zurück zur Startseite

Grüß Gott in Vomperberg!

Auf einem Hochplateau am Rande des Karwendelgebirges liegt eine Reihenhaussiedlung, die ausschaut, als habe sich ein Amerikaner in Tirol die Schweiz gebaut: das Weltzentrum der „Gralsritter“. Auf der anderen Seite der Ebene führt Otto Astner die „Karwendelrast“. Und das ist nicht weniger mysteriös. Michaela Nolte auf der Suche nach Durchleuchtung.

Eine spirituell versierte Freundin hatte den Namen schon einmal gehört; ein befreundeter Pfarrer verwechselte die Gralsbewegung mit den Rosenkreuzern. Die Ausbeute meiner persönlichen Berliner Umfrage war spärlich, meine eigenen Gralskenntnisse auf mittelhochdeutsche Heldenepen reduziert und auf Richard Wagners „Parsifal“, der den Gral nach jahrzehntelanger Irrfahrt immerhin findet und es damit allabendlich auf der Bühne zum König bringt, während Monty Pythons „Ritter der Kokosnuss“ den Gral mit ihrem Galgenhumor vergeblich suchen.

Nun sollte also zu Beginn des dritten Jahrtausends in den österreichischen Alpen der Sinn des Heiligen Grals und damit das Paradies auf Erden zu finden sein! Das alles sehr geheimnisumwittert, christlich durchwoben und hinter den Mauern einer alpenländischen Mustersiedlung, wo die Messen in einer Pyramide stattfinden und nur den „Versiegelten“ Einlass gewährt wird. Da nur der Wissende in die Heiligtümer vorstoßen kann, beschließe ich – frei nach Ossip Mandelstam – meine Reise lesend im Kopf zu beginnen. Am Rande von Berlin bietet ein Antiquariat für Grenz- und Geheimwissenschaften tatsächlich das Evangelium der Gralsbewegung feil. Meine Hausbibel benötigt für das Alte und Neue Testament rund 1100 Seiten, freilich in kleinem Schriftgrad, dafür aber inklusive Anmerkungen und bekanntlich von diversen Autoren geschrieben. „Im Lichte der Wahrheit“ kommt die Gralsbotschaft auf 1300 Seiten,
die allein der Feder von Abd-ru-shin entstammen.

1875 als Oskar Ernst Bernhardt in Sachsen geboren, gibt er den Wunsch, Theologie zu studieren, auf Drängen der Mutter auf und wählt den Beruf des Kaufmanns. Weit gereist und umfassend gebildet, versucht sich Bernhardt wiederholt als Schriftsteller, ist an unterschiedlichen Firmen beteiligt, die sich als marode erweisen, und wird während des Ersten Weltkriegs auf der Isle of Man interniert, wo er seinen endgültigen Ruf als Mittler zwischen Gott und der Menschheit empfängt. In der Gralsbotschaft entfaltet er ein komplexes System aus weltanschaulichen und gnostischen Elementen, gepaart mit apodiktischer Kritik gegen die „Verstandestyrannei“ und die Geisteswissenschaften.

Auf der Suche nach dem „besonderen Ort“ pendelt der Menschensohn unstet zwischen Deutschland, Österreich und der Schweiz, hält öffentliche Vorträge und gründet zu Beginn der 20er-Jahre den Orden „Der Gral“. Wegen wirtschaftlicher Vergehen wird er wiederholt verurteilt und inhaftiert, bis er sich 1928 mit seiner zweiten Frau Maria und deren Kindern in Vomperberg niederlässt. Das kaum besiedelte Hochplateau am Rande des Karwendelgebirges bietet Bernhardt einen Rückzugspunkt. Doch drängt es Anhänger in seine Nähe und binnen drei Jahren entsteht die Gralssiedlung, in der bisweilen über hundert Menschen lebten und arbeiteten. Mit dem „Anschluss Österreichs“ wird die Gralsbewegung 1938 von den Nationalsozialisten enteignet. 1945 erhält Maria Bernhardt das Anwesen zurück und führt das Werk ihres 1941 in der deutschen Verbannung gestorbenen Mannes weiter.

