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Wer braucht Neue Musik?

Johannes Maria Staud ist einer der interessantesten und erfolgreichsten Komponisten Österreichs. Der 29-jährige Innsbrucker verkörpert exemplarisch eine neue Komponistengeneration, die zwar von den strengen Avantgardetechniken der Fünfziger- und Sechzigerjahre geprägt ist, aber dennoch mit der oft zum Dogma verkommenen Nachkriegsforderung nach dem „Traditionsbruch“ nicht mehr viel anzufangen weiß. Ein intellektuell gesichertes Fundament nimmt Staud für seine Musik ebenso in Anspruch wie die lange Zeit verpönte Emotionalität. Mit Carsten Fastner sprach er über den fehlenden Popappeal, die gesellschaftliche Relevanz und die politischen Möglichkeiten Neuer Musik, über die Aktualität des klassischen Werkgedankens und die Marktgesetze im Musikbetrieb.

Carsten Fastner: Seit einigen Jahren kann man einen Boom der sogenannten Alten Musik beobachten, der vor allem deswegen besonders beeindruckend ist, weil er von einem überwiegend jungen, enthusiastischen Publikum getragen wird. Ist es für einen jungen Komponisten wie Sie frustrierend, wenn heute eine drei-, vierhundert Jahre alte Tonsprache besser verstanden oder zumindest besser angenommen wird als die unserer eigenen Zeit?

Johannes Maria Staud: Auch die Alte Musik und sogar die Klassik sind heute ein Minderheitenprogramm. Und das war auch schon zu Mozarts Zeiten so. Auch damals fand Musik für eine kleine, elitäre Minderheit statt, für das gehobene Bürgertum und für den Adel. Ist es nicht eine konstruierte Vorstellung, wenn man glaubt, damals sei alles besser gewesen?

Fastner: Mag sein. Aber auch im Vergleich zu anderen zeitgenössischen Kunstgattungen wird der Neuen Musik kaum breitere Aufmerksamkeit zuteil, schon gar keine mediale. Wären Sie ein Schriftsteller oder ein DJ, ein Schauspieler oder vielleicht auch ein Maler, dann wären Sie sicher schon längst vom ein oder anderen Lifestyle-Magazin abgefeiert worden: als jung, attraktiv, clever, erfolgreich. Sollen derartige Aspekte aus der so genannten ernsten zeitgenössischen Musik völlig ausgeblendet werden – oder würde ihr ein gewisser Popappeal nicht doch ganz gut tun?

Staud: Ich bin wirklich kein Verächter der Pop- oder Clubmusik, ich weiß schon, dass die viel mehr Publikum haben. Nur geht es im Club eben nicht primär um die Musik, sondern darum, dass jeder ganz genau weiß, dort sind die schönen Frauen und da muss man hin. Und wenn wir diesen Popappeal hätten, was würde passieren? Dann würden ein paar spitzfindige Unternehmer sofort herausfinden, dass es jetzt hip ist, zur Neuen Musik zu kommen, dann gäbe es sofort das passende Styling dazu und die Sache wäre über kurz oder lang künstlerisch korrumpiert. Natürlich gibt es auch ernstzunehmende Versuche in Richtung Popappeal: Komponisten wie Bernhard Lang etwa, der ein Konzert für zwei DJs und Orchester schreibt, oder Wolfgang Mitterer, Christian Fennesz und überhaupt die Elektronik-Szene, die sich irgendwo zwischen Club und Konzertsaal tummelt. Es gibt Olga Neuwirth, die in jedem Interview die Zustände der Neuen Musik bemängelt. Und trotzdem glaube ich, dass die Neue Musik einfach nicht auf der Seite der Wohlfühler und der entspannten Chill-out-Lounge- Benutzer ist. Sie ist eben auch eine Vergegenwärtigung unserer gesellschaftlichen Probleme und sie ist, wie jede Kunst, ein Podium für Dinge, die in unserer Gesellschaft nicht funktionieren.

Fastner: Wie kann die Neue Musik ein solches Podium sein, wo ihr die Breitenwirksamkeit fehlt?

