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Pascal in Telfs

Von Egyd Gstättner

Die Stiere in der Besamungsanstalt Birkenberg über den Dächern von Telfs heißen Vivaldi, Phil Collins, Pascal, Manner, John Travolta oder El Padre. Die Namen bekommen die Bullen nicht erst hier von den Bediensteten der Besamungsanstalt oder vom Tierarzt in der angeschlossenen Quarantänestation, sondern bereits von den jeweiligen Züchtern. Tieren Namen zu geben ist der erste Schritt zu ihrer Vermenschlichung und Verpersönlichung. Merkwürdig ist die Taufe gerade auf Menschennamen bei Tieren, die per definitionem reine Nutztiere sind, an denen einzig ihr Sperma von Interesse ist, um damit andere Tiere zu zeugen, an denen einzig die Milch von Interesse ist, und die, sobald das Sperma, die Milch, nicht mehr taugen, geschlachtet werden. Beim Mittagessen sind Namen dann wieder Schall und Rauch, selten heißt ein Grillteller „Beethoven“ oder „Mozart“.

John Travoltas Züchter hat bei der Taufe vielleicht die Liedzeile You’re the one that I want oder Hopelessly devoted to you im Sinn gehabt. Aber was hat sich der von Pascal bloß bei „Pascal“ gedacht? Warum hat er seinen Stier nach einem Mann benannt, den Heerscharen von Dichtern und Denkern bis an den heutigen Tag als ihr Vorbild angesehen haben und ansehen, nach einem Mann, der, wie Chateaubriand sagt, in einem Alter, in dem die anderen Menschen kaum damit begonnen haben zu erwachen, bereits den ganzen Umkreis des menschlichen Wissens umschritten hatte, als er auch schon dessen Nichtigkeit erkannte und sich der Religion zuwandte; der von diesem Zeitpunkt an bis zu seinem neununddreißigsten Lebensjahr trotz ständiger Schwächeanfälle und Schmerzen die Sprache Bossuets und Racines vollendete und für den vollkommensten Witz wie für die schärfste Kritik bleibende Muster aufstellte; von dem nicht bekannt ist, dass er sich jemals fortgepflanzt hätte, und dessen Spermien bei seiner elenden Konstitution auch keine Samenbank der Welt angenommen hätte. „Nichts ist dem Menschen unerträglicher, als in vollkommener Ruhe zu stehen“, sagt Pascal, „ohne Leidenschaft, ohne Geschäft, ohne Zerstreuung, ohne Eifer. Er fühlt dann seine Nichtigkeit, seine Verlassenheit, seine Leere. Unkeusch entsteigt dann seiner Seele die Langeweile, die Schwärze, die Traurigkeit, der Schmerz, der Ekel, die Verzweiflung“. Einmal in der Woche, immer am Dienstag ist Entsamungstag. Da wird in Pascals Nasenring die lange Eisenstange eingehakt, und ein alter Mitarbeiter im blauen Drillich mit einer Pfeife im Mund führt Pascal aus dem Stall in die Quarantänestation, ein weißverfliester Raum, einer Autogarage nicht unähnlich, nur statt der Hebebühne die künstliche Kuh, die nur aus einem Rumpf aus Kunststoff besteht, kein Kopf, keine Extremitäten, ein Turngerät im Grund. Pascals Hörner sind ihm wie bei Stieren üblich bald nach der Geburt unter Narkose aus dem Schädel herausoperiert worden, aber gefährlich und unberechenbar genug ist er noch immer: Pascal wiegt über eine Tonne, und allein mit seinem Gewicht, der Wucht und der Kraft könnte er einen Menschen ohne weiteres zerdrücken, sagt der Tierarzt hinter der großen Glaswand und beobachtet, wie Pascal die Kunstkuh besteigt, bespringt und auch schon wieder von ihr ablässt: Was war das? Zuerst habe ich nicht glauben können, was ich da gesehen habe: Der Geschlechtsakt dauert kaum eine Sekunde und besteht aus einem einzigen Stoß! Man denke sich einen Menschenmann, der bei einer Menschenfrau eine einzige Hüftbewegung zur Verfügung hat! Nichts wäre zweckloser, sinnloser, lustloser als ein Einstoßgeschlechtsverkehr! „Derart unglücklich ist also der Mensch“, sagt Pascal, „dass er sich bekümmert, ohne irgendeinen Grund zu haben, und allein durch die Anlage seines Gemüts; und so billig ist er, dass, obgleich es tausend echte Gründe des Kummers gibt, das geringste, ein Billard oder ein Ball, den er schlägt, genügen, um ihn zu zerstreuen.“