Wenn Parsifal in Wagners Bühnenweihfestspiel nach dem Gral fragt, verkündet Gurnemanz mit sonorem Bass: „Das sagt sich nicht“. Abd-ru-shin hingegen weiß: „Der Mensch sollte davon abkommen, den Heiligen Gral nur als etwas Unfassbares zu betrachten; denn er besteht wirklich! Es ist aber dem Menschgeiste versagt, ihn jemals erschauen zu können.“ Nicht dass ich geglaubt hätte, die „Schale, in der es ununterbrochen wallt und wogt wie rotes Blut, ohne je überzufließen“, auf dem Vomperberg materialisiert zu sehen, aber gespannt war ich auf den Genius loci, wo der Einstrahlungswinkel der Sterne genau so ausfällt, dass die Strahlungen dem irdischen Aufbau der Sache Abd-ru-shins förderlich seien. Denn „um alles von der Menschheit Gefehlte hilfreich wieder richtigzustellen, wurde Parzival mit der Grobstofflichkeit verbunden in Abd-ru-shin“, schreibt selbiger in der Gralsbotschaft.

Auf dem Weg in die Tiroler Berge kreisen die Gedanken zwischen christlichem Voodoo, den Scientologen, von denen ich im Jahr zuvor einige kennen gelernt hatte und sie erschreckend normal fand, und den klösterlichen Archen der Hutterer. So weltabgewandt wie die Wiedertäufer in Nordamerika wirkt die Gralsbewegung nicht. Auf ihrer Homepage kann man über den Vomperberg spazieren, die Fahnen verschiedener Nationen, die während der Grals-Feiern gehisst werden, im Winde flattern sehen und ein wenig von der Gralsbotschaft schnuppern. Ganz weltlich starten deutsche Gralsritter ihre Website mit der Werbung eines bekannten Versandkaufhauses; eine Oskar Ernst Bernhardt gewidmete Internet-Adresse veräußert Domains rund um alle Grals-Stichworte und zu horrenden Preisen.

Wie also kann ich mir einen Gralsanhänger vorstellen? Furcht- und tadellos wie Lanzelot in der Artus- Sage oder als futuristischen Erlöser à la Keanu Reeves in „Matrix“? In Naturstoffen gewandet und birkenstockbeschuht wie die Anthroposophen oder eher in schillernd farbige Gewänder gehüllt, wie einst die Baghwan-Jünger?

Während ein Lokalredakteur der Tiroler Tageszeitung auf das Archiv in Innsbruck verweist und abwimmelt („Die Gralerer lassen uns in Ruhe und wir die auch“), gibt sich die Taxifahrerin auf dem Weg vom Bahnhof Schwaz hinauf zum Vomperberg redselig. Mit einem „Grüß Gott, wo bitte geht’s zum Gral?“ habe ich mich gleich enttarnt. „Nach Vomperberg also. Sie gehören aber nicht zu denen!“ Ob man mir das ansieht, möchte ich wissen. „Ein bisschen sieht man’s … außerdem dürfen die Gralsleute nicht Grüß Gott sagen. Kommen Sie zum Treffen?“ Gemeint ist das „Fest der Heiligen Taube“, das die Gralsritter alljährlich Ende Mai begehen. „Scharen kommen da um Pfingsten herum und vor allem viele Schwarze, die wohnen ja bis herunter nach Schwaz. Im letzten Jahr war sogar eine echte schwarze Prinzessin dabei! Aus Nigeria, glaub ich. Und die kaufen dann unheimlich viel Schuhe. Weiß nicht, ob das eine besondere Sorte ist, aber massenhaft Schuhe kaufen die, und deren Anführer ist auch ein Schwarzer.“ Meinem Einwand, dass er einen sehr deutsch klingenden Namen trägt, wird prompt gekontert: „Der Name ist nur angeheiratet! – Aber genau weiß man das nie, man kommt ja bei denen so schwer hinein, das ist nur was für Reiche.“

Wenngleich Abd-ru-shin von einer Schale erzählt, bei Wolfram von Eschenbach ist der Gral ein Stein, und der kommt nun ins Rollen. Noch bevor mir ein Gralsbewegter leibhaftig gegenüber tritt, scheint die Gralswelt in den Tiroler Alpen ihrem internationalen Charakter überaus gerecht zu werden: der Leiter ein Afrikaner mit Namen Siegfried Bernhardt, der Begründer ein waschechter Sachse, der sich Abd-ru-shin nannte, was etwa „Sohn des Lichts“ bedeutet und arabischpersischen Ursprungs ist, der Tempel eine ägyptische Pyramide, die Lehre fest auf dem Boden des Christentums.