Staud: Einfach indem die Leute, die im Konzertsaal sitzen, sagen können: Siehst du, wenigstens sind noch ein paar andere da. – Aber was sollen diese andauernden Klagen, dass der Neuen Musik das Publikum fehlt? Es gibt sehr interessante Menschen, die sich für Neue Musik interessieren und begeistern. Das alles ist ein Dilemma, mit dem ich mich gar nicht so richtig beschäftigen kann. Auch der ständige Vorwurf, wir säßen im Elfenbeinturm, geht mir auf die Nerven. Man braucht manchmal diese Elfenbeintürme, man braucht auch die Leute, die etwas schreiben, was kein Mensch hören will! Eine Gesellschaft mag sich über das definieren, was von der Mehrheit sofort rezipiert wird, aber entscheidend ist, wie sie mit ihren Minderheiten, mit den unbequemen Denkern und den Gegen- den-Zeitgeist-Schreibern umgeht. Und was noch dazu kommt: Wir sind natürlich ein Überbleibsel aus der bürgerlichen Epoche mit ihrem Glauben an das Hehre und Bleibende. Nur ist das absolut kein unschöner Gedanke. Nichts gegen die Leute, die ihre Musik ausschließlich für den Moment schreiben, aber mir ist das ein bisschen zu wenig, weil dabei die Substanz schnell abhanden kommt.

Fastner: Was ist die Substanz?

Staud: Ein Beispiel: Ich werde oft gefragt, warum ich heute, im Zeitalter des Computers, meine Sachen noch so genau von Hand ausnotiere. Das sei doch altmodisch. Ich glaube, die Frage der Technologie ist noch keine Frage der Zeitgenossenschaft. Nur weil jemand mit Computern virtuos umgeht, kann er formal immer noch auf die ältesten und völlig abgestandenen dramaturgischen Modelle zurückgreifen. Da hat er sich noch lange nicht über das hinweg gesetzt, was seit Jahrhunderten wohlerprobt ist und völlig unreflektiert funktioniert. Ich verlange von Kunst, dass sie mir ganz neue Klänge zumutet, aber auch, dass sie strukturell und intellektuell über das Patentrezept „Neue Musik meets coole Computerklänge“ hinausgeht. Der zeitliche Aufwand, den ich mit meiner Musik betreibe, wird in keiner Weise durch die paar Minuten Resultat gedeckt. Meine Musik ist total unökonomisch geschrieben – und genau dadurch bleibt ihr ein utopisches Moment erhalten. Eine tiefgründige Beschäftigung mit dem Material macht für mich einen Komponisten aus. Die absolute Verfügbarkeit von Fantasie im Augenblick ist mir suspekt. Es gibt Musikbereiche, wo so gearbeitet wird, wie immer man sie nennt: zwischen Elektronik, Improvisation und Komposition, Free Jazz und experimenteller Musik. Aber das ist überhaupt nicht mein Ding.

Fastner: Sie sind ganz beim klassischen Werkgedanken? Staud: Absolut. Und den finde ich ungleich moderner als dieses Geschwätz von wegen „Musik zwischen den Stühlen“ und „Grenzbereiche ausloten“.

Fastner: Was macht ihn moderner?

Staud: Wahrscheinlich seine Unzeitgemäßheit. Natürlich ist die Musik eine flüchtige Zeitkunst, aber gerade deshalb sollte man als Komponist so schreiben, dass man es bedauert, wenn sie vorbei ist. Mit anderen Worten: Man sollte versuchen, diese flüchtigen Momente zu beschwören – nämlich mit absolut genauer, minutiöser Fixierung. Ich würde in meiner Musik den Interpreten auch niemals improvisatorische Freiheiten lassen. Ich will da keine Klischees, die sich ein Musiker zurechtgelegt hat, das hat da nichts verloren. Sicher spielen die Interpreten eine wichtige Rolle, können sie etwas neu gestalten oder beleuchten. Aber Improvisation? Bei mir nicht.

Fastner: Tatsächlich ist in Ihrer Musik alles bis ins letzte Detail ausgearbeitet. Betrachtet man Ihre Partituren, könnte man Ihnen durchaus einen gewissen Horror Vacui unterstellen: Kaum eine Note, unter der nicht irgendeine Spielanweisung stünde, keine Stimme, die nicht präzisest ausgefeilt wäre.

