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Armer Uhu, klösterliches Atrium, edles Geschmeide

Gegenstände im Wert von mehr als einer Milliarde Euro befinden sich im neu eröffneten Sammlungs- und Forschungszentrum der Tiroler Landesmuseen, das von den Architekten als „Schatzkiste“ oder „Tresor“ gedacht war und für Besucher verschlossen bleibt. Eine Begehung von Carolina Schutti

Mitleiderregend hockt er da, über und über mit getrocknetem Schlamm bedeckt, sein Federkleid ist zerzaust, in die Brauntöne seines Gefieders mischt sich helles, unpassendes Grau: die Farbe des Inns, wenn er Sturzbäche aufnimmt, Kies und Unmengen an Sand, Geschiebe und Erde von überfluteten Äckern. Das Wasser ist lang verdunstet, übrig geblieben ist eine staubige Kruste, Zeugnis eines historischen Unglücks, das der Vogel nun auf seinem Federkleid trägt. Selbstverständlich hätte man ihn wieder instand setzen können, den armen Uhu, ihm die Federn auskämmen, Glanz in sein Gefieder bringen, ihn zu einem Ausstellungsstück machen, das sich herzeigen lässt, aber man beschloss, ihn zu lassen, wie er war, und setzte ihn samt dem Ast, auf dem er sich festzukrallen scheint, in eine Vitrine. Ein hässliches, zerstörtes Objekt, dennoch rundum von Glas geschützt. Und noch ein weiteres irritierendes Moment: der scheinbar aufmerksame, beinahe stechende Blick des Vogels. Er trotzt der staubigen Aura, die ihn umgibt, der Tatsache, dass nicht länger seine Eleganz im Mittelpunkt steht, sondern allein sein dokumentarischer Wert. Glasaugen, perfekt geschliffen, starren durch das Vitrinenglas auf hohe Regale, auf den (vorerst) letzten Wolf Tirols, auf zwei Tiger mit weit aufgerissenen Mäulern, auf einen schneebedeckten Affenkopf.