Auf dem Berg angelangt, erscheint das Gralsgelände fast enttäuschend normal und erinnert darin wieder ein wenig an die Scientologen. Nur pflegt man hier keinen Turbokapitalismus, sondern einen weitläufig ländlichen Betrieb mit Fremdenverkehr und biologischem Anbau. Einheimische und Touristen wandern über das zauberhafte, durch Moränenbildung entstandene Hochplateau im Schatten des Hochnissls und des Bettelwurfs. Der gralseigene Alpengasthof bietet vorzügliche Speisen à la carte, eine ausgesuchte Weinkarte und ein fantastisches Bergpanorama. Die Pension ist schlicht und bürgerlich, mit echten falschen Bauernmöbeln und Fernsehern mit Satelliten-Receiver. Wegweiser führen zur Reitschule oberhalb der Gralssiedlung, sichtbare Mauern gibt es keine; allein die Pyramide sticht aus dem Ensemble hervor, wenn auch nicht als gigantischer Tempel. Das Grabmal mit der irdischen Hülle Abd-ru-shins bildet eine Reminiszenz an dessen Dasein zu Zeiten Moses, wo er flussaufwärts des Nils als Fürst lebte. Überdies bleibt alles im alpenländischen Rahmen. Man kann in die Gralswelt eintauchen, aber ebenso einen erholsamen Urlaub 566 Meter über dem Meeresspiegel mit Blick auf Kellerjoch, Gilfert und Glungezer verbringen. Die Gralsanhänger versuchen niemanden zu missionieren und sind darin religiösen Gruppierungen wie den „Zeugen Jehovas“ oder den „Mormonen“, die einen schon frühmorgens an der Wohnungstür mit Endzeittheorien behelligen, unbedingt vorzuziehen.

Im Frühjahr präsentiert sich Vomperberg mit Kaiserwetter und durchaus als „Sonnenseite des mittleren Unterinntals“, wie es in der Gemeinde-Publikation „Vomp. Ein Dorf auf dem Weg ins dritte Jahrtausend“ heißt; und wenn im Vorwort Vomp als ein „Staubkorn im All“ bezeichnet wird, dessen Fläche größer als die Wiens oder Liechtensteins ist, so drängt sich das biblische Gleichnis vom Senfkorn und dem Himmelreich auf.

In der 1933 erbauten Gralsverwaltung führt mich ein „Fräulein“ (die Damen gleich welchen Alters stellen sich stets selbst so vor) zu Herrn Bernhardt und sämtliche Grals- und Guruphantasien werden alsbald gerade gerückt. Der Leiter und verwitwete Gatte von Claudia Maria Bernhardt – einer Adoptivenkelin Irmingard Bernhardts, die wiederum als Adoptivtochter Oskar Ernst Bernhardts der Gralsbewegung von 1968 bis 1990 vorstand – ist zwar kein Tiroler, aber ansonsten ist der Herr im mittleren Alter so weißhäutig wie jeder Deutsche vor dem Sommerurlaub.

