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Kipferl, Krapfen, Wunder

Von der kleinen Küche in der großen Welt. Von Anton Holzer

Einmal im Jahr gab es in meiner Kindheit ein Wunder. Und zwar am ersten Sonntag im September. Oder eigentlich bereits ein paar Tage davor. Dann nämlich wurden die Kirchtagskrapfen vorsichtig aus dem heißen Öl in der Pfanne gehoben. Ein einfacher Teigfleck verwandelte sich im Handumdrehen in einen schönen großen Krapfen. Er teilte sich plötzlich in zwei Hälften, ging auseinander als ob jemand Luft in sein Inneres geblasen hätte und schwamm dann, getragen durch die zerbrechliche Schale, stolz im Öl. An den beiden „Schweißnähten“ ließ sich noch erahnen, dass die Urform des Krapfens ein unscheinbarer Teigfleck gewesen war, der sich wie durch ein Wunder mit Luft füllte. Der fertige Krapfen wurde vorsichtig aus der Pfanne genommen, er tropfte auf einem weißen Tuch ab und wurde dann zu den bereits fertigen Krapfen auf ein Brett gelegt. Und wehe, wer einen von ihnen unvorsichtiger Weise fallen ließ. Er zersprang in tausend Stücke.

Heute erinnert mich seine Form ein wenig an einen amerikanischen Baseball, oval, innen hohl, ein wenig kleiner, gewiss, und natürlich bei weitem nicht so bunt, aber magenschonender. Der Kirchtagskrapfen ist eine wunderliche Speise, aufgeblasen, dünnwandig und knusprig, leicht und zerbrechlich. Tagelang, wochenlang freuten wir Kinder uns darauf, dann, wenn es soweit war, mit einem Finger eine winzige Bresche zu schlagen und dann vorsichtig, Stück für Stück, die Wand des Krapfens abzubrechen.

Der Kirchtagskrapfen war, wiewohl für Familie und Verwandte in Serie zubereitet, eine seltene Speise. Nur einmal im Jahr kam er auf den Tisch, als Besonderheit. Auch wenn mittlerweile längst schon die Touristen daran knabbern dürfen: seinen Platz als feierliche Dorfspeise hält er immer noch. Der Kirchtagskrapfen ist eine bäuerliche Speise. Und heute, da die Bauern fast ausgestorben sind, ist dieser Krapfen, so könnten wir sagen, eine Art Nachhall der Kluft zwischen bäuerlicher und bürgerlicher Küche. Der Krapfen hat den Weg vom Bauernhof hin zur Mittelschicht eingeschlagen, so wie die Bauernstube in den 1950er- Jahren sich in den Neubauten der Kleinbürger breit Von der kleinen Küche in der großen Welt. Von Anton Holzer machte, so wie die bäuerlichen Tischdeckenmuster zum gefragten Interieur im Beamtenhaushalt geworden sind.

Die bürgerliche Küche: Es ist schwieriger geworden sie zu beschreiben, seit sich das kulinarische Mittelmaß flächendeckend verbreitet hat. Die Zutaten sind – dank Billa, Spar und Hofer – fast überall die gleichen, vieles ist halbgar, manches schon fertig, alles leicht und schnell am Teller. Im Supermarkt aber habe ich den Pustertaler Kirchtagskrapfen noch nicht entdeckt. Dafür gibt es dort einen anderen Krapfen zu kaufen und auch der entfaltet sich wie durch ein Wunder von selbst. Aber das ist nur die fahle Kopie meines Kirchtagskrapfenwunders. Es ist ein Kipferl zum Selbermachen, eine Art Do-it-yourself-Krapfen. Eine Salzburger Firma (mittlerweile habe ich schon Epigonen in anderen Gegenden entdeckt) etwa bietet die Zutaten des Kipferls, fertig vermischt, in einem netten Aludöschen verpackt an. Unter dem Etikett „Meine Bäckerei“ enthält die kleine gekühlte Packung 6 Kipferln im Embryo-Zustand: „Frischteig zum Selberbacken“, heißt es darunter. Und so wird’s gemacht: „Rohr 5 Minuten vorheizen, Etikett der Dose an der markierten Stelle nach links abziehen. Die Packung öffnet sich automatisch mit einem ‚POFF‘. Frischteig entrollen und in vorgestanzte Dreiecke teilen. Mit der Breitseite beginnend locker zu Kipferln aufrollen. Für eine appetitliche, goldgelbe Farbe mit Milch oder Eigelb bestreichen. Auf dem Backblech ca. 15 Minuten goldgelb backen. Ob natur oder gefüllt, am besten schmecken Ihre Kipferln ofenfrisch.“ Das wärs. Ach ja, die Zutaten: „Weizenmehl, Wasser, Weizenkleber, Backtriebmittel (Natriumkarbonat, Phosphat), Zucker, Traubenzucker, Fett, Margarine, Speisesalz.“