Die Lüftung surrt, Luftfeuchtigkeit und Temperatur in den einzelnen Depots werden ständig überwacht, wenngleich durch deren Versenkung im Erdboden konstante klimatische Bedingungen garantiert und nur wenige zusätzliche Maßnahmen erforderlich sind. Fenster gibt es naturgemäß keine, die Wände aus Sichtbeton sind trocken, die schweren Türen der Eingangsschleusen verhindern ungewollten Luftzug. Was hier gelagert ist, soll nie wieder beschädigt werden, schon gar keiner Naturkatastrophe zum Opfer fallen, wie damals im Jahr 1985, als die naturwissenschaftlichen Sammlungen der Tiroler Landesmuseen noch im Zeughaus untergebracht waren und das historische Hochwasser die Räume überflutete. Beinahe alle Bestände wurden zerstört oder stark beschädigt, nur mit großem finanziellen Aufwand, mit unglaublichem persönlichem Engagement der Mitarbeiter gelang der Wiederaufbau. 600.000 Käfer, über eine Million Schmetterlinge. In weiteren Räumen Fundstücke der Vomper Grabungen, Skulpturen, Monstranzen, Gemälde, Grafiken, Bauerntruhen, Schmuckstücke, historische Musikinstrumente, aber auch zeitgenössische Kunst, aktuelle Kunstankäufe des Landes Tirol, kurzum, Objekte im geschätzten Wert von über einer Milliarde Euro werden nach Abschluss aller Übersiedelungstätigkeiten im Sammlungs- und Forschungszentrum (SFZ) der Tiroler Landesmuseen in Hall eine neue Heimat finden. Auch wenn viele der Regale bereits gut gefüllt scheinen, wird die logistisch herausfordernde und wissenschaftlich begleitete Übersiedelung noch einige Monate in Anspruch nehmen. Schließlich werden hier sämtliche Bestände, die vorher in elf Einzeldepots untergebracht waren, zusammengeführt.
Das leicht geneigte, am Rande von Hall in Tirol gelegene Grundstück ist weit entfernt von den Lawinenstrichen und Muren des Halltals, von labilen Hängen, von felssturzgefährdeten Wänden, von Wildbächen, die bedrohlich anschwellen können, aber auch hoch genug über dem Inn, der schon um knapp vierzig Meter ansteigen müsste, um dem Depot Schaden zufügen zu können. Adresse: Krajncstraße 1, eine ruhige Nebenstraße, die von der Kaiser-Max-Straße abzweigt. Einen Bauernhof in direkter Nachbarschaft, steht das niedrige, dunkle Gebäude im wahrsten Wortsinn mitten auf der grünen Wiese. Vor einer imposanten Kulisse, gebildet aus einem klarblauen, wolkenlosen Herbsthimmel, den frisch verschneiten Gipfeln des Bettelwurf, umgeben von den noch kräftig grünen Futterwiesen, begegne ich dem vor wenigen Wochen eingeweihten Gebäude zum ersten Mal. Abweisend und zugleich verlockend, sind doch immerhin einige schwarze Fensterläden geöffnet, die dazu einladen, einen Blick in die ebenerdig gelegene Tischlerei zu werfen. Lackrot hingegen leuchtet der Eingangsbereich, der die etwa vierzig Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Hauses willkommen heißt. Für andere heißt es draußen bleiben, denn es gibt keinen Publikumsverkehr, ohne guten Grund und Termin öffnet der freundliche Portier niemandem die Tür.
Annette Lill-Rastern, die Leiterin des Sammlungsmanagements, mit der ich verabredet bin, steht noch im Stau. Ich nütze die wenigen Minuten, um vom Parkplatz aus das Gebäude zu umkreisen. Ständig beobachtet von Videokameras, mit den Absätzen meiner Schuhe in der Wiese versinkend, denn zwischen Wiese und Fassade gibt es nicht einmal einen schmalen Kiesstreifen, Architektur und Natur treten in direkten Kontakt. Dieser Eindruck verstärkt sich angesichts des vertrockneten Unkrauts, das in einigen der offenen Fugen zwischen den Fassadenplatten hängt, als wollte es Freundschaft schließen mit dem schwarzen Fremdkörper. Ich befühle die raue Oberfläche, die in regelmäßigen Abständen eigenartige Unebenheiten aufweist, sternförmige Beulen. Ein „Tresor“ beziehungsweise eine „Schatzkiste“ sollte dieses Zentrum werden, so das Ansinnen der Architekten. Schneller als gedacht ist das Gebäude umrundet, ich wundere mich, soll die Gesamtfläche doch 14.000 Quadratmeter betragen. Das Geheimnis ist rasch gelüftet: Als ich wenig später mit Annette Lill-Rastern hineingehe und mich an ein zum Innenhof hin ausgerichtetes Fenster stelle, stehe ich, obschon ich mich im Erdgeschoß wähne, gleichzeitig im dritten Stock. Die Quadratmeter sind also in der Tiefe bzw. in der Erde verteilt: Was von außen besehen recht bescheiden wirkt, offenbart erst beim Betreten seine ganze Größe.

