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Die Frau, die einen Tag lang berühmt war

Elfriede Metz arbeitete als Dienstmädchen bei Winston Churchill. Heute schaut sie zurück auf ein Leben, das an einem Punkt die falsche Richtung genommen hat. Von Georg Diez

Auf dem Bild ist ein schönes Mädchen zu sehen, das dem Leben mit einem Lächeln begegnet und den Kopf gerade hält. Der helle Pelzmantel steht ihr gut und auch der enge Rock. Sie trägt Schuhe, die hohe Absätze haben, und schwarze Handschuhe, die bis zum Ellenbogen reichen. Der Bürgersteig, den sie entlang läuft, scheint nur dazu da zu sein, sie schweben zu lassen. Morgen wird dieses Bild in vielen Londoner Zeitungen zu sehen sein. Morgen wird Elfriede Gebesmaier für einen Tag lang berühmt sein.

„Ich habe“, sagt sie, „nicht genug kriegen können vom Leben damals.“ Heute heißt Elfriede Gebesmaier Elfriede Metz, und alles ist anders. Wenn man in Innsbruck von der Ingenieur-Etzel-Straße in die Bienerstraße abbiegt, dann fährt man unter einem Bahndamm hindurch. Wenn man hinter der Unterführung nach rechts schaut, stehen dort drei hohe Wohnhäuser, die schiefergrau sind und farbige Balkone haben. Rot, blau, gelb. Vor einer Einfahrt hängt ein verbogenes Schild, das in strengen spitzen Buchstaben erklärt: „Jegliche Materialablagerungen sind bei Strafe verboten“. Gegenüber auf der anderen Straßenseite reihen sich Abfallcontainer aneinander, Altpapier, Buntglas, Weißglas. Auf den Containern kleben große Fotos, auf denen jeweils ein Augenpaar zu sehen ist. Wo lagern Erinnerungen?

„Ich weiß auch nicht, was die Leute immer haben, was ist denn daran so besonders interessant“, sagt Elfriede Metz, als sie einen Zeitungsartikel auseinanderfaltet, der ein paar Jahre nach ihrem Londoner Auftritt erschienen ist, am 18. März 1966 in den „Tiroler Nachrichten“ – da war sie schon eine ganze Weile wieder zurück in Österreich. Winston Churchill ist auf einem der Fotos zu sehen, wie er aus dem Fenster schaut, in der einen Hand eine dicke Zigarre und neben sich seine Frau, „die Lady Clementine“, wie Elfriede Metz sie nennt. Dann gibt es noch das Foto von einem mächtigen englischen Steinhaus und ein Bild dieses Mädchens, das den Kopf etwas schief hält, das dunkle Haare hat und sehr wache Augen. Ihr Mund ist auf diesem Foto zu einem strengen Strich gezogen.

„Das Leben hätte ganz anders werden können“, sagt Elfriede Metz, „aber wer garantiert mir denn, dass es drüben besser gewesen wäre?“

Vor dem Fenster fließt der Fluss vorbei. Die Wolken schwappen von den Bergen ins Tal und bleiben an den Häusern hängen, umfassen die Menschen, bedrücken die Sinne. In Fetzen hängen sie herab, wie ein nasses Tempotaschentuch, das unter der Feuchtigkeit zerfällt. Reste von Weiß kleben in den grünen Hängen, schmutzig, unschuldig, nah. Zu greifen, aber nicht zu erreichen.

Wenn Bewusstsein ein Strom ist, wohin fließt er dann?

Viereckige Balkone schauen zur Sill, die dahin rauscht, unter der Betonbrücke hindurch. Bänke am Ufer, um Bäume gewickelt und leer, bis auf die Vögel, die dick und träge hier hocken. Die Hecke blüht in Gelb und ist gerade geschnitten wie ein Steinblock. Eine Frau zieht einen Koffer hinter sich her, sie hinkt. Eine andere, ältere Frau läuft ihr entgegen, eine helle Plastiktüte in der Hand. Es ist kühl. Gerade hat es geregnet. Es wird wieder wärmer werden. Auf dem nassen Asphalt liegen gelbe Blüten. Dazwischen ein Zigarettenstummel mit einem Rand von rotem Lippenstift.

„Damals war ich schick“, sagt Elfriede Metz, die in der engen Ein-Zimmer-Wohnung am Fluss sitzt, in die sie erst vor ein paar Monaten gezogen ist. Dann lacht sie, als ob sie damit die Gespenster verscheuchen will, faltet den alten Zeitungsausschnitt zusammen und zupft sich ihre blaue Thermoweste zurecht. Sie trägt einen blauen Pulli, blaue Hosen, blaue Schuhe. Die Haare türmen sich grau auf ihrem Kopf. Vor kurzem ist sie 60 geworden. Und die Erinnerung an die Schönheit ist aus ihrem Gesicht gewichen.