Die Sachlichkeit und Einfachheit, die Abd-ru-shin in seinen Schriften fordert und beschwört, steht in Perfektion vor mir: weder charismatischer Meister noch Grals-Papst, der zur Audienz bittet, und auch keiner dieser religiösen Phantasten, die einem mit dem ersten Handschlag ihren Heiligenschein aufdrücken. In seinem taubenblauen Daniel-Hechter-Anzug mit farblich abgestimmter Krawatte wirkt er allenfalls wie der Manager eines Gurus. Freundlich steht Herr Bernhardt mir in einem mit Eichenmöbeln bestückten Raum Rede und Antwort und präsentiert die Wirtschaftsbetriebe und Werkstätten, den eigenen Friedhof und die Feuerwehr. Das insgesamt 42 Hektar große Anwesen hat er sich kürzlich gegen eine süddeutsche Fraktion der Gralsbewegung gerichtlich gesichert, die im Gegenzug Vomperberg als Zentrum und Siegfried Bernhardt als Leiter nicht mehr anerkennen.

Derweil eines der Fräuleins ehrfürchtig unterstreicht, dass sich Herr Bernhardt „um den ganzen Erdball kümmern muss“, erzählt er selbst mehr von den Nöten eines Unternehmers mit seinen Angestellten, und dass man die Schweine und Kühe abschaffen musste, weil es heutzutage billiger käme, das Fleisch per Taxi heraufzufahren als die Tiere füttern zu lassen. Als Gralshüter wirkt er betont realistisch und bar jedes esoterischen Elitegehabes. Pläne der 80er-Jahre, als die Bewegung prosperierte und ein kathedralenartiger Tempel für 5000 Menschen geplant war, weist er als übertrieben von sich und „Fanatiker finden kein Pardon, die werden gegebenenfalls ausgeschlossen“.

Zu den Festen im Mai, September und Dezember kommen heute im Schnitt 800 Anhänger, und die finden in der 1952 erbauten Andachtshalle mit 1500 Sitzen allemal Platz. Der schlicht verputzte, einstöckige Bau weist lediglich durch das gleichschenkelige Gralskreuz im Rundfenster und einen kleinen Glockenturm in Form eines offenen Kampanile auf seine Bestimmung hin. Ein paar Schnittblumen und Efeuranken schmücken den Altarbereich und bis auf das erwähnte gelb leuchtende Fensterkreuz überwiegt unterkühltes Grau. Insgesamt verströmt die Halle außen wie innen den Eindruck, dass selbst die Pietisten unter den Lutheranern ein vergleichsweise hedonistisches Dasein führen.

Auf der Höhe der Zeit und Siegfried Bernhardt am Herzen liegt das technische Inventar. Jede zweite Stuhlreihe verfügt über Vorrichtungen zur Übersetzung in vier Sprachen und das Prunkstück ist die elektronische Orgel. Die als Pfeifenstümpfe getarnten Lautsprecher ragen für meinen Geschmack recht verloren über die Empore. Doch mit der Begeisterung eines Vaters, der seinem Sohn die Modelleisenbahn erklärt, lässt er mich wissen, dass man so den Organisten einsparen kann und lediglich eine CD einwerfen muss. Gesungen wird ohnehin nicht, weil sich „Menschen durch ihren Gesang zu sehr profilieren“. Auch diene der geweihte Raum nicht einem gemeinschaftlichen Zweck, sondern nur dem inneren Anliegen eines jeden „Kreuzträgers“, dem Schöpfer Dank und Ehre zu zollen. Darum stehen die Andachten und Feste ausschließlich den Gralsanhängern offen und die Versiegelung gelte nicht nur dem Schweigegelübde, sondern erzeuge einen Schutz auf dem Weg lichtwärts durch komplexe geistige Sphären. Während der Andachten sitzen Männer und Frauen getrennt, und wenngleich es sonst keine Kleiderordnung gibt, erscheinen die Herren im schwarzen Anzug und die Damen im Kleid. Dass Außenstehende ihn darum als konservativ einstufen, nimmt Herr Bernhardt in Kauf, wenn er so „der Vermännlichung der Frau entgegenwirken“ kann. Die weiblichen Mitglieder scheint das nicht zu schrecken, bilden sie doch eine Zweidrittel- Mehrheit.