Spaghetti und Speckknödel

Vom Pustertaler Kirchtagskrapfen zum Aludosenkipferl. Eine kulturpessimistische Diagnose könnte in dieser Entwicklung den Niedergang der lokalen Esskultur und die Allmacht der kulinarischen Globalisierung festmachen. Aber so einfach liegen die Dinge natürlich nicht. Die regionalen Küchen und die nationalen Rezepte feiern gerade im Zeitalter der Globalisierung Auferstehung. Im Krapfen das Bodenständige und im Do-it-yourself-Kipferl das Degenerierte zu lokalisieren kann schon deshalb nicht recht gelingen, weil die Küchenkultur in der Welt der Ökonomie und der Politik nicht eindeutig unterzubringen ist. Sie ist resistenter gegen nationale Anschlüsse als wir denken, sie ist konservativer als angenommen, und sie ist postmoderner als es den Bewahrern des angeblich so Angestammten lieb ist. Aber statt vom scheinbar Urtümlichen zum letzten Schrei der Schnellküche eine gerade Linie zu ziehen, könnte man fragen: Gibt es denn also so etwas wie eine nationale Küchenkultur, kocht man in den einzelnen Regionen wirklich so unterschiedlich? Und wenn ja, wie lassen sich diese Eigenheiten des Kochtopfs beschreiben?

Das Kochbuch meiner Mutter, das auch heute noch in ihrer Küche steht, stammt aus dem Jahr 1959. Es heißt Spaghetti und Speckknödel und war in der Nachkriegszeit weit verbreitet. Auf fünf Auflagen hatte es das Kompendium bis Ende der 50er-Jahre bereits gebracht. Der Autor, Hans Debeljak, damals „Küchenchef in Meran“ – wie es auf der Impressumseite heißt – wagte, lange bevor die Welt der Politik in Südtirol die nationalen Gräben übersprang, den Blick über den sprachlichen und kulinarischen Gartenzaun. „Weit verbreitet ist die italienische Küche infolge ihrer Einfachheit, Bekömmlichkeit und ihres guten Geschmacks, mit ihren vielen Spezialitäten und Gerichten.“ So beginnt das Werk. Sogleich kommt der Autor dann auf die regionalen Besonderheiten der Küche zu sprechen. Und hier, so fällt auf, weht noch ein Hauch der Vergangenheit durch seine Küchensprache: „Die italienische Küche ist nach Regionen (Gaue oder Provinzen) zusammengesetzt“, fährt Debeljak fort. Als ob die Küche dem großen Reich noch nicht entkommen wäre!

Wenn man genau hinsieht, zeigt sich, dass Spaghetti und Speckknödel eigentlich ein Nachschlagewerk der gutbürgerlichen österreichischen Küche ist. Die Tiroler Küche und die Rezepte italienischer Herkunft fügt der Autor in diesen traditionellen Aufbau ein. Daher ist den Spaghetti, also den Nudelspeisen, kein eigenes Kapitel gewidmet. So finden wir unter der Rubrik „Warme Vorspeisen“ die „Schlutzkrapferl“ gleich vor den „Agnelotti alla piemontese“, die der Autor mit „Hütchen nach Piemonteser Art“ übersetzt. Und bei den Nachspeisen schielt er dorthin, wo in seinen Augen Kuchen und Torten zu Hause sind, nach Österreich und in den süddeutschen Raum, vielleicht könnten wir sagen: nach Mitteleuropa. Er liefert Rezepte für Mohnstrudel und Germschnecken, für Gugelhupf und Apfelstrudel, für Nussroulade und Mohrenköpfe, für Windbeutel und Apfel im Schlafrock; traditionelle italienische „dolci“ suchen wir vergebens.