Maßanzug

Den Tiger dürfe ich ruhig anfassen. Ich zögere. Ehrlich?, frage ich, strecke vorsichtig meinen Arm, befühle das Fell, das weicher ist als erwartet, eine Mischung irgendwo zwischen Jagdhund und Katze vielleicht. Hier wird nicht nur Historisches bewahrt, sondern auch Neues geschaffen: Peter Morass, mehrfach ausgezeichneter Tierpräparator, ist bekannt für seine besonders lebendig wirkenden Dermoplastiken. Nun stehen sie hier, dicht an dicht mit Raubvögeln, Luchsen und Bären aus dem vorigen Jahrhundert. Die Wirbeltiere brauchen Platz, den haben sie hier, in perfekt konstruierten Regalen. Und was klein ist, wie die Wanzen zum Beispiel oder die Schmetterlingssammlung, ist sorgfältig in Schubladen oder auf Regalböden geschlichtet.
Ob bei der Planung Rücksicht genommen wurde auf Zahl und Art der Gegenstände, möchte ich von Annette Lill-Rastern wissen, und prompt zeigt sie mir im Gemäldedepot die Computerausdrucke, die an jedem der Regale hängen. Penibel wurde darauf geachtet, wie groß die jeweiligen Bilder sind (etwa 4200 sind es insgesamt), und mit einem speziellen Computerprogramm wurde die ideale Hängung berechnet, um einerseits Übersichtlichkeit zu garantieren und andererseits den Platz bestmöglich auszunutzen. Kleinere Kunstobjekte wie Halsketten und Ringe haben spezielle Schubladen erhalten, sakrale Gegenstände stehen auf Regalen, sperrigere Kunstwerke – ich sehe bedruckte Stühle und Plastiken – finden auf Holzpodesten in der Mitte des Raumes Platz. Ein Gebäude, das für die Dinge entworfen ist wie ein Maßanzug, mit ausreichenden Reserven für weitere Zugänge selbstverständlich.
Kein reines Lager sollte das Depot werden, und das ist es auch nicht. Aber auch kein Museum. Irgendetwas dazwischen, jedenfalls wird hier in dieser Aufgeräumtheit wohl kein Gegenstand in einer schummrigen Ecke vergessen werden können. Und noch etwas unterscheidet das Sammlungs- und Forschungszentrum von einem
bloßen Aufbewahrungsgebäude: Wenngleich es hier keinen Publikumsverkehr gibt, so wird doch immer wieder der Kontakt nach außen hergestellt. Benjamin Wiesmair, als Schmetterlingsforscher zuständig für die Naturwissenschaftlichen Sammlungen der Tiroler Landesmuseen, stößt zu uns und erzählt mir vom Bildungsauftrag, den er und seine KollegInnen durchaus ernst nehmen: Tage der offenen Tür, Angebote für Schulklassen lassen immer wieder Einblicke in die Sammlungs- und Forschungstätigkeit zu. Er führt mich zum wertvollsten Stück der Naturwissenschaftlichen Sammlung, einem großen Schrank voller Forstschädlinge inklusive Fraßmuster, der anlässlich der Weltausstellung in Wien 1873 präsentiert wurde und aus Platzgründen den Weg von der BOKU Wien nach Tirol fand. Dann zeigt er mir noch winzige Minierfalter, wunderschöne Schillerfalter, die berühmten Totenkopfschwärmer. Allzu bald schließen sich die beiden schweren Türen hinter mir, aber es gibt ja noch einiges zu sehen.
Es ist sehr ruhig im Haus, zwischen den Feiertagen und dem Wochenende haben sich viele freigenommen. Wir wechseln die Stockwerke. Rote Klebestreifen an den Wänden fungieren als Wegweiser und gleichzeitig als Farbklecks auf dem vielen Sichtbeton. Dieser bietet aber auf raffinierte Weise eine Möglichkeit zur individuellen Wandgestaltung. In einer umlaufenden Metallschiene lassen sich unkompliziert Bildtafeln aufhängen: Ein küssendes Frauengesicht, ein historisches Männergewand, der Kreativität sind hier keine Grenzen gesetzt, Mitgestaltung ist erwünscht. Frau Lill-Rastern zeigt mir einige Büros, Vorlageräume und Werkstätten. Sie sind allesamt um den begrünten Innenhof herum gelegen. Lärchenholz und Glas der inneren Fassade wirken freundlich, ganz im Gegensatz zum schwarzen Glasfaserbeton der Außenhaut. Tageslicht fällt durch die großen Fenster, dringt durch die teilweise verglasten Bürowände hindurch, um auch den umlaufenden Gang zu belichten. Die 14.000 Quadratmeter Gesamtfläche scheinen, nicht zuletzt aufgrund der zwiebelartigen und mehrgeschoßigen Bauweise, keinesfalls überdimensioniert. Großzügig, das ja, aber es soll schließlich einen Unterschied geben zur vorherigen, mehr als beengten Raumsituation.

Und die Menschen?