Der Tag, an dem sie berühmt war, war ein Tag im November oder Dezember 1962, so genau weiß sie das nicht mehr. Das Foto mit dem edlen Pelzmantel zeigt sie in London auf dem Weg ins Gericht: das Dienstmädchen, das den Gauner erwischte, der bei Winston Churchill einbrach. An diesem Tag sagte sie als Zeugin aus. Den Pelzmantel hatte sie sich von der kleinen Erbschaft gekauft, die ihr ihre Eltern hinterlassen hatten.

„Na, wie es halt so geht“, sagt sie, als sie in dem Album blättert, in dem sie die Zeitungsausschnitte aufhebt und in dem auch die milchigen Farbfotos von damals kleben. Sie war 19, sie war aus einem kleinen Dorf, sie wollte leben. Das geerbte Geld jedenfalls war schnell weg. Aufgewachsen ist Elfriede Metz bei einem Vormund, der sie nur in die Kirche gehen ließ und sonst nirgendwo hin. „Ich wollte fort aus diesem Gefängnis“, sagt sie, „nur fort“. Gerade vier Monate war sie als Dienstmädchen bei Winston Churchill, als der Einbrecher sich ausgerechnet das Haus des ehemaligen britischen Premierministers aussuchte. Ein offenes Fenster in der Küche, ein paar Fußabdrücke, nur ein hungriger Kerl, erinnert sich Elfriede Metz, der wohl ein Messer dabei hatte. Aber das sei von den Zeitungen ziemlich aufgebauscht worden. „Der arme Mann saß noch ganz verschüchtert irgendwo im Haus“, sagt sie, „der hat richtig Pech gehabt.“

Sie war schön, als sie an jenem Tag in den Gerichtssaal trat, und sie war schön, als sie wieder heraus kam. Das Leben lag vor ihr, sie musste bloß zugreifen. Aber sie wusste nicht wie.

Aus der Klarsichtmappe holt Elfriede Metz das Zeugnis heraus, das sie ihr im Sommer 1963 ausgestellt haben, „und das hat nicht jede bekommen“, sagt sie. Eine energische Unterschrift erzählt, dass die Churchills sie mit besten Empfehlungen in die Welt schickten. Sie war nach England gekommen, um die Sprache zu lernen, „das konnte nicht schaden, dachte ich“. Damals, Anfang 1962, arbeitete sie in einem Hotel in den Alpen; in der Agentur, über die sie eine Dienstmädchenstelle im Ausland suchte, sagten sie, sie hätten da etwas ganz besonderes, Elfriede müsse sich nur schnell entscheiden. „Als ich dann das Haus in dieser Sackgasse sah, habe ich gedacht, ich habe mich in der Adresse geirrt.“ Drei Stockwerke, ein einfacher Ziegelbau. Nur an dem Polizisten vor der Tür hat sie gemerkt, dass sie richtig war.

Ein Jahr blieb sie bei den Churchills, lebte mit dem fast 90-jährigen Politiker abwechselnd im Haus Hyde Park Gate Nummer 28 in London und auf Chartwell, dem Landsitz des alten englischen Geschlechts der Marlboroughs, wo die Fahne wehte, wenn Churchill da war. Blümchentapeten hatten die Zimmer der Dienstboten in London und auch auf dem Land; nur waren die Blümchen auf dem Land rosa.

Es ist merkwürdig, wenn Elfriede Metz von dieser Zeit erzählt, die über 40 Jahre zurückliegt. Zwischen damals und heute klafft ein Loch, zwischen der Elfriede von damals und der Elfriede von heute scheint es wenig zu geben, das die beiden verbindet. Etwas ist passiert damals, und es scheint, dass das ihren Willen gebrochen hat. „Besonders ehrgeizig war ich nie“, sagt sie, aber so ein Satz erklärt ja nicht wirklich viel.

Schwarze Schwäne schwimmen auf einem Teich in Chartwell; der große Swimmingpool, in dem sie baden durften, wenn gerade keine Gäste da waren; Churchill am Goldfischteich; der Rosengarten, wo sie sich fotografieren ließen, Elfriede und die drei anderen Dienstmädchen, die sich um den Butler drängeln, der in seiner weißen Kleidung sehr gut aussieht.

