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Brenner-Gespräch (18): „Alle Existenz ist unerreichbare Vollkommenheit“

So viele Leute fahren über die Alpen. Quart bittet herausragende Persönlichkeiten an den Straßenrand zu einer Jause mit Gespräch. Folge 18: Die weltberühmte, 85-jährige Komponistin Sofia Gubaidulina, Composer in Residence beim Festival KLANGSPUREN SCHWAZ 2017, nimmt sich Zeit für die Musikwissenschaftlerin Tatjana Frumkis und den Künstlerischen Leiter Matthias Osterwold und spricht über die Vermehrung von Kaninchen aus mathematischer Sicht, fachliche Notwendigkeit starker Konstruktionen und Versöhnung nach dem Tod.

Matthias Osterwold: Frau Gubaidulina, es ist auffällig, dass Sie Ihr kompositorisches Werk seit den 1970er Jahren in ungebrochener Kontinuität entwickelt haben, mit Ihrer ganz persönlichen musikalischen Sprache, anders als viele Ihrer Kollegen aus der ehemaligen Sowjetunion.

Sofia Gubaidulina: Sie haben Recht. Es gab einen großen Unterschied zwischen uns Komponisten dieser Generation. Nicht wenige vollzogen einen Bruch in ihrer Entwicklung. Ich kann zum Beispiel ein Gespräch mit Arvo Pärt nicht vergessen. Er fragte mich: Wie soll eigentlich moderne, gegenwärtige Musik klingen? Damals schrieb er avantgardistisch konzipierte Stücke. Nach diesem Gespräch zog er in ein Dorf und lebte dort als einfacher Arbeiter. Drei Jahre später kam er auf die Bühne zurück mit einem ganz neuen Stil, einer stillen und konsonanten Musik. Dasselbe geschah bei einigen meiner Freunde, z. B. auch bei Valentin Silvestrov. Aber bei mir war es genau umgekehrt – ich träumte seit meiner Kindheit immer davon, das ans Tageslicht zu bringen, was in den tiefsten Schichten unserer Seele verborgen liegt. Das ist unglaublich schwer und dauert eine Ewigkeit. So etwas kann man nicht mit Veränderung erreichen, man muss vielmehr versuchen, einen Zustand zu finden, wo das Ich und das Selbst in eins gebracht werden.

M.O.: Sie beschreiben den Kern Ihres künstlerischen Ansatzes. Mir kommt es so vor, wenn ich Ihre Musik höre – und zwar egal, ob sie klein besetzt ist oder ein großes Orchesterwerk –, dass da immer so etwas ist wie ein Selbstgespräch. Und dass, was immer man musikalisch darin sehen mag, Ihre Musik gänzlich durchhörbar ist. Man hört die Instrumente wie einzelne Stimmen. Ihre Werke sind so etwas wie Gedichte oder Dichtungen in Musik, im doppelten Wortsinne. Also nicht nur Poesie, sondern auch Verdichtungen, Intensivierungen, Konzentrate. Würden Sie dieser Beschreibung zustimmen können?

S.G.: Es gibt wirklich ein Gespräch mit mir selbst. Und dieses Gespräch ist nicht ein Punkt, sondern die Beziehung zwischen dem Ich und etwas Anderem, und das ist gerade der Weg zu sich selbst. Ich bin überzeugt, dass ein Weg zum Innersten der Seele existiert. Und dort im Innersten existiert ein Fenster, wo dieses Selbst steht. Diese Beziehung zwischen dem Ich und dem Selbst ist wie gesagt kein Punkt, sondern Bewegung, ein Vektor. Und gerade das ist eine Verdichtung verschiedener, mannigfaltiger Existenzen des Lebens. Ich glaube also, Dichtung – dicht – bedeutet: vielfältige Gedankenzustände in einem. Also Mannigfaltigkeit und Ganzheit.