Staud: Das stimmt schon, da ist immer irgendetwas los. All die Crescendi und Diminuendi, Sforzati und Akzente sollen der Musik Leben einhauchen. Ich gestalte sie bis ins letzte Detail liebevoll aus, damit alles möglichst plastisch wird. Ich muss dazu sagen, dass ich kein deduktiver Komponist bin, sondern ähnlich wie Morton Feldman ein induktiver. Man beobachtet Kleinstbausteine, kommt damit eine Zeit lang aus, und wenn es zu schematisch wird, werden bestimmte Parameter verändert oder durchmischt. So entsteht in einem Arbeitsprozess laufend komplett neues Material, das sich vom Grundmaterial entfernt. Es gibt also einen dauernden Zwang zu erfinden, um diesen ganzen Betrieb in Schwung zu halten. Man beobachtet permanent das System und die formale Gesamtstrategie, die eben nicht im Vorhinein festgelegt wurde, sondern sich beim Komponieren entwickelt. Diese Kompositionsweise ist doch letztlich genauso konsequent wie die serielle Musik mit ihrem deduktiven Ansatz.

Fastner: Das klingt ja fast nach einer Verteidigung. Steht diese induktive Kompositionsweise in schlechtem Ruf?

Staud: Sie bewahrt sich leichter die Möglichkeit flexibel einzugreifen, ohne ein vorher festgesetztes System zu verletzen.

Fastner: Ist das ein Problem der seriellen Musik? Staud: Ich halte die serielle Musik für nicht so problematisch wie das viel zu viel getan wird. Die schlechten Komponisten dieser Zeit haben sich stur an ihren Bauplan gehalten, während die guten gleich ausgeschert sind oder ihr System so klug gewählt haben, dass sie es nicht zu sprengen brauchten. Pierre Boulez zum Beispiel.

Fastner: Dann müssen Sie bitte noch den deduktiven Boulez definieren.

Staud: Deduktion in dem Sinn, dass man schon vor dem Schreiben sein Material präorganisiert und das dann durchexerziert. Bei Boulez rede ich nicht von der strengen, frühen Phase, sondern ab der mittleren, etwa ab dem Orchesterstück „Pli selon Pli“. Boulez schafft es, in einem vorher festgesetzten System mit seriell organisiertem Material immer noch, bei der Verarbeitung erfinderisch sein zu können und seine Systeme kollidieren zu lassen. Jedenfalls spürt man bei Boulez so etwas wie einen harmonischen Rhythmus, der nicht zufällig geschieht, sondern im Bauplan integriert ist. Auch mir geht es natürlich um Materialorganisation, aber eben nicht nur. Wenn ich eine bestimmte Konstruktion wähle oder auch, wenn ich in meiner induktiven Vorgehensweise an einen Punkt komme, an dem ich die Entwicklung immer rigider zuspitze, dann tu ich das doch nicht, um einem System zu genügen, sondern weil ich das musikalische Bedürfnis habe, etwas in dieser Form in die Wege zu leiten. Konstruktion und Inspiration fallen absolut zusammen.

Fastner: Ihre Musik wird mittlerweile von hoch renommierten Interpreten wie dem Klangforum Wien oder dem Frankfurter Ensemble Modern gespielt; sie findet überdurchschnittlich viele Zuhörer, nicht nur im Rahmen von Fachmessen wie in Donaueschingen, sondern auch bei klassischen – um nicht zu sagen: konservativen – Veranstaltern wie dem Wiener Musikverein; und es gibt sicher auch schon einige Musikologen, die sich analysierend über Ihr Werk her machen. Mit Blick auf wen komponieren Sie?

Staud: Immer mit Blick auf mich selbst. Ich bin mein optimaler Zuhörer, ich schreibe mir das, was ich selber hören will, was mir als Zuhörer Spaß machen würde. Ach was: Spaß – was mich in einen Strudel reißen würde, was mir die Füße wegzieht, weil so viel passiert, dass ich gar nicht mehr alles aufnehmen kann! Auch wenn das natürlich ein Anspruch ist, der sich niemals wirklich einlösen lässt, weil ich beim Hören ja schon viel zu genau weiß, wie die Musik komponiert ist.

Fastner: Ein ziemlich emotionaler Ansatz.

Staud: Ja, aber der ist sehr genau kalkuliert. Ich schreibe jedenfalls niemals mit Blick auf das Publikum, ohne es deswegen unterschätzen zu wollen. Nur: Was ist das Publikum? Es ist eine Summe von Individuen. Der eine steckt in privaten Schwierigkeiten, der hat in dem Moment ganz andere Probleme als sich auf meine Musik einzulassen. Der nächste hat schlecht gegessen, und wieder ein anderer kann sich gerade voll konzentrieren – und dem gibt die Musik etwas. Was also soll das Publikum sein?