„Abends hat der Walter schwarz getragen, tagsüber weiß“, sagt Elfriede Metz, als sie umblättert, „den müssen Sie fragen, der kennt sich aus. Der war ja viel länger bei den Churchills als ich.“ Das Papier ist vergilbt, die Farben sind verblasst, eine bunte Fahne flattert in einem hellblauen Himmel. Elfriede Metz hält ein Blatt Papier über eine Seite. „Na, alles dürfen Sie nicht sehen.“

In der Küche hat sie gearbeitet, zusammen mit den anderen, die aus Deutschland waren oder aus der Schweiz. Nur die Putzfrau, sagt sie, die war Engländerin. Und so saß Churchill, der alte, aufmerksame, höfliche, störrische Churchill, der Kriegspremier, der Literaturnobelpreisträger, der Blutschweißundtränen- Churchill, der in Chartwell ein eigenes Kino hatte, wo er sich gern alte Kriegsfilme anschaute und dann besonders laut jubelte, wenn die Deutschen endlich ordentlich vermöbelt wurden, dieser Churchill also saß in seinem großen Bett und ließ sich das Frühstück von einem Mädchen servieren, das „das mit den Juden“ nicht wusste. „Da hat ja keiner was gesagt, wo ich herkomme“, sagt sie und holt die Weihnachtskarte heraus, die sie ihr 1962 gaben. Eine Szene aus Südfrankreich, Cap Ferrat, Häuser, Boote, Meer, leicht impressionistisch hingemalt; „by Churchill“ steht rechts unten. „Einen richtigen Weihnachtsbaum haben sie für uns gekauft, eine echte Tanne“, sagt Elfriede Metz und klappt das Album zu.

Es ist keine tragische Geschichte, die Geschichte der Elfriede Metz, aber eine traurige Geschichte ist es doch. „Ich hab schon Pläne gehabt“, sagt sie. 40 Jahre hat sie in Innsbruck gearbeitet, die meiste Zeit in der Tyrolia Buchhandlung als Putzfrau. „Aber wissen Sie“, und wahrscheinlich glaubt sie, was sie jetzt sagt, „das ist eine gute Eigenschaft von mir: Ich schaue nicht zu oft zurück. Nur dann“, fügt sie hinzu und deutet auf mich, „wenn jemand kommt und fragt.“

In dem Haus, in dem sie jetzt wohnt, ist sie eine der jüngsten. Lauter Ein-Zimmer-Wohnungen, lauter alte Menschen, lauter Erinnerungen, die hier lagern. Der Gang hinter zu ihrer Wohnung ist lang und schwach beleuchtet, auf dem glatten Boden spiegelt sich das Licht, das vom Ende des Ganges kommt. So muss man sich auch die Windungen der Erinnerung vorstellen. Seit damals war Elfriede Metz nicht mehr in London; überhaupt war sie nicht mehr viel unterwegs, seit sie 1965 wieder zurück kam, für ein paar Wochen nur. Dann sollte es ja weiter gehen, nach Paris. Französisch lernen, das konnte nicht schaden. Im Jahr 1965 starb auch Winston Churchill, aber daran erinnert sie sich jetzt gerade nicht. Zwei Jahre war sie noch in London, nachdem sie die Churchills verlassen hatte, obwohl die sie länger behalten wollten; sie hat damals bei einem Filmregisseur aufs Kind aufgepasst, „der Fratz“, und vielleicht auch ein bisschen auf dessen Frau, die zu viel trank. Vielleicht hat sie auch nicht auf sie aufgepasst. Es waren eben wilde Tage in den frühen Sechzigern, in London, als die Popkultur explodierte und alles möglich war, vor allem für ein Mädchen, das Augen und Beine hatte wie Elfriede Metz, die damals noch Gebesmaier hieß. „Ich habe mein Leben gelebt“, sagt sie und lächelt etwas süßlich. „Aber ich wäre mit Leib und Seele Engländerin gewesen.“

Als sie im Juli 1962 nach London kam, war „der Sir Winston“ schon sehr krank. Gelegentlich brachte sie ihm das Frühstück ans Bett, in dem er saß und Zeitung las. Churchill wohnte in einem eigenen Trakt des Hauses, ließ sich sein Beefsteak, die Lammkoteletts, den Speck mit Ei und die anderen schwerverdaulichen Dinge servieren, und meistens fragte er höflich, wie es denn Elfriede so gehe. „Die Lady Clementine“ dagegen, erinnert sie sich, die frühstückte immer recht früh und immer das gleiche, eine halbe Grapefruit, Tee und Toast. „Die hat eine Disziplin gehabt“, sagt Elfriede Metz, sie habe sich sogar umgezogen und Schmuck angelegt, selbst wenn sie alleine gegessen hat. „Die hat sich keine Minute gehen lassen“, sagt Elfriede Metz, und erst wenn man ihre ganze Lebensgeschichte kennt, wird klar, warum sie das so beeindruckt hat.