Tatjana Frumkis: Hier gibt es für mich einen Widerspruch … gegen diese Ganzheit steht eine bestimmte Dramaturgie des Werkes, die es in deinem Schaffen seit Anfang der 1970er Jahre gibt. Zum Beispiel wurde jetzt im Festival KLANGSPUREN Dein 1971 geschriebenes Stück „Concordanza“ aufgeführt. Ein Stück mit einer Konstruktion, die man vielleicht imaginäres Drama nennen kann. Es gibt als Ausgangspunkt ein Symbol – eine Kollision mit zwei Polen oder zwei Helden, die sich gegenseitig auseinandersetzen. Entweder gehen sie voneinander weg oder kommen zueinander, kreuzen sich. Aus dieser Kollision entsteht ein absolut unkonventioneller Kompositionstyp, der trotz desselben Prinzips jedes Mal anders ist. Dazu gehört noch ein kleiner Widerspruch: Seit den 1970er Jahren schreibst du praktisch nur instrumentale, reine, absolute Musik. Aber diese Werke hatten immer einen Titel. Das heißt, sie hatten einen philosophischen, literarischen Hintergrund, dennoch war das kein Programm. Und jetzt möchte ich dich fragen: Welchen Unterschied siehst du zwischen Programmmusik und deinen Werken, die rein und absolut sind, aber trotzdem diese Titel und diese „dramatische“ Kollision im Hintergrund haben?

S.G.: Ich sehe keinen Widerspruch. Denn unser Leben selbst ist im Grunde genommen widersprüchlich. Das ist der Kern unserer Existenz – Mannigfaltigkeit und Ganzheit ist das Gesetz unseres Lebens. Und auch, weil ich über diesen Weg zu sich selbst sage, dass er ein Prozess ist, den künstlerische Werke verwirklichen können.

T.F.: Es gibt viele Beispiele dieser Kollision, dieser Dramaturgie.

S.G.: Von Anfang an war dieser dramaturgische Kontrast in meinem Schaffen bemerkbar, schon in den Titeln – etwa „Hell und Dunkel“, „Vivente – non vivente“, „Rumore e silenzio“. Auch zum Beispiel in der Gegenüberstellung von Solo und klanglicher Masse. Und im letzten Werk, dem Oratorium „Über Liebe und Hass“. Auch das Stück „Fachwerk“ hat sehr kontrastartige Substanzen. Vielleicht ist die Statik in „Fachwerk“ beim Hören besonders evident, mit dem Bajan, dem russischen Knopfakkordeon, das in seiner Konstruktion anders funktioniert als das westliche Tastenakkordeon. Alles beginnt in den tiefsten Registern, den Glissandi der Marimba von unten nach oben und der allmählichen Bewegung des Bajans bis zum höchsten, hellsten Register.

M.O.: Wenden wir uns dem Beispiel etwas näher zu. Im Mai 2017 gab es eine intensive Aufführung des Tiroler Symphonieorchesters in Innsbruck mit dem charismatischen Bajan-Spieler Geir Draugsvoll aus Norwegen, der das Werk auch in Auftrag gegeben hat. Draugsvoll hatte Ihnen die Zeit gelassen, die Sie brauchten. Es dauerte länger als ursprünglich geplant, aber was er bekommen hat, ist ein fabelhaftes Werk, das jetzt „sein“ Stück ist. Und als Spieler „verkörpert“ er dieses „Fachwerk“ geradezu – er wird zum „Performer“. Der deutsche Begriff „Fachwerk“ stammt ja aus der Architektur.

S.G.: Die Fachwerk-Architektur fasziniert mich sehr.

M.O.: Im Titel ist eine Anspielung enthalten, dass – bei aller Subjektivität und Expressivität Ihrer Musik – sehr wohl starke formale Konstruktionen vorhanden sind, die eine wichtige Rolle im Aufbau von Spannungsbögen spielen. „Fachwerk“ ist also Architektur, in der symbolisch das Kreuzmotiv enthalten ist, und bildet auch eine gewisse ornamentale Typologie aus. All dieses haben Sie in Ihrem Werk formal, aber auch metaphorisch komponiert.

S.G.: Und in „In croce“ gibt es dann noch den Kontrast zwischen Cello und Bajan. Die Töne treffen sich und ergeben eine Explosion.

M.O.: Im Eröffnungskonzert von KLANGSPUREN SCHWAZ 2017 war eine engagierte, schöne Aufführung von „Glorious Percussion“ zu erleben. Es ist ein relativ junges Werk von Ihnen, von 2008. Im Titel sind zwei Dinge angedeutet, die für Sie wichtig sind – zum einen Ihre Liebe zum Schlagwerk, und in dem Begriff „Glorious“ scheint zum zweiten auf, dass Sie in eine noch höhere oder weitere Dimension zielen.