Fastner: Im Fall der Neuen Musik insgesamt doch eine eher überschaubare Gruppe von interessierten Menschen, deren Erwartungen durchaus kalkulierbar sind.

Staud: Ach, das sehe ich nicht so negativ. Musik wird sowieso produziert, egal, ob sie viel Publikum hat oder nicht. Die Werke entstehen, weil sie entstehen müssen. Deswegen mag ich auch diese Versuche nicht, dem Publikum möglichst bekömmliche Kost zu servieren, nach dem Motto: damit es sich in seinen beschränkten musikhistorischen Kenntnissen noch wohl fühlt und jeder was für sich findet – ein bisschen Techno, ein paar klassische Anklänge, ein schöner Streicherklang. Wem bringt das was? Ich höre lieber Barockmusik als Barock-Zitate, und bevor ich im Konzertsaal Technoklänge serviert bekomme, geh ich lieber gleich ins „Flex“. Wer braucht wirklich einen Thomas Adès, der seine Musik nur aus Versatzstücken zusammensetzt? Er schreibt mit Blick auf kurzfristigen Erfolg, auf Akzeptanz des bildungsbürgerlichen Genusspublikums, auf große Bejubelung. Das ist jetzt natürlich eine Unterstellung, aber wenn ich mir das anhöre, muss ich sagen: So klingt es. Na sicher haben wir alle die Postmoderne mitbekommen, aber ich glaube trotzdem an die vielgeschmähten, in sich schlüssigen Gegenweltentwürfe, die aus einer inneren Notwendigkeit heraus entstehen.

Fastner: Sie sind Mitglied des „Gegenklang“, einer Gruppe von acht Komponisten, die sich noch während ihres Studiums an der Wiener Musikuniversität zusammengetan haben um gemeinsam leichter Auftrittsmöglichkeiten organisieren zu können. In anderen Kunstgattungen sind solche Gruppen keine Seltenheit. Im Bereich der zeitgenössischen Musik aber war der „Gegenklang“ zumindest in Österreich und in dieser Form ein Novum. Ist das Zufall oder nicht doch bezeichnend für die oft sehr akademische Prägung Neuer Musik?

Staud: Sicher, und es ist eigentlich auch bezeichnend für die Persönlichkeitsstruktur vieler Komponisten. Wir waren zufällig alle aus der gleichen Klasse von Michael Jarrell, wir konnten menschlich miteinander und waren auch ästhetisch nicht gerade wie Tag und Nacht. Ästhetische Fragen spielen bei vielen Komponisten oft auch in persönliche Beziehungen hinein. Das finde ich sehr bedauernswert. Im Grunde kommt das daher, dass man sich beim Komponieren nicht über die Schulter schauen lassen möchte. Wenn du Probleme hast, willst du das nicht zugeben, und diese Scheu war bei uns lange Zeit nicht vorhanden.

Fastner: Der Gegenklang betreibt mit der Edition 21 auch seinen eigenen Verlag. Sie sind als einziger nicht dabei, sondern bereits seit drei Jahren bei der renommierten Universal Edition (UE). Welche Rolle spielt dieser große Verlag für Ihre Karriere?

Staud: Ich muss mich nicht um die Materialherstellung kümmern, nicht um die Zustellung der Partituren oder um die Promotion. Und natürlich wird ein Name eher in Umlauf gebracht, wenn ein solcher Verlag dahinter steht. Das heißt aber nicht unbedingt, dass man deswegen gleich mehr Aufträge bekäme. Alles, woran ich zur Zeit schreibe, wurde bereits vor meiner Zeit bei der UE beauftragt. Aber der Verlag kümmert sich dann schon um Wiederaufführungen. Es ist ein Geben und Nehmen: Die brauchen ja auch junge Komponisten, und selbst, wenn sie sich derzeit leider nicht mehr so viele Junge leisten können, sind sie doch daran interessiert, dass wir über kurz oder lang etwas einspielen. Der Verlag schneidet ja auch zu einem Drittel mit.

Fastner: Warum hat sich die UE ausgerechnet für Sie entschieden?