Nachtisch und Revolution

Mitteleuropa. Ein Begriff, der in der Politik abgegriffen ist, und dennoch: Im Reich der Küche macht er vielleicht noch am ehesten Sinn. Also fragen wir: Wo liegt denn nun dieses „Mitteleuropa“ der Küche? Rolf Schwendter hat vor einigen Jahren gezeigt, das die bürgerliche Esskultur Zentraleuropas, deren Rezepte wir auch in den traditionellen Kochbüchern finden, nicht viel älter als eineinhalb Jahrhunderte ist. Und eigentlich handelt es sich um eine Küche, die unter dem Etikett „gutbürgerlich“ ein Amalgam unterschiedlichster Richtungen abheftete. Mittelständisch ist diese Kochkultur vor allem in der Abgrenzung nach unten. Und wenn im Folgenden von Süß- und Nachspeisen die Rede ist, ist diese mittelständische Küche gemeint, die lange Zeit der Aristokratie ein wenig in den Topf schielte. Am Nachspeisenteller, also im Überbau der Küche, kommen die Umrisse der bürgerlichen mitteleuropäischen Küche wohl am deutlichsten zum Ausdruck. Die Verbreitung der Kuchen und Torten überschreitet die nationalen Grenzen. Gerade sie, die Nachspeisen, sind, wiewohl fest vor Ort verankert, die Internationalisten der Küchengemeinschaft. Sachertorte und Mohnkipferl, Gugelhupf und Topfenstrudel, Linzertorte und Biskuitroulade reichen weit über die Grenzbalken hinaus, wir bekommen sie von Ungarn bis in die Schweiz, von Oberitalien bis Tschechien.

Beginnen wir unseren kleinen Ausflug in die Küchengeschichte also am besten dort, wo die Rezepte über die Grenzen hinweg am ähnlichsten sind, wo die Tradition den Ton angibt, bei den altehrwürdigen Nachspeisen. Da wäre einmal der Gugelhupf, dessen deutsche Variante Napfkuchen genannt wird. Der Gugelhupf ist das Produkt einer Hohlform: Dem Kochbuch nach ist der Teig „in eine bebutterte, mit Mehl ausgestaubte Gugelhupfform zu füllen und etwa 60 Minuten bei mittlerer Hitze zu backen.“ Das „Ergebnis“ wird dadurch gewonnen, dass die noch heiße Form „gestürzt“ und dann mit Staubzucker bestreut serviert wird. Womit wir schon einen Begriff gewonnen hätten, der in der Kultur jener Länder, in denen der Gugelhupf verzehrt wird, eine zentrale Rolle spielen: das Stürzen, jene Bewegung, die das Innere nach außen kehrt, das aus der negativen Hohlform den Kuchen herausschält. Aus Schein wird Sein, freilich kein dauerhaftes Sein, sondern ein temporäres: eigentlich wiederum Schein. Der Gugelhupf ist zum Verzehr gedacht, nicht zum Verewigen.

Das Stürzen des Gugelhupfs könnte vielleicht sogar eine Art Sinnbild für die (alt-)österreichische Variante der „Revolution“ darstellen: Das Ergebnis ist nicht das Chaos, nicht die Zerstörung, sondern die Bewahrung des Alten im Neuen. Die Revolution von 1848 hat den Staat nicht etwa auf den Kopf gestellt, sondern ein weiteres Mal auf dieselben Füße. Und um in die Küche zurückzukehren: Auch der Gugelhupf wird gestürzt, aber anders als in der großen Revolution: Er wird nicht den Kopf gestellt, sondern vom Kopf auf die Füße. Sein schützender Mantel wird entfernt, um einem anderen, feineren Mantel Platz zu machen, dem Staubzucker.

Der Mantel und die Füllung

Ein Gugelhupf ohne Staubzuckerhaube wäre kein Gugelhupf. Sie ist sozusagen die Krone. Die traditionelle Küche ist keine revolutionäre Einrichtung, sie legt Wert auf gute Fundamente. Sie ist Neuerungen gegenüber zwar nicht unaufgeschlossen. Aber sie begegnet ihnen durchaus mit einer Portion Misstrauen. Jedenfalls unterscheidet sie sehr genau zwischen oben und unten, innen und außen. Die mitteleuropäische Mehlspeisenkultur weist dem Mantel eine zentrale Rolle zu, sei es die feine, braunschwarze Schokoglasur der Sachertorte, sei es das schlichte Staubzuckerweiß des Gugelhupfs. Immer schließt das Sein mit dem glänzenden Schein ab. Erst hinter der Fassade, die genüsslich durchbrochen werden muss, dringt der Mehlspeisenliebhaber zum köstlichen Kern vor. Schwarz und weiß, innen und außen, die Nachspeisen leben von einfachen oder auch ganz raffinierten Oppositionen. Das Eigentliche, der Kern, das Innere der Speise macht sich rar, hüllt sich ein, wird verdeckt und offenbart sich erst im Akt des Verzehrs.