S.G.: Das Werk besteht aus acht Variationen. Als gliederndes Element sind die pulsierenden Klänge wesentlich, die entsprechend dem stehenden Akkord aus zwei, drei Intervallen gebaut sind. Das Werk hat eine achtteilige Form, aber es gibt verschiedene Kulminationspunkte, etwa im Zentrum und im Goldenen Schnitt des Werkes, nach den Regeln der Fibonacci-Reihe.

M.O.: Das ist die Reihe, die sich im Zahlenverhältnis ihrer aufeinanderfolgenden Glieder dem Goldenen Schnitt annähert.

S.G.: Fibonacci entdeckte im 12. Jahrhundert dieses Gesetz, mit dem er komischerweise die Vermehrung von Kaninchen beschreiben konnte.

M.O.: Der Goldene Schnitt ist gewissermaßen die magische Zahl natürlichen Wachstums.

S.G.: Ja. Die Reihe von Fibonacci spielt eine große Rolle in der Natur, im kosmischen Raum und im Menschlichen. Überall wirkt dieses Gesetz, bis zur kleinsten Zelle unseres Organismus, bis in die DNA. Ich möchte zeigen, was diese Reihe für mich bei der Gestaltung der Form bedeutet: 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, 34, 55, 89 usw. Das reicht. Aber je weiter man in der Reihe kommt, desto mehr Vollkommenheit ist erreichbar. Das ist das Wichtigste. Also: Alle Existenz ist unerreichbare Vollkommenheit. Im Goldenen Schnitt, dieser Proportion, finde ich Punkte, wo etwas in der musikalischen Form geschieht. Zu diesen Punkten zu kommen ist für meine Gestaltung sehr bedeutend.

T.F.: Welche Rolle spielen das Pulsieren der Klänge, Differenztöne und Schwebungen für deine Komposition?

S.G.: Das ist Material. Da ist zunächst die formale Dimension – die Gestaltung von acht Variationen mit Fibonacci-Kulminationspunkten. Jedes Intervall erzeugt einen Differenzton und eine bestimmte Zahl von Schwebungen. Es ist ein pulsierender Klang. Diese Phänomene sind etwas Besonderes in der musikalischen Kunst, weil alles, was wir hören und produzieren, einen neuen pulsierenden Raum hervorbringt, den wir nicht hören. Aber faktisch existiert er, das ist eine natürliche Tatsache. Die Pulsationen sind Kern des Werkes. Und diese Erscheinungen sind bei der Entwicklung dieser acht Variationen immer wieder evident im Raum vorhanden.

M.O.: In dem Werk scheint mir sehr wohl deutlich hörbar, wie aus den Pulsationen, aus den Differenztönen in das Orchester hinein Ableitungen geschehen. Ich habe mich gefragt, ob es in Ihrer künstlerischen Haltung vielleicht eine gewisse Verwandtschaft mit Olivier Messiaen gibt?

S.G.: Vielleicht … ich kann diese Ähnlichkeit nicht ausschließen.

M.O.: Wenn man mit Differenztönen und gewissermaßen mit der natürlichen Physikalität von Klängen arbeitet, dann erreichen sie eine Art Glanz, weil sie auf den natürlichen Frequenzproportionen beruhen. Schlagwerk produziert eigentlich keine ganz sauberen Tonhöhen, aber gleichzeitig ist ein breites Spektrum an Partialtönen vorhanden, wie in den Gongs zum Beispiel. Sie destillieren alles aus diesen pulsierenden Schwebungen und Differenztönen.

S.G.: Ja genau. Es kann sein, dass es in dieser Hinsicht noch zusätzliche Erscheinungen gibt, nicht nur gezählte, kalkulierte Pulsation, sondern noch etwas Weiteres: unlineare Pulsationen und anderes mehr.

T.F.: Du sprichst davon, dass alles mit dieser wunderbaren utopischen Idee der Noosphäre zu tun habe, die von Pierre Teilhard de Chardin, Wladimir Wernadski und anderen entwickelt wurde; also der Idee, dass jeder Künstler oder Komponist eigentlich seinen eigenen Teil an kosmischen Klängen produzieren kann.