Staud: Das kann ich eigentlich kaum beantworten. Sie wollen jetzt wahrscheinlich darauf hinaus, dass über meine Musik oft gesagt wird, sie vollführe einen gewissen Spagat zwischen Anspruch und Gefälligkeit, oder dass sie jedenfalls nicht so klingt, wie man sich Hardcore-Avantgarde vorstellt?

Fastner: Ich gehe davon aus, dass Verlage auch längerfristig denken, und frage mich, welche ästhetische Richtung eingeschlagen wird, wenn man sich für Johannes Maria Staud entscheidet. Sind Sie aus Verlagssicht ein Beispiel für einen zukunftsträchtigen Komponisten?

Staud: Das kann ich wirklich nicht beantworten. Ich kann meine Stellung oder meine Position nicht beurteilen, denn ich bin mir gegenüber ja voreingenommen. Ich schreibe meine Musik so, wie ich es muss, und wäre selbstverständlich froh, wenn das Schule machen würde. Abgesehen davon ist es mir natürlich klar, dass auch wir Komponisten den Marktgesetzen unterworfen sind. Es ist eben ein kleinerer Markt, aber auch dieser Markt braucht ein neues Gesicht.

Fastner: Es gibt derzeit, vor allem im anglo-amerikanischen Raum, zahlreiche Versuche, den Neue- Musik-Markt durch einen gefälligen Eklektizismus neu zu beleben. Wie auch schon in unserem Gespräch deutlich wurde, lehnen Sie diese Kompositionsweise strikt ab. Der Dirigent Simon Rattle, der Ihnen für 2005 einen großen Auftrag der Berliner Philharmoniker verschafft hat, ist ein bekennender Eklektizismusfan. In einem Interview mit der Wiener Stadtzeitung „Falter“ wurde er im März auch auf Ihre strenge Haltung in dieser Frage angesprochen – und antwortete zwar nicht uncharmant, aber doch verhältnismäßig scharf: „Oh, Stauds Musik ist wirklich sehr streng konstruiert und sehr mitteleuropäisch. Für uns Engländer ist das unglaublich altmodisch, beinahe charmant altmodisch. Was er schreibt, mag aus einer anderen Zeit sein, aber er hat ein fantastisches Ohr für den Klang, für Dramatik und für den großen Bogen – obwohl ich glaube, dass derzeit die Musik interessanter ist, die aus Skandinavien oder aus Amerika kommt.“

Staud: Ehrlich gesagt, ich glaube, Rattle hat sich über die Anspielung mit dem Eklektizismus geärgert, das hat ihn in seinem Nationalstolz getroffen. Seine Antwort hat mich an das Rumsfeld-Zitat vom „alten Europa“ erinnert: dass wir hier so altmodisch seien, weil wir noch an gewissen Dingen festhalten, die die ach so modernen Amerikaner und Briten längst schon überwunden haben. Aber schauen Sie sich diese Länder an: Die Gewerkschaften sind zerschlagen, die Sozialgesetze miserabel, das Gesundheitssystem liegt darnieder, und in der Kunst beschreitet man dort in der Regel den kommerziellsten aller Wege. Ich will ja nicht zu pathetisch klingen, aber wir haben hier in Europa doch wirklich etwas zu verteidigen!

Fastner: Sie sind ein sehr politisch denkender Mensch und haben sich etwa im Jahr 2000 im Vorwort zu Ihrem Orchesterstück „gleichsam als ob“ scharf gegen die schwarz-blaue Bundesregierung geäußert. In Ihrer Kunst jedoch bleibt Ihnen die Möglichkeit zu konkreter politischer Stellungnahme weitgehend versagt. Leiden Sie darunter?

Staud: Total! Ich würde gerne konkreter Stellung beziehen. Aber ich kann eben nur komponieren, und damit geht es einfach nicht. In der Musik kann man keinen „Heldenplatz“ schreiben. Was mir bleibt sind Äußerungen wie in diesem Einführungstext. Natürlich war mir klar, dass das nur ein paar Leute lesen werden, die ohnehin großteils meiner Meinung sind. Aber trotzdem hab ich ihn schreiben müssen.

Fastner: Wissen Sie schon, was Sie für Simon Rattle und die Berliner Philharmoniker schreiben werden?

Staud: Es wird mit geteilten Kontrabässen beginnen, aber mehr weiß ich noch nicht. Ich werde natürlich die Möglichkeit, für die Berliner Philharmoniker zu schreiben, voll ausnutzen und wirklich aus dem Vollen schöpfen.

 

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