Der Stier schaut nach dem Orgasmus drein, wie er vor dem Orgasmus dreingeschaut hat. Der Stier schaut drein, als ob der Orgasmus gar kein Orgasmus gewesen wäre, und wirklich kommt mir das Wort hier seltsam deplatziert vor. Höhepunkt war dieser Orgasmus sicher keiner, eine Nichtigkeit war er gewiss. Der Stier schaut nicht glücklich und nicht unglücklich aus, der Stier schaut stumpf. Aber er ist eben unberechenbar, und seine Reizschwelle ist generell niedrig. Pascal besteigt so ziemlich alles, wenn man ihn lässt, sagt der Tierarzt, auch Vivaldi, Phil Collins, John Travolta. Mit Homosexualität hat das gar nichts zu tun. Die Vorderbeine auf der Kunstkuh fährt er blitzschnell seinen Penis aus – der ist sehr lang, sehr dünn, blutrot und mit dem Wort Rute zutreffender beschrieben als mit den Worten Prügel, Hammer, Wurst oder Schwanz –, der Mann im Drillich mit der Pfeife wartet seitlich und stülpt ihm genauso blitzschnell die Kunstvagina darüber – ein Gerät, das an eine Schultüte oder vielleicht an den Fanghandschuh eines Eishockeytormanns erinnert –, und sobald Pascal das Warme dieser Vagina spürt, ist es auch schon um ihn geschehen und er spritzt unwillkürlich sofort ab. Nach dieser einen Sekunde ist es auch mit der Erektion wieder vorbei. Zehn Minuten Zeit haben nur die Schweine und die Menschen, sagt der Tierarzt. Der Mann mit der Pfeife bringt dem Veterinärmediziner das Sperma. Der füllt es in eine Pipette, setzt einen Tropfen auf das Testglas, und während er die Spermafäden unter dem Mikroskop betrachtet, starrt Pascal hinter der Glaswand ins Leere, lässt seinen Kot zu Boden fallen und denkt, dass die Menschen den Tod, das Elend, die Unwissenheit nicht heilen konnten. Und sie haben sich, um glücklich zu sein, geeinigt, nicht daran zu denken; das ist alles, was sie erfunden haben, um sich vor so viel Fluch zu trösten. Die Männer spritzen mit großen Schläuchen den Fliesenboden ab, dann kommen Vivaldi, Phil Collins, John Travolta, El Padre an die Reihe, das Turngerät zu begatten.

1648, als Pascal fünfundzwanzig Jahre alt war und sich von der Lächerlichkeit, Nichtswürdigkeit und Erbärmlichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis angeekelt der Religion zuwandte, wurde am Gelände von Birkenberg in unmittelbarer Nachbarschaft der Landwirtschaft, also der beiden Bauernhöfe, in denen heute die Besamungsanstalt untergebracht ist, eine barocke Rundkuppelkapelle gebaut und als Kirchweihfest der 2. Juli – Mariä Heimsuchung – festgelegt. Heimsuchung bedeutet hier aber weder Urteil, noch Plage, sondern einfach der Besuch des Engels, der Maria verkündete, sie würde einen Sohn bekommen, Jesus Christus. Mariä Heimsuchung bedeutet also Mariä Fruchtbarkeitsankündigung. Am Hochaltar des Kirchleins rechts oben steht ganz in Gold gehalten der Heilige Franz Xaver, der Missionar Indiens. In seiner rechten Hand hält er ein Kreuz, in seiner linken eine Muschel, mit der er gerade ein – kohlrabenschwarzes – indisches Kind in goldenem Lendenschurz tauft, das in Telfs das Mohrele genannt wird. Wenn sich, wie mir der Leiter der Besamungsanstalt erzählt hat, eine Frau ein Kind wünscht und lange vergeblich darauf wartet, dann gibt man ihr in Telfs den Ratschlag: „Gehe beten nach Birkenberg zum Mohrele!“ Christentum hin, Missionierung her: Von dunkelhäutigen Mitmenschen erzählt man sich sexuell wahre Wunderdinge, und die Begriffe Stier und Bulle im Allgemeinen und speziell Hammer, Prügel, Wurst oder Schwanz sind ganz sicher angebracht. Man muss nur irgendein Pornoheft in irgendeiner Autobahntankstelle der Inntalautobahn aufschlagen.