Für die Dinge ist der Bau perfekt, so viel ist klar, aber wie geht es denen, die hier arbeiten? Fühlen die sich wohl?, frage ich vorsichtig. Denn in der Vorbereitung auf diese Besichtigung, bei der Betrachtung der Presse-fotos, ist unwillkürlich der Gedanke an Architektenhäuser, Architektenwohnungen aufgetaucht, die zwar im ersten Moment wunderbar anzusehen sind, in denen die Bewohner aber nach dem Einzug weder wissen, wohin sie Staubsauger und Bügelbrett stellen, noch, wie sie ihren Balkon vernünftig nützen können. Gewiss ein Vorurteil, doch gleichzeitig eine Tatsache, mit der sich nicht wenige Menschen herumschlagen und aus der Not heraus mehr oder weniger hässliche Lösungen für vermeidbare architektonische Probleme finden. Wie also ist es hier?
Annette Lill-Rastern genießt es, Kolleginnen und Kollegen zu sehen, die sie vorher vielleicht einmal pro Jahr getroffen hat. Die fälschlich gelieferte Milchglastür ihres Büros – die einzige übrigens – vermisste sie nach deren Austausch nur kurz und lässt die Bürotüre jetzt überhaupt die meiste Zeit über geöffnet. Die Gebäudearchitektur ermöglicht konzentriertes Arbeiten, gleichzeitig besticht die räumliche Nähe der Büros und Labors zu den einzelnen Depots.
Würde ich mich hier einsperren lassen? Jederzeit. Wunderbar stelle ich es mir vor, das Arbeiten in dieser beinahe sakralen Stille, mit dem Gefühl, von einem schützenden Außenring umgeben zu sein, mit dem Blick in ein kleines Stück Himmel oder in den klösterlich wirkenden Innenhof. Ein Lachen, das von irgendwoher kommt oder das Rollen eines Transportwagens. Das Keuchen der Kaffeemaschine und nur ab und an das Klingeln des Haustelefons. Die friedliche Geräuschkulisse täuscht vielleicht an diesem Fenstertag, vielleicht ist es sonst lauter, vielleicht geht öfter jemand an der geöffneten Bürotür vorbei, aber die konzentrierte Atmosphäre bei gleichzeitig kurzen Wegen, um sich mit Kolleginnen und Kollegen anderer Fachbereiche treffen und austauschen zu können, die bleibt wohl auch an unruhigeren Tagen erhalten.

Schnittlauch und Kaffee

Die Gelegenheit zum gegenseitigen Austausch und das soziale Miteinander seien dem Wiener Architekturbüro Franz&Sue besonders wichtig, lässt sich deren Homepage entnehmen. Im Fall des Sammlungs- und Forschungszentrums wurde darauf jedenfalls Rücksicht genommen, mehr noch, das Atrium lädt geradezu dazu ein, die Mittagspause nicht im fußläufig erreichbaren M-Preis, sondern hier zu verbringen. Die Küchenzeile im Sozialraum wirkt zwar noch relativ unbenutzt, aber hier werde bereits gemeinsam gekocht, versichert mir Frau Lill-Rastern. Küchenkräuter finden sich im Hochbeet. Jetzt, im Herbst, schafft es die Sonne nicht mehr bis hinunter, aber der Schnittlauch zeigt immer noch, dass er schneller wächst, als er geerntet werden kann.

Einen Espresso und einen Händedruck später ein freundlicher Abschied, ich trete durch die lackrote Pforte hinaus in den prächtigen Herbsttag. Ohne einen weiteren Schreib- oder Forschungsauftrag werde ich hier nicht mehr so schnell hineinkommen, was ich sehr schade finde. Als ich mich nach einigen Schritten umdrehe, scheint es, als wäre das Gebäude abweisender als zuvor, dunkler, die Schwärze der Außenhaut wirkt beinahe wie ein Tarnmantel. Ich verweile auf dem Parkplatz. Blicke auf die Beulen in der Außenhaut. Wollt ihr hinaus?, frage ich leise, meine die Objekte, nicht die Menschen. Dass die Unebenheiten in den Fassadenplatten Abbilder eines steinzeitlichen Faustkeils seien, werde ich später lesen, doch für mich sind es in diesem Augenblick Abdrücke von Eulenköpfen, Geigenbögen, Stuhlbeinen, Münzen aus der Bronzezeit, die von innen gegen die schwarze Hülle drücken. Vom armen Uhu in seiner Vitrine, den Schmuckstücken, dem aufflatternden Kolibri, der Tigerpranke: Wer weiß, vielleicht dürfen sie irgendwann das schützende und bewahrende Depot verlassen und ans Licht der Öffentlichkeit treten …

 

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