aufzeichnungen Halbwüchsiger oder, da nur noch in Sonderfällen aufgezeichnet wird, ein Belauschen ihrer Unterhaltungen zeigt, dass das Wegwollen von Zuhause immer noch ein pubertäres Dauerthema ist. Hänschen klein empfindet immer noch die Wände der elterlichen Wohnung und die Mauern des Wohnorts als bedrückend und will in die weite Welt hinein. Wenn die Pubertät richtig schön blüht, dann nerven nicht nur die Heimat und das Zuhause. „Welt, wie bist Du enge!“, heißt es dann. Dies ist der Ruf oder Aufschrei oder Seufzer, der sich in Dutzenden von romantischen Texten findet – nicht unklug, weil er besagt, dass man der Enge nirgendwo entrinnen kann. Wozu dann also durch die Welt gondeln und die Tourismusindustrie unterstützen, die die Leichtgläubigen mit Sprüchen von Reisephilosophen ködert: „Der kürzeste Weg zu dir selbst führt um die Welt.“ Wer das glaubt, wird nicht selig.

„Nichts wie weg!“ ist auch der Ruf der Diebe. Zwar sollen an dieser Stelle nicht auch noch die armen Kriminellen verächtlich gemacht werden – aber lieber sind sie uns schon, wenn sie nicht so hastig und hündisch verschwinden, sondern ruhig stehen bleiben, sich souverän der hysterisch herbeieilenden Polizei stellen und ihr lächelnd das Diebesgut aushändigen. Wenn es ihnen später im Gefängnis zu eng wird, können sie immer noch bei Nacht und Nebel mit einem guten Plan entkommen. Davonlaufen aber hat so etwas Unwürdiges, Windiges.

Am meisten Angst, für provinziell gehalten zu werden, haben die provinziellen Gemüter. Provinziell ist immer eher ein Charakter, weniger ein Ort. Das grässlichste Provinzkaff hat immer noch einen passablen Waldrand, an dem man die hässlichen Neubauten nicht sieht, und ist eher zu ertragen als die Gegenwart eines provinziellen Charakters, den man an seinem ständigen Schimpfen auf die Provinz erkennt, in der nichts los sei, und an seinem Schwärmen von fernen Orten, wo man angeblich ganz anders atmen könne. Den einen tut das Scheiden, den andern das Bleiben weh.

Die Gegend, aus der man stammt, gilt als eng, selbst wenn es eine Großstadt ist. Kein Münchner, der auf sich hält, will sein Leben lang im engen königlichen München wohnen bleiben. Wenigstens ein paar Jahre weites kaiserliches Wien oder Berlin sollen die Biografie aufwerten. Doch auch die wahren Wiener und Berliner beschimpfen ihre Stadt als Nest und wollen weg. Nach New York natürlich. Mindestens. Eigentlich ist ein Mensch, der nicht zwei Wohnsitze hat, eine arme Wurst. Lebt in London und Mailand, heißt es von einem Designer, der auf sich hält. Und jeder, den sein Geburtsort als engen Alpenländler verrät, sollte sich um mindestens zwei für ihre Weit- und Weltläufigkeit berühmte weitere Wohnsitze bemühen. Lebt im Ötztal sowie in Buenos Aires und Kalkutta. Zieht es Leute, die aus Gebirgsgegenden stammen, eher in die Ferne als solche, die in einem schnuckeligen Fischerhäuschen im Angesicht des Meeres aufgewachsen sind und die dann eben von der ewigen Weite die Nase voll haben? Keine Ahnung. Die Enge eignet sich in jedem Fall besser zum Zetern. Deswegen wird in der Schweiz und in Österreich besonders auf die Enge geschimpft und möglicherweise tummeln sich in Neuseeland oder Kalifornien mehr entfleuchte Tiroler oder Berner Oberländler als Ostfriesen oder Leute aus dänischen Dörfern, weil die Flachlandtiroler schlecht sagen können: Ich musste in die weite Welt, weil ich die Weite meiner Heimat nicht mehr ausgehalten habe. Obwohl das interessanter klingt als die scheinbar plausible Tiroler Ausrede: Ich habe den Schatten dieser vielen verdammten Berge nicht mehr ausgehalten.

Enge ist was Dunkles für die Nacht. Eng will sich der Liebhaber in oder an die Liebste drücken. Die Heimat aber ist die Liebste nicht, die Heimat ist mehr eine Mama, die einen bedrängt. Man muss Abwehrkräfte bilden, wenn man nicht weg will, das ist klar. Sonst endet man als Ehrenvorsitzender des örtlichen Unkrauterhaltungsvereins. Aber genau an dieser Abwehr reift man. Indem man lernt, den Kopf zu schütteln, entwickelt man mehr Individualität, als wenn man in Borneo nickend einem Reiseführer lauscht, der einem die unbegreiflichen Rituale der letzten Urwaldbewohner erklären will. Und wenn man als Bauernbub von der Alm kommt und später als Hotelkoch in Shanghai Leckereien für Investitionsganoven und Chinatouristen zubereitet, kann man es zwar täglich toll finden, tausende von Kilometern fern der bedrückend engen Heimat zu leben, der weitere, interessantere Mensch ist man dadurch nicht unbedingt geworden. Die einfachen Liebesgeschichten, die sich auf engstem Raum am heimatlichen Wohnort abspielen, sind meist sehr viel aufregender und erfahrungsbildender als die Auslandsaufenthalte der Entflohenen.

So eng übrigens ist es nicht hier. Ob man nun prosaisch pinkeln will oder poetisch mit seiner Liebsten allein sein: Man wird nicht nur in Tirol, sondern an vielen Stellen des guten alten Europa rasch ein hübsches Plätzchen finden, an dem man ungestört ist. Nach einem solchen locus amoenus wird man sich auf der völlig überbevölkerten Insel Java zum Beispiel vergeblich sehnen. Die Alpenländer würden einem dort wie unberührteste Natur vorkommen, die den Verliebten herrlichen Schutz gewährt.

Keine Sorge, wir wollen keinen Verein gründen, der die Teilung Europas in autonome Kleinstaaten zum Ziel hat. Weg mit dem Euro, lauter eigene Währungen. Das hätte schon was. Am Aussterben der Dinosaurier kann man sehen, dass kleinere Organismen besser überleben können. Ein souveränes Tirol, Einreise nur mit Visum, das wäre nicht unattraktiv. Unbedingt ein Verbot, Gartenzwerge aufzustellen. Dafür jedem europäischen Zwergstaat eine eigene Eisenbahnspurbreite! Mit dem gedankenlos-bequemen Reisen wäre dann Schluss. Auch das Umsteigen gehört schließlich zur Kultur.

Wie? Ob wir etwas gegen die multikulturelle Gesellschaft haben? Aber nein doch! Wir lieben den Mischmasch und das Durcheinander und die Sitten anderer Länder. Kommet zu uns, die Ihr es bei Euch zu Hause nicht aushaltet, kommet zu Hauf, seid unser Gast, bescheret uns Eure Leckereien, bereichert unsere Speisekarten und erzählt von Euren Ländern, zeigt uns Fotos und Filme und erspart uns, dass wir selbst überall herumfahren müssen. Aber erzählt uns die Wahrheit.

 

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