Sie muss eine strenge Frau gewesen sein, diese Lady Clementine, von der Elfriede Metz erzählt, streng und herzlich zugleich. Sie war es, die Elfriede ausschimpfte, wenn die mal wieder den Englischunterricht geschwänzt hatte und lieber durch Londons Straßen gelaufen war; sie war es, die Elfriede zu sich rief, wenn die mal wieder Knoblauch ins Essen gemischt hatte, obwohl sie doch genau wusste, dass Lady Clementine nichts so sehr hasste wie Knoblauch; und sie war es auch, die eines Tages zu Elfriede sagte: „Wir finden schon einen passenden Ehemann für dich.“ Elfriede Metz lacht; diesmal lacht sie recht laut.

Und dann erzählt sie die Geschichte von dem Pudel, der alt war und zahnlos und erbärmlich stank und kein Fell mehr hatte und der Sekretärin der Churchills gehörte. „Die hätte sich für die Lady Clementine erschießen lassen“, sagt Elfriede Metz. Eines Tages also, als die Sekretärin unterwegs war, ließ Lady Clementine den Hund, „den räudigen Hund“ einschläfern und kaufte einen neuen. „Ich habe die Lady verstanden damals, so wie der Hund gestunken hat“, sagt Elfriede Metz, „aber die große Freiheit ist das
auch nicht.“

Es ist nicht ganz klar, ob sie sich bewusst ist, wie sehr die Geschichte von dem Ehemann und die von dem Hund zusammenhängen. Sie erzählt lieber von dem „Küchengerücht“, dass Lady Clementine auf Königin Elisabeth eifersüchtig gewesen sei, weswegen die nie zu ihnen nach Hause eingeladen worden sei; sie erzählt von den blaustichigen Haaren, die sich Lady Clementine immer mit Benzin spülte; und sie erzählt, wie sich Lady Clementine auf die Treppe stellte, damit das Personal sie bewundern konnte. „Das waren schon tolle Leute.“ Und dann sagt sie schließlich noch einen Satz, der vielleicht klar macht, wie sehr Elfriede Metz doch ihr Leben begriffen hat: „Ich habe die Lady so bewundert“, sagt sie, „das wäre ein Drama geworden.“

Sie hätte sich zu sehr aufgegeben. Sie wäre zu sehr abhängig gewesen. Sie hätte das Leben aus der Hand gegeben. Sie wäre Lady Clementines Pudel geworden. Also ging sie. Suchte das Leben oder was sie davon fassen konnte in London, wollte weiter nach Paris, ein paar Wochen nur wollte sie daheim in Tirol bleiben, etwas länger als geplant, weil die Freundin, mit der sie nach Paris wollte, noch zu tun hatte. Und gab das Leben selbst aus der Hand. So einfach ist das manchmal.

Elfriede Metz ist nicht bitter, wenn sie davon erzählt; so wenig wie sie schwärmerisch ist, wenn sie von London erzählt, von den Churchills oder den zwei wilden Jahren danach; „man möcht’s nicht glauben, was da so möglich war“, das ist alles, was sie sagt. Und: „Wir haben gut gelebt.“ Damit meint sie die Zeit in Chartwell. Das Leben schien neben ihr her zu laufen, damals, schneller, als sie schauen konnte. Dann stoppte es einfach. „Ich hab hier in Tirol einen kennengelernt“, sagt sie und schaut nicht in den hellbraunen Kaffee und nicht aus dem Fenster, sondern mir direkt ins Gesicht. „Und bin hier hängengeblieben.“ Eigentlich war sie mit einem Engländer zusammen, aber dann hat sie eben den Mann geheiratet, von dem sie schwanger war. „Den falschen Mann.“ Wie sie das sagt. Sie lächelt diesmal nicht, aber sie klagt auch nicht. Sie hat einen Sohn zur Welt gebracht, sie hat sich scheiden lassen, sie hat 40 Jahre lang geputzt. Sie hat ihr Leben gelebt. Aber wie sie davon redet. Es ist, als ob sie von einer fremden Person erzählt.

Der Himmel hat sich gelichtet. Drüben an der Bushaltestelle stehen ein paar junge Mädchen, den Bauchnabel tragen sie frei, sie sind deutlich zu kühl angezogen für das Wetter. Die Mädchen halten Zigaretten, an denen sie gelangweilt ziehen. Als ich in den Rückspiegel schaue, sehe ich, wie sich ein Junge zu ihnen stellt. Sie reden miteinander. Die Mädchen lachen. Und der Wind nimmt ihren Rauch mit.

 

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