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Fließtext*
Von Simon Strauß

He, ihr da draußen, verteilt in Raum und Zeit, habt ihr noch Hoffnung auf eine Wende? Seid ihr noch hungrig auf mehr, oder ist euch jetzt schon alles genug? Seid ihr müde und gesättigt, habt fettige Finger und keinen Glauben mehr? Wozu gibt es den Himmel, wenn keiner mehr aufschaut zu ihm, warum Flaggen, Farben und Funkverkehr? Einhörner, die sich nachts die Hufe lackieren und Regenmänner mit juckenden Warzen im Gelbstromtal? Ich möchte nicht ohne Träume leben. Kein Android sein auf hilflos wackelndem Ponton. Tiere können nicht Ich sagen. Ich schon. Restitutio ad Integrum – ist das nur ein anderes Wort für „Revolution“? Der Umlauf als Wiederherstellung, die Rückkehr, „Homecoming“, als tiefster Moment. Aus dem Zug schon die grünen Felder sehen, die Herden auf den Hügeln, das düstere Eck am See. Am Bahnsteig dann das Winken. Von Ferne die Eltern sehen. Wohin jetzt mit dem Blick, nach unten, zur Seite, nach vorne weg? Das Leben wartet darauf, geschnitten zu werden. Man muss mitunter auch kaputt machen, was andere aufgebaut haben. Und doch: Es wohnt sich so schön in den Höhlen der Alten. Von den Wänden tropfen die Tränen, der Tiger hat Schlaf in den Augen. Wer hier nicht an einer Brust ruhen möchte, ist von innen verdorben. Dem ist das Herz zugewachsen, den küsst keine Prinzessin mehr wach. Bilder und Zeiten, Gedanken und Flüche fliegen so schnell wie nie. Aber an welche Adresse schicken wir unsere Flaschenpost? Gibt es noch Zufall und vor allem Geheimnis? Alles wird durchrationalisiert, ausformuliert, entmystifiziert. Zwischen dem Funktionalisieren und dem Zensieren liegt nur ein Katzensprung. Und mit Ausrufezeichen und Großbuchstaben räumt man die Zweifel auch nicht aus dem Weg. Uns fehlt ein Wort, ein einziges Wort, um aus dem Ödland zu entkommen. Wir brauchen bessere Rezepte, schönere Unterrichtsstunden. Es geht darum, das Licht zu sehen, wie es an späten Wintertagen aus den beschlagenen Fenstern scheint. Draußen stehen und denken, was drinnen möglich wäre. Welche Gespräche geführt, welche Gefühle geteilt werden könnten. Wie das Besteck geordnet, das Bier gekühlt wird. Um Gewohnheiten braucht man sich keine Sorgen machen, die werden bleiben, bis die letzte Biene gestorben ist. Aber Besteck allein führt noch nicht zur Befreiung. Es ist nur Mittel, kein Zweck. Freiheit verspricht allein der nackte Handschlag, alles andere ist kalte Lüge, totes Geäst. Auf samtenem Papier muss man schreiben: „und es fällt schon der erste Schnee / dass wir am Tage so achtlos sind, tut uns am Abend weh“. Im Ernst – kein Tag vergeht, ohne dass vergessen wird. Weltweit,
überall, bei jedem von uns: grenzenloses Vergessen. Kunst ist die letzte Archivarin unserer gefährdeten Wirklichkeit. Eine alte große kranke Frau, kniet im Staub, bricht sich die Fingernägel, hüllt sich in harte Bandagen. Oben spielen die Gaukler fangen und drehen Runden auf den glitzernden Eisbahnen der Politik. Aber sie sitzt im Keller, tief unter der Erde und versucht, die Belege anders zu ordnen. Ausdenken kann man sich alles – ja. Aber wenn es nur noch ums Denken geht und es mit dem „aus“ ganz vorbei ist, dann fangen die Wände irgendwann wieder an zu zittern. Dann erscheint bald wieder ein Menetekel auf der weißen Fläche – gewogen und für zu leicht befunden, gibt es ein härteres Urteil? Die Sache von der Gegenseite her denken. Und ja nicht zu schnell verstehen. Wärmende Unterhosen benutzen, während der Zeiger weiterläuft. Man kann sie alle zerschlagen, zertrümmern, vernichten, die Uhren unserer Welt, aber die Zeit wird trotzdem kommen. Mit leichtem, federndem Schritt. Sie wird uns die schützende Decke vom Kopf reißen und ins Kalte hinausziehen. Taumeln, Halt suchen und dann stürzen lassen, hinein in den eisigen Morast abgelaufener Tage. An den Rändern werden traurige Findlinge stehen. Und buntbestickte Kniestrümpfe tragen. Was tun bis dahin? Woran denken, wie reden, wen zusammenrufen? Auf manchen Zahlenzauber wird man sowieso nicht kommen. Gewisse Seelenzonen nie erreichen. Aber der Geschichte nur noch die Taschen hinterhertragen – das geht doch auch nicht. Also auf jetzt, hoch aufs Ross, den Wagen anspannen. Europa, wir kommen. Wir treffen uns, um Dich zu besprechen und Dir das Blut aus dem Mund zu wischen. Von innen her, nicht von außen. Das Ferne muss uns wieder näher werden. Nicht alle Unterschiede einebnen, nicht alles gleich gültig werden lassen. Berührung gibt es nur durch fremde Hand. Die Strähne selbst wegstreichen heißt traurig zu sich selbst sein. Lass es bleiben. Geh in die Täler. Trink aus den Bächen. Lies auf dabei, finde Spuren, folge den Zeichen, denk an die Stimmen, die Töne, das Rauschen, den Teer. Und einmal wird der Wind dann doch drehen, die Wende doch kommen. Dann dürfen nur die, die schon segeln, kurz den Kopf einziehen. Alle anderen müssen sich stoßen lassen, bis sie verstehen, worum es geht: Egal gibt es nicht. Im Versteck bleiben ist keine Option. Raus aufs Feld, wo sie sich schlagen und die Engel der Geschichte mit Karten aus blauem Samt den Schiedsrichter spielen. He, ihr da draußen, verteilt in Raum und Zeit, kommt zusammen, lasst euch rufen. Unser Tag braucht neue Schwüre. Legt sie ab, kleidet euch ein und denkt immer daran: Gedächtnis ist alles.

— * Text, der in einem Stück und ohne Unterbrechungen durch Absätze, Überschriften, Abbildungen, Fußnoten u. Ä. gesetzt wird.
— Aufforderung, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen und dabei nicht zurückzuschauen; freihändig draufloszulegen, ohne zu korrigieren; die Buchstaben zu Papier zu bringen und bedenkenlos aus der Hand zu geben.

 

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