Als Anfang der 60er-Jahre der Streit um die „originale“ Sachertorte zwischen dem Haus Sacher und dem Haus Demel ans Wiener Oberlandesgericht gelangt war, war der Tortenkampf schon jahrelang im Gange. Es ging um die Frage, wer von beiden Konditoreien das alleinige Recht haben sollte, die Bezeichnung „Original-Sachertorte“ zu führen und das schokoladene Rundsiegel zu verwenden. In diesen Gerichtskonflikt mischte sich auch Friedrich Torberg ein, um, wie er behauptete, „gastronomischen Doppeldeutigkeiten vorzubeugen“. Er wurde sogar als Zeuge zur Verhandlung vorgeladen. In der Urteilsbegründung spielte die Opposition zwischen innen und außen, oben und unten eine entscheidende Rolle. War, so lautete eine der zentralen Frage, die ursprüngliche Sachertorte durchgeschnitten und hatte sie eine Marmeladefüllung? Mitnichten, meinte Torberg. Vor Gericht bezeugte er „… daß die Original- Sachertorte zu Anna Sachers Lebzeiten in der Mitte nicht durchgeschnitten und nicht mit Marmelade gefüllt war; daß lediglich unter der Schokoladeglasur, um sie der Tortenmasse haltbar zu verschwistern, eine dünne Marmeladenschicht angebracht wurde; und daß die Torte in dieser originalen Form heute nicht von dem in andere Hände übergegangenen Hotel Sacher, sondern von der Konditorei Demel hergestellt wird, die das Rezept in den dreißiger Jahren von Eduard Sacher, dem letzten männlichen Sproß des Hauses, erworben hat.“ Die Richter entschieden anders. Demel verlor, Sacher gewann. Torberg als Demel-Anhänger geriet, wie er schreibt, „ins Lager der Verlierer“. Aber „der harte Schlag des zweitinstanzlichen Urteils“ rüttelte nicht an seinem Glauben an die nichtdurchgeschnittene, nichtmarmeladegefüllte Sachertorte. Die wirkliche Sachertorte blieb für ihn die ungeteilte Torte. Zwischen innen und außen ist nichts, kein Schnitt, keine Marmelade.

Das Barockhörnchen

Das raffinierte Changieren zwischen Innen und Außen, das Spiel mit den Oppositionen, die Kunst der Verhüllung und der Offenbarung, diese Kunst verweist, genaugenommen, auf den Barock. Wenn es also einen Begriff gibt, der die mitteleuropäische Küche ebenso charakterisiert wie seine Kultur und seine Politik, dann ist es der Barock. Was hat nun die Küche mit dem Barock zu tun? Schlagen wir zuerst einen kleinen Umweg ein. Als der französische Romancier Dominique Fernandez vor zwanzig Jahren auf den Spuren des Barock durch Europa reiste und die Reiseeindrücke in seinem Buch „Das Bankett der Engel“ zusammenfasste, machte er – nahezu nebenbei und ein wenig augenzwinkernd – eine interessante Entdeckung. Die Barockkultur, die sich in der Oper ebenso ausdrückt wie in der Architektur, die in der Bühnenarchitektur ebenso sichtbar wird wie in der Esskultur, diese Barockkultur also umfasst ein Gebiet, das von Neapel bis nach Prag, von Wien bis nach Turin reicht. „Sehen wir uns einmal eine Europakarte an“, fordert uns Fernandez auf: „Die Barockkultur formt darauf ein Hörnchen, dessen Südwestspitze sich in Süditalien befindet und dessen Nordspitze über Prag hinausweist. Dieses Hörnchen umgreift mit seinem Bogen Rom, Genua, Turin, die Ostschweiz, Venedig, Süddeutschland, Österreich und Böhmen. Die Entstehung dieses Walls aus Kirchen und Klöstern wird mit der Notwendigkeit erklärt, der Front mit Luthers und Calvins strengen Geboten eine Front ansprechender und reich geschmückter Bauten entgegen zu setzen, die der katholischen Religion die verlorene Anziehungskraft wiederbringen sollten.“ Gewiss, meint Fernandez, ist die Gegenreformation eine politische und religiöse Bewegung, die die Entstehung dieses kulturellen Raums zu erklären hilft. Aber vielleicht müsste man sich, so meint er, diesem eigenartigen Hörnchen, das über Jahrhunderte hinweg Staaten höchst unterschiedlicher Ausdehnung und politischer Coleur umfasst, auch von einer anderen Seite her nähern, nämlich von der Seite der Küche. „Man wird sich fragen müssen, warum die Völker des Hörnchens zugleich die größten Kuchennascher sind, warum sie so viel lustvoller als anderswo backen. Zufall? Oder eine geheimnisvolle, bruchlose Kette, die Barockkunst, Oper und Konditorei in einer sinnlichen und gefräßigen Runde verbindet?“