S.G.: Ja – ein Energiepotential als Resultat in einem pulsierenden Raum. Vielleicht wird etwas Schwebendes produziert, aber diese zusätzliche Energie erscheint tatsächlich in der Welt. Man könnte es auch so interpretieren, dass sie im Gegensatz zur Entropie steht.

M.O.: Sie als Komponistin haben gewissermaßen die Möglichkeit, die Auswirkungen dieses Naturgesetzes der zunehmenden Entropie zu verlangsamen oder für einen kurzen Moment aufzuhalten?

T.F.: Auf jeden Fall zu widerstehen.

M.O.: Das hieße, die Differenzierung wieder zu erhöhen, aber im Einklang mit den Naturgesetzen, also der Physikalität und der Materialität der Klänge, mit denen Sie arbeiten?

S.G.: Ja. Es ist eine wahnsinnige Idee, aber es könnte sein, dass wir diesen nach unten laufenden Prozess bremsen. Weil Entropie Verminderung von Energie bedeutet. Physiker nennen das den Kältetod des Universums. Wenn alles zur Ruhe kommt, ohne Energie, Streben nach dem Gleichgewicht, Ausgleich – das bedeutet Tod.

M.O.: Tod von allem.

S.G.: Doch die Musik kann diesen Prozess bremsen.

M.O.: Ich persönlich bin auch überzeugt, dass wir durch Kunst den Lauf der Entropie verlangsamen oder für einen Moment aufhalten können – mindestens auf einer metaphorischen und menschlich-sozialen Ebene. Deshalb ist es wesentlich, in der Kunst – aber auch in unseren menschlichen Beziehungen – zu möglichst viel Differenzierung, Subtilität, Sensitivität zu kommen, weil wir dann der Redundanz oder dieser Verflachung, Nivellierung etwas entgegensetzen können. Künstler haben dabei eine besondere Rolle inne, glaube ich.

S.G.: Das denke ich auch. Mitwirken an der Noosphäre. Diese wahnsinnige Idee von Teilhard de Chardin, der das wunderbare Buch „Der Mensch im Kosmos“ geschrieben hat, und Wernadski, der diese Theorie weiterentwickelte. Die Erde ist umhüllt von Pflanzen, dann kommt die Tierwelt, dann das Menschliche, schließlich die geistige Sphäre, und diese mentale Energie umgibt auch die Erde – die Noosphäre.

M.O.: Ich kenne diese Theorie nicht, aber wie wir
tasächlich wissen, ist die Evolution ein Prinzip, die wachsende Entropie aufzuhalten oder jedenfalls zu verlangsamen. Die Evolution schafft neue Formen und Möglichkeiten, die sich in Anpassung und im Austausch mit den physikalischen Gegebenheiten als brauchbar, als gut erweisen. Aber noch heute ist nicht ganz klar, welche Rolle das Ästhetisch-Schöne, das in der Natur überreichlich vorkommt, in diesem Prozess spielt.

S.G.: Ja, die Natur verwirklicht diese Idee, um damit Entropie zu bremsen. Gerade Schönheit ist an diesem Prozess beteiligt.

T.F.: Sprich bitte über deine Zusammenarbeit mit Musikern, die dich inspiriert haben und die du inspiriert hast.

S.G.: Es waren und sind wirklich genial begabte Interpreten mit einem besonderen Verhältnis zu ihren Instrumenten. Ich kann mein erstes Zusammentreffen mit Elsbeth Moser nicht vergessen. Sie hatte ein russisches Instrument – ein Bajan – bestellt und ich spürte, dass das wirklich ihr Kind ist – es war absolut klar, dass es ein lebendiges Geschöpf für Elsbeth Moser war.

T.F.: Du nimmst ja eigentlich Instrumente auch als Personen wahr …

M.O.: Sie sind auf diese Interpreten unmittelbar zugegangen als Musiker, die alles vom Instrument her denken, die Möglichkeiten des Instruments voll nutzen. „In croce“ wurde initiiert von Ihrem Freund, dem Cellisten Vladimir Tonkha. Dann sind da eben Elsbeth Moser, Friedrich Lips und später Geir Draugsvoll.