Wenn also Spaziergänger diesen Weg am Waldesrand entlangwandern, auf das Gehöft mit der Aufschrift „Besamungsanstalt Birkenberg der Landwirtschaftskammer Tirol“ (Zutritt für Unbefugte verboten) stoßen und gleich daneben das Hinweisschild „Wallfahrtskirchlein Maria Heimsuchung“ (Zugang gestattet) sehen, könnten sie von der kuriosen Parallelität wenigstens auf den ersten Blick überrascht und belustigt sein und sich vielleicht denken, dass eine Telfer Frau, die sich ein Kind wünscht, lange vergeblich darauf wartet und auch schon beim Mohrele umsonst gebetet hat, nur ein paar Schritte weitergehen müsste, um mehrere hundert in Pailetten abgefüllte Portionen Tiefgefriersamen zur Verfügung zu haben. Gut zu wissen, dass von Anfang an großes Augenmerk auf eine moderne technische Einrichtung der Besamungsstation gelegt wurde. Heute erfolgt die Abfüllung und Beschriftung der Pailetten in einem Arbeitsgang und das Einfrieren vollautomatisch mittels einer Einfriermaschine, wodurch eine noch bessere Samenqualität erzielt werden kann. Die Kontumazstation Birkenberg ist durch ihren hohen Standard berechtigt, in alle Länder Sperma zu versenden, und ist in Besitz des EU-Zertifikats unter der Nummer AT-SE 5b. Der Geschlechtsakt dauert allerdings nur einen Stoß lang. Ist unter den Spaziergängern am Waldesrand ein besonderer Blödler, wird ihm vielleicht auch zu den Ortsnamen Mösern oder Absam noch eine pubertäre Anzüglichkeit entkommen.

Wüsste der Spaziergänger jedoch, dass hinter diesen grauen Mauern gerade ausgerechnet der arme Pascal entsamt wird, und sagte ihm der Name des gallischen Genius etwas, dann würde er wohl eher peinlich berührt als belustigt sein und er könnte bezüglich der Telfer Frauen, die schon lange vergeblich auf Nachwuchs warten, denken, ihnen weder zu raten, zum Mohrele zu beten, noch ihr Heil in künstlicher Befruchtung und dem Austausch von Topgenetik zu suchen, sondern lieber ein bisschen Pascal zu lesen und sich einmal ernstlich zu fragen, warum sie sich denn überhaupt unbedingt fortpflanzen wollen, wo doch Pascal die Beschaffenheit des Menschen mit genau drei Worten umschreibt: Haltlosigkeit, Langeweile, Angst. „Wer die Nichtigkeit der Welt nicht sieht, ist nichtig“, sagt Pascal, liebe Telferinnen! „Auch die jungen Menschen, die sie nicht sehn, die alle im Lärm stehen, in den Zerstreuungen und in Gedanken an die Zukunft? Aber man nehme ihnen die Vergnügungen, und man wird sie eintrocknen sehn vor Langeweile; sie fühlen die Nichtigkeit, ohne sie zu erkennen, denn es ist besser, unglücklich zu sein, als in einer unerträglichen Traurigkeit zu sein, wenn man auf sich selbst zurückgeführt ist und nicht mehr zerstreut“. Wozu also, liebe Telferinnen, unter solchen existentiellen Bedingungen noch neue Menschen? Wir suchen das Glück und finden nur Elend. Aber unser Elend ist die Folge unserer Größe und unsere Größe ist die Folge unseres Elends. Denn der Mensch weiß, dass er elend ist. Er ist elend, weil er es weiß. Oder Mohreleanbeten, Samenspenden, Kinderkriegen, weil es, wieder mit Pascal gesprochen, leichter ist, den Tod ohne Gedanken zu ertragen, als den Gedanken des Todes ohne Gefahr?