Dass man vom Auftrag Abd-ru-shins überzeugt sein muss, versteht sich von selbst. Zweifel an der Gralsbotschaft oder eine Art der Exegese liegen den Gralsanhängern fern. So lesen „Berufene“, die man im Unterschied zu den einfachen, silbernen Kreuzträgern am Goldkreuz erkennt, während der Andachten seit nunmehr achtzig Jahren aus der Gralsbotschaft. Denn die verkündet die Wahrheit, und die Wahrheit ist unumstößlich, ebenso wie die drei Schöpfungsgesetze der Schwere, Wechselwirkung und Gleichart. Frei nach dem Paulus-Wort, dass jeder erntet, was er gesät hat, bringt ein Grals-Fräulein die Gesetze auf folgenden Punkt: „Im Jenseits da gibt es einen Raum für die Raucher und einen für die Trinker. Ja, und dann einen Raum für die Guten.“

Die Anzahl derer, die dem Feinstofflichen bereits auf Erden näher kommen, schwankt zwischen fünf- und zwanzigtausend. Aufgrund der losen Organisationsstruktur und nicht zuletzt durch diverse Abspaltungen von Deutschland bis Brasilien ist die gesamte Gralsanhängerschaft nicht genau auszumachen. In der Gemeinde Vomp bilden sie mit knapp sechs Prozent der Bevölkerung statistisch die zweitstärkste Religionsgruppe vor dem Islam und den Protestanten. Aber auch die katholischen Vomper lassen nichts auf die Gralsbewegung kommen. Die Stammtischrunde im Gasthaus ist überzeugt: „Feine und gebildete Leute sind das.“ Nur ein Herr aus dem benachbarten Wattens ist nicht ganz einverstanden, wollte doch der Großindustrielle Daniel Swarovski, der als Berufener auf dem Waldfriedhof der Gralssiedlung seine letzte Ruhestätte fand, „sein gesamtes Erbe den Gralsrittern vermachen! Da ist aber die Familie eingeschritten.“ Die Chronik des Dorfes berichtet stolz, dass Vomp durch die Gralsbotschaft international bekannt und der Fremdenverkehr ein wenig belebt wurde. Insgesamt jedoch hat „die Natur ihre Grenzen gesetzt – auf lange Sicht betrachtet vielleicht nicht zum Nachteil der Vomper Bevölkerung.“ Tatsächlich sind die Berge rundum von Hotelanlagen, Pistenrummel oder Schneekanonen verschont geblieben. Der Priester der gotischen Pfarrkirche in Vomp stünde zum Thema Gralsbewegung leider erst in einigen Wochen zur Verfügung, und ein Telefoninterview findet er zu delikat. In der „Karwendelrast“ wird gar gemutmaßt, sein Vorgänger wurde „nach dem Prozess gegen die Gralerer abgesetzt, damit’s a Ruh gibt“ – schade, dass sich der Vomper Pfarrer ausgeschwiegen hat.

In den Gasthof am westlichen Ende des Hochplateaus und am Eingang zum Karwendel, das bereits 1928 zum Naturschutzgebiet erklärt wurde, kehren Wanderer aus Schwaz ein, aber ebenso ein Lübecker Weinhändler, dessen Familie Thomas Mann unter dem Namen Kistenmaker in den „Buddenbrooks“ verewigte. Als Freund des Hauses kennt der Jetsetter mit spanischer Finca die Gegend und natürlich auch die Gralsritter: „Da haben viele vermögende Menschen ihr gesamtes Hab und Gut hineingesteckt. Na, wenn sie eine Befriedigung dabei finden.“

Der Gastwirt sieht das gelassener. Otto Astner war nie Mitglied der Gralsbewegung, doch „früher waren das alles studierte Leute“, und die Gralsbotschaft hat er als „Heimatlektüre“ studiert. Sein Wirkungskreis war gleichwohl der noble Cresta-Club, wo er in jüngeren Jahren in St. Moritz der Urform des Bobfahrens nachging. Zum Cresta-Run rauscht bis heute manch echtes Blaublut sowie prominenter Geldadel auf hauchdünnen Brettern mit Kufen und bis zu 140 Stundenkilometern durch einen Eiskanal.