Das Hörnchen, von dem Fernandez spricht, ist in Wahrheit wohl ein Kipferl. Die deutsche Übersetzung des französischen Textes schlägt das halbmondförmige Backwerk, dessen Form die Grenzen der Barockkultur umschreibt, irrtümlicherweise der protestantischen Welt zu. Nennen wir das Gebiet, das Fernandez beschreibt, getrost die Gegend des Barockkipferls. Dass Tirol ziemlich genau im Zentrum dieses Hörnchens zu liegen kommt, ist nicht mehr als ein Zufall. Denn das Kipferl hat seine Hochburgen nicht im abgelegenen alpinen Raum, sondern in den größeren Städten. Am Land wurden die Feinheiten der urbanen Kochkultur viel später heimisch als in der Stadt. Man könnte auch sagen: Vielleicht dauerte hier der Widerstand des Krapfens gegen das Kipferl ein bisschen länger.

Das Kipferl, nicht der Krapfen, hat den Weg in das bürgerliche Kochbuch geschafft. Seine Form umschreibt nicht nur die Grenzen einer imaginären Landkarte, jener des Barockhörnchens. Das Kipferl fand tatsächlich seine Verbreitung vor allem dort, wo die Kultur des Barock seine Spuren hinterlassen hat. Der Fall ist interessant: Gibt es, so könnte man fragen, womöglich eine geheime Querverbindung zwischen dem Barock und der Nachspeisenkultur? Nehmen wir als Beispiel das Mohnkipferl. Aus gerolltem Germbutterteig, lautet die Anweisung im Kochbuch, sind spitze Dreiecke zu schneiden. An der breiten Seite einen Teelöffel Mohnfülle auflegen, zur Spitze hin einrollen. Kipferln formen, auf ein leicht befettetes Blech setzen, gehen lassen, mit Ei bestreichen und im mittelheißen Rohr backen. Mit heißer Marillenmarmelade bestreichen und mit Rumglasur glasieren. Also auch hier wieder: „Gehen lassen“ und „glasieren“. Zuerst die säkularisierte Variante der katholischen Transsubstantiation (also die im Messopfer sich vollziehende Verwandlung von Substanz), die den Teig verformt und unverändert lässt, zugleich, und dann der krönende Abschluss: die Rumglasur, die das Innere des Kipferls verhüllt, im gleichen Atemzug dem Auge darbietet. Das ist barocke Mehlspeisenkultur in höchster Vollendung.