Solang ich mich am Birkenberg umsah und mit dem Veterinärmediziner oder dem Leiter der Besamungsanstalt sprach, der mich auch in das Wallfahrtskirchlein führte, kam aber ohnehin keine einzige Telferin, um beim Mohrele um Fruchtbarkeit zu beten oder mich in die Kontumazstation zu begleiten, um den Stier beim Samenspenden zu beobachten, der nach einem Mann benannt ist, der mit dreiundzwanzig Jahren einen epochemachenden Traktat über den Horror vacui geschrieben und die Hälfte seines Lebens, das nur 39 Jahre dauerte, unter den größten körperlichen Heimsuchungen verbracht hat, hier tatsächlich bösartige Heimsuchungen, für die wir das Wort heute verwenden, die Pascal mit der edelsten Geduld und Fassung, ja fast mit Heiterkeit ertragen hat. Obgleich durch beständige Kolik, Kopfneuralgie, Zahnfleischentzündung und Schlaflosigkeit geplagt, verzichtete er doch auf jede Bequemlichkeit, machte sich alle Handreichungen selber und nahm sogar noch einen kranken Armen zu sich, den er bediente und pflegte. Er pries Gott für seine Krankheiten, denn Kranksein, pflegte er zu sagen, sei der einzige eines Christen würdige Zustand; ja er hatte förmlich Angst davor, wieder gesund zu werden. Was für ein Sperma wäre da tiefgefroren worden! Pascals philosophische Methode ist in dem Satz enthalten: „Man muß dreierlei sein: Mathematiker, Skeptiker und gläubiger Christ“. Vom Erotomanen ist nicht die Rede. Auch wenn ich das Gegenteil eines gläubigen Christen bin, kenne ich doch zumindest die Aufforderung des Herrn, uns die Erde untertan zu machen, wozu dann wohl implizit die Nutzung der Besamungsanstalt Birkenberg der Landwirtschaftskammer für Tirol gleich gegenüber gehört. Aber zwischen Kunstkuh und Tragbarvagina wird kein Rotlicht eingeknipst und kein Seidenstrumpf angelegt und kein Bolero gespielt. Da passiert ganz einfach der erste Arbeitsschritt der Fleischabteilungen von Spar und Billa und Merkur und Mondo. Wachset und vermehret euch deckseuchenfrei unter Aufsicht der Krone der Schöpfung zu deren alleinigen Nutzen. Lasset euch besamen und melken und schlachten mit biologischer Ursprungsgarantie, in eine Frischhalteklarsichtfolie einwickeln und in der Aktion verkaufen um heute nur 1 Euro 99.

Eine unmittelbare Nachbarschaft von Wallfahrtskirche und Besamungsanstalt mag kurios sein im ersten Augenblick der Wahrnehmung und im ersten Moment, in dem man davon hört: Aber es ist keine Geschichte darüber zu erzählen, es sei denn eine erfundene, was ich nicht will und was mich nicht interessiert. Denn das Erfundene ist das Beliebige. Also fuhr ich ergebnislos wieder hinunter ins Dorf und sah mich vor dem Abendessen noch ein wenig in der Telfer Pfarrkirche um, die nicht nur baulich, sondern auch farblich mit ihrem intensiven Gelb und Orange aus dem Ortsgrau herausragt. Es war der Montagabend der Karwoche, und ein Holzschnitzjesus mit rotem Königsmantel zog auf einem Holzschnitzesel reitend einen Ölzweig in der Hand in Jerusalem ein. Der Esel hat den Kopf gesenkt, aber die Ohren gespitzt: Jedes Jahr kommt auf seinen Reiter mit naturgesetzlicher Gewissheit dasselbe Unheil zu. An der Vorderfront des Volksaltars hängt ein Tuch, auf dem steht „Ich habe Euch ein Beispiel gegeben, damit ihr auch so handelt“. Und so ist draußen am Kirchfriedhof vor ein paar Stunden eine über neunzig Jahre alte Frau begraben worden, die erst vor drei Tagen gestorben ist. Aber schon hat sie ein Grabkreuz mit Bild und den Daten von Geburtstag und Todestag: Das geht prompt hier. Vor einem Jahr am letzten Karwochenmontag war die Verstorbene wohl noch bei den vier alten Frauen, die in zwei der vorderen Bankreihen im sonst völlig menschenleeren Kirchenschiff den Rosenkranz beten: ein Raunen, Nuscheln, Murmeln, dann plötzlich wie auf Kommando laut und wie aus einer Kehle: „Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes, amen!“ Raunen, Nuscheln, Murmeln, dann plötzlich wieder laut und deutlich und bedrohlich: „Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes, amen!“ Das „Gegrüßet seist du, Maria“ ist hier kein Gruß und kein Gebet, sondern eine Beschwörung. Aber es geht ja auch um alles, um Leben und Tod. Um den Tod vor allem. Wer schert sich da um Fruchtbarkeit!