In den letzten Kriegswochen war der wegen Führerbeleidigung und Wehrkraftzersetzung zum Tode verurteilte Funker vor den Nazis geflohen und bewies schon dabei seinen Sinn für das Besondere: Mit einem Smoking bekleidet und einem Kinderwagen schlug er sich über weite Strecken zu Fuß von Berlin bis Vomperberg durch, wo die Amerikaner den jungen Soldaten bereits erwarteten. Mit Honig und Speck besorgte sich Otto Astner einen Pass, floh nach Luzern und gelangte mit Hilfe von Gralsanhängern an den Schweizer Hof in Zürich, um sich als Koch ausbilden zu lassen. Heute ist es etwas ruhiger um den älteren Herrn geworden, der hochbetuchten Freunden auf rosaroten Segeljachten Kaiserschmarrn kredenzte, die Urpflanze seiner Clivia-Zucht einer Gräfin von Habsburg verdankt und das Kartenspiel mit Schopenhauer als „deklarierten Bankrott an alle Gedanken“ geißelt.

Doch Otto, wie die Stammgäste das Original liebevoll nennen, kehrte immer wieder in dieses laut Reiseführer „einsamste Gebiet Mitteleuropas“ zurück. Schließlich hatte sein Vater die Karwendelrast im Jahre 1913 erbaut und bis auf eine Erweiterung des Schankraums ist alles unverändert. Beim Umbau fanden sich Gemälde, die Vater Astner nach dem Krieg – während dem die Nationalsozialisten beschlagnahmte Kunstwerke im Keller der Karwendelrast versteckten – kurzerhand in die Wände eingebaut hatte, weil der Firnis auf den Leinwänden einen optimalen Schutz gegen Wind und Kälte abgibt.

Canaletto, Tizian und Tintoretto sollen auf diese Art zu Dämmstoffen umfunktioniert worden sein, und ein kunstsinniger Gralsanhänger, der sich einige Bilder, respektive was von ihnen übrig war, sicherte, wollte das Haus Mauer für Mauer nach weiteren Schätzen durchforsten, um sie vom Zustand der Vernagelung zu befreien. Trotz des Angebots, danach einen neuen und größeren Gasthof zu bekommen, gab sich Otto eigensinnig und geradeso grantig wie der „Philosoph der schlechten Laune“. Dem Kunstsammler wurde die Tür gewiesen und die Karwendelrast mit all ihrem Charme samt der kostbaren Mauern erhalten. Nur die Kunstwelt ist um ein paar Preziosen ärmer.

Zum Gralsgeheimnis und zum Karwendelrast-Mysterium gesellt sich ein weiteres Rätsel. Den Empfangsraum der Verwaltung ziert ein Blumenbild, das zwar weder dem venezianischen Cinquecento noch den beiden Canalettos zuzuschreiben ist; am ehesten erinnert es in seiner subtilen Dunkelstimmung an die schönen Stillleben des spanischen Barock. Herkunft und Maler sind Herrn Bernhardt nicht bekannt; denn es handle sich um ein Fragment, und die Signatur sei mit dem Rest des Bildes verloren gegangen …

Möglicherweise ist eines Tages der Herr Reger aus Thomas Bernhards „Alte Meister“ aus seiner Wiener Geistesproduktionsstätte Kunsthistorisches Museum in die Tiroler Idylle eingekehrt und hat in der Hausisolierung der Karwendelrast seinen Tintoretto gefunden; den Tizian hat er eh nicht gemocht. Aber auch das Paradies auf Erden ist in Vomperberg ja nicht wirklich wieder erblüht und echte Ritter und Apostel gibt es seit dem Weggang von Abd-ru-shin keine mehr. Der Gral erschließt sich halt nur denen, die er geleiten will, und zumindest im Jenseits werde ich der reizenden Wirtin der Gralspension nicht mehr begegnen. Ob ich dereinst in den Raum für die Raucher oder in den für die Trinker eingehe, weiß der Himmel, aber sicherlich wird mir die Gute dann wenigstens einmal von nebenan zuwinken.

 

im Heft weiterblättern


Email

registrieren

Ihre Email-Adresse wurde bei uns registriert und zur Liste der Newsletter-Abonnenten hinzugefügt.
Sie erhalten in Kürze ein Bestätigung per Email.