Das Ende der nationalen Küche

Die Kochbücher geben sich heute laizistisch. Es würde keinem der Spitzenköche einfallen, die Wunderwelt des Barock zu bemühen, um die eigene Küchenkreation zur Sprache zu bringen. Auch ein Blick in die populären Kochbuchreihen zeigt sehr schnell, dass der Geist der Küchenkultur sich nicht gerne auf die Geistesgeschichte beruft, sondern lieber in überschaubaren Kategorien Zuflucht sucht, etwa in den heutigen nationalen Grenzen. In jeweils einem Kompendium finden daher Platz: die italienische, die französische, die spanische Küche. Heute löst sich diese nationale Erzählung aus der Welt der Küche oft in Wellness- und Lifestyle-Kategorien auf. An die Stelle nationaler Einteilungen tritt das „Wohlfühlen“ und „Entspannen“, die Wirkung der Vitamine und Mineralstoffe, des Apfels und des Essigs. Wir können in der Welt der Küche eine zunehmende Durchlöcherung des Nationalen beobachten. In der alltäglichen Esspraxis macht sich der Hang zur internationalen Schnellküche bemerkbar, die viel Zeitersparnis verspricht und anscheinend keine Grenzen kennt. Dem gegenüber wird die regionale Küche als Rettungsinsel im Sog des Internationalen entdeckt, so als ob der Wut des allzu Großen der Widerstand des Kleinen entgegengesetzt werden müsste. Tiroler Schlutzkrapfen als subtiler Akt gegen die Globalisierung sozusagen.

Die Kochbuchautoren interessieren sich kaum für Geschichte. Welches die historischen Zutaten der gutbürgerlichen Küche sind, welche regionalen Rezepte aus welchen Gründen wo überlebt haben, das erfahren wir meist nicht. Dabei wäre es spannend, den Weg mancher Speisen zu verfolgen, den Verzweigungen der Rezepte nachzugehen.

Im Barockhörnchen verbindet sich die Küchengeschichte mit der Kulturgeschichte. Seine Form zeigt, dass sich unter der Oberfläche der nationalen Grenzen und jenseits der Welt der Vitamine und Fette andere, komplexere Umrisse der Küchenkultur abzeichnen. Um diese zu erkennen ist es notwendig, über den Rand des Kochtopfs hinauszublicken, die nackten Tatsachen mit der Welt der entrückten Erscheinungen zu verbinden, die Nachspeise mit der Literatur, die Kochtechnik mit dem Wunder.

Das Wunder

Der Kirchtagskrapfen braucht lange Vorbereitungen, bevor er unter kundigem Blick die atemberaubende Form und den unübertroffenen Geschmack annimmt. Der Kirchtagskrapfen kann aber auch das „Aufgehen“ verweigern. Diese verunglückten Exemplare waren es, die die besondere Aufmerksamkeit von uns Kindern erregten. Denn sie wurden schon am Vortag des Kirchtags freigegeben für den Verzehr. Als Kind wünschte ich mir nichts sehnlicher, dass nicht nur einer, nicht zwei, sondern dass viele der Krapfen sich im heißen Öl dem Diktat der Schönheit verweigern, dass sie hässlich bleiben und auf die Seite gelegt werden. Diese Krapfen voller Dellen und Löcher schmecken, das wusste ich, gleich wie jene Exemplare, die für das Auge bestimmt sind. Sie waren es, die das Wunder zwar nicht in Zweifel zogen, aber durch ihre Unvollkommenheit in Reichweite gelangten. Das Wunder entrückte den Krapfen, das halbe Wunder brachte ihn uns Kindern näher.

Das Aludosenkipferl „gelingt immer“. Scheitern ist ausgeschlossen, ein wirkliches Wunder findet nicht statt. Das Wunder in der Küche. Vielleicht ist es das, was, bei aller Unterscheidung, immer noch die Grenzlinie zwischen der traditionellen bäuerlichen und der bürgerlichen Kochtradition – also den Varianten regionaler Küchen – auf der einen Seite und der globalisierten Schnellküche auf der anderen Seite zieht. Das Wunder ist ein Prozess, in dem die Dinge auf unerklärliche Weise ihre Gestalt oder ihre Eigenschaften verändern. Das Wunder braucht Zuschauer und Gläubige, es braucht aber auch den Pfarrer, den Magier oder eben den Koch, die Köchin. Das Kochen als säkularisiertes Wunder ist, genau genommen, ein Akt der Gemeinschaft. Der Kirchtagskrapfen ist ein Wunder. Er hält (oder besser: hielt), im Konzert mit dem Pfarrer, der am Kirchtagsfest den geistigen Überbau zelebrierte, die Menschen des Dorfes zusammen. Der geistliche Herr hat an Einfluss verloren. Und dennoch: Die Krapfen gibt es in meinem Dorf immer noch am ersten Sonntag im September. Womöglich sind die Gläubigen vom Reich des Pfarrers endgültig ins Reich der Küche gewechselt. Denn: Auch dort geschehen Wunder.

 

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