Nach dem Abendessen flanierte ich, weil es noch zu früh war, auf mein Hotelzimmer zu gehen, die Untermarktstraße entlang, schaute die Schaufenster an und gelangte durch eine Passage auf den Eduard-Wallnöfer- Platz, wohin, während die Glocken der nahen, aber leeren Pfarrkirche Peter & Paul zur Abendmesse läuteten, immer mehr Telferinnen strömten: Schöne und Hässliche, Dicke und Dünne, Junge und Mittelalte und Junggebliebene, Große und Kleine, Attraktive, Rassige, Unansehnliche, grell Herausgeputzte und Unscheinbare, in Gruppen Zusammenstehende, laut Plaudernde, allein an einer Hauswand Lehnende, mit verschränkten Armen, sich an ihre Handtasche anhaltend, rauchend, wartend. Immer mehr kamen, immer mehr und alles Frauen. Wenn ich die Größe von Telfs bedenke und die Einwohnerzahl hochschließe, werden vermutlich ausnahmslos alle Einwohnerinnen von Telfs vor dem Klimakterium auf den Eduard-Wallnöfer-Platz geströmt sein. Ich war unter all den Frauen der einzige Mann. Die Telferinnen waren aber nicht wegen mir gekommen, der ich in Telfs auch nicht mehr zu tun hatte als mir ein wenig die Beine zu vertreten, sondern weil, wie ich schnell bemerkt hatte, an diesem Karwochenmontagabend im Rathaussaal The Chippendales gastierten, eine Gruppe muskulöser junger Männer, die auf dem Veranstaltungsplakat „erotische Tanzdarbietungen“ verhießen. Da waren also all die Telfer Frauen, die nicht zu Maria Heimsuchung hinaufpilgern und zum Mohrele beten wollen! Und die Schar der Frauen, die sich nicht zu genieren schien, aber auch keine gierige, überbordende Lust zeigte, bewegte sich in immer höherer Dichte dem Eingang zu und schob mich förmlich in den Telfer Rathaussaal hinein, sodass ich erst vor dem kleinen improvisierten Merchandising- Shop wieder zu Stehen kam, wo ein Chippendale – ich bin momentan unsicher, ob es sich bei dem Wort um ein Pluraletantum handelt – in schwarzen Stiefeln, schwarzer Lederhose, mit nacktem, brusthaarrasiertem, womöglich auch eingeöltem Oberkörper mit Tätowierung über der linken Brustwarze – der Schriftzug Marines und ein Schiff – mit weißer Manschette und schwarzer Fliege am Hals und viel Gel in den Haaren Zeitschriften, Plakate, Videos, T-Shirts und pinke Herren-String-Tangas verkaufte. Eintrittskarten gab es zu 35, 40 oder 45 Euro. Ich habe aber keine gekauft, weil es mir peinlich wäre, in einem ausschließlich aus Frauen bestehenden Publikum zu sitzen, das möglicherweise triefend geil auf halbnackte Männer mit Waschbrettbäuchen ist, die möglicherweise gar nicht geil auf die Frauen im Publikum sind und keinerlei außer eben finanzielles Interesse an ihnen haben: eine ganz alte Geschichte, nur dass aus Frauen Männer, aus Männern Frauen geworden sind. Ich habe keine Eintrittskarte gekauft, weil „erotische Tanzdarbietungen“ von Männern bei mir, wenn überhaupt, nur unangenehme Empfindungen auslösen, weil ich ohnehin schon Vivaldi, Phil Collins, John Travolta und El Padre an der Arbeit und das Letzte geben gesehen habe, weil schließlich keiner der Chippendales Pascal heißt, und wenn, dann ist er sicher nicht nach dem Philosophen der berühmten Pensées benannt, sondern hat einfach den Vornamen Pascal bekommen, wie er heute in Mode gekommen und schick, aber bedeutungslos und nichtssagend ist. Von keinem der Chippendales stammt der Satz: Die einzige Sache, die uns von unseren Nichtigkeiten tröstet, ist die Zerstreuung, und sie ist doch die elendste unserer Nichtigkeiten. Sie hindert uns am hauptsächlichsten, an uns zu denken. Ohne sie wären wir in der Langeweile, aber sie stieße uns zu einem verlässlicheren Mittel, aus ihr herauszutreten. Aber die Zerstreuung unterhält uns und führt uns empfindungslos zum Tod.

 

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