T.F.: Es war für uns eine große Überraschung, dass Sofia dieses Instrument „ernst“ genommen hat. Denn das Bajan war für uns in Sowjetzeiten einfach ein Volksinstrument. Sie hat dieses Instrument entdeckt.

M.O.: Gehen wir auf das Kapitel der Entdeckung von Instrumenten etwas näher ein. 1975 hat Sofia Gubaidulina zusammen mit Viktor Suslin und Vyacheslav Artyomov das Improvisationstrio „Astreja“ gegründet, das bis zum Tode von Suslin im Jahre 2012 bestand, wobei nach 1992 – das Jahr von Sofia Gubaidulinas Ausreise nach Deutschland – Viktors Sohn Alexander an die Stelle von Vyacheslav Artyomov trat. Das Trio spielte im echtesten Sinne improvisierte Musik,und zwar auf Instrumenten, die alle drei Musiker ursprünglich gar nicht kannten – darunter viele Volksinstrumente aus Kaukasien, Mittel- und Ostasien. Diese Musik ist auch auf Schallplatte veröffentlicht worden. Was bedeutet „Astreja“?

S.G.: Göttin der Vollkommenheit. Artyomov hatte sich den Namen ausgedacht. Jedenfalls stellt diese Erfahrung mit „Astreja“ für mich etwas Besonderes dar. Mir scheint, dass unsere Zeit mehr Aktivität des Unterbewusstseins braucht. Wir leben eigentlich in der Zeit von Faust, mit dem Primat der Erkenntnis, also: ich möchte alles wissen, alles erkennen. Jetzt kommt vielleicht die Zeit heran, in der etwas Gegensätzliches wirken soll. Wir drei spürten damals, dass noch etwas anderes existieren sollte, als ausschließlich imaginierte Musik auf Papier zu bringen. Das Unterbewusstsein, unsere Seele, ist durch intellektuelle Aufgaben ein wenig unterdrückt. Was behindert eigentlich die Aktivität der Seele, des Unterbewusstseins? Ein kritisches Publikum, zivilisierte Instrumente, etwas schon Komponiertes. Wir wollten uns davon ein Stück distanzieren und eine archaische Situation schaffen, wo nichts vorher existiert – überhaupt keine Musik, kein Publikum. Es existierten nur wir drei in einem Privathaus. Nur noch wir und das Gespräch zwischen uns mit Materialien, die nicht zivilisiert waren. Wir beherrschten diese Instrumente nicht. Klavier, Geige, Cello, Kontrabass – all das war streng verboten. Aus diesen Materialien etwas Musikalisches zu schaffen und mit diesen Mitteln miteinander zu sprechen – das war für mich etwas Besonderes. Ich weiß noch … als ich einmal die Saite eines orientalischen Instrumentes mit dem Bogen strich, spürte ich, dass dieser Klang wirklich meine Seele ist – nicht die Darstellung meiner Seele im Klang, nein. Meine Seele und der Klang sind eins geworden. Diese Ganzheit schätze ich am meisten. Sie ist schwer zu erreichen. Irgendwo steht ein Fenster im tiefsten Bereich meiner Seele offen, wo ich mit meinem Selbst zusammentreffe.

M.O.: Wenn ich Sie richtig verstehe, finden Sie diesen Moment – Ihr Selbst – in Übereinstimmung mit dem, was von außen an Sie herantritt. In diesem Moment sind Sie gewissermaßen ideell identisch mit dem Natürlichen.

S.G.: Gerade das ist der Fall. Also der Klang dieser Saite und mein Bogen sind verbunden, sie sind zugleich mein Selbst.

M.O.: Ich vermute, dass das Improvisieren für Sie immer auch eine reiche Quelle Ihrer Klangfantasie war, eine Möglichkeit, daraus Klänge neu zu entdecken.

S.G.: Ich glaube nicht, dass diese Art und Weise zu musizieren die konventionelle Art des Komponierens beeinflusst. Jedenfalls nicht bewusst, das möchte ich nicht. Aber diese Erfahrung beeinflusst meine Fantasie, die ich dann notiere, um auf normale Art und Weise zu komponieren.

M.O.: Sie haben mit „Astreja“ gelegentlich doch auch öffentlich gespielt?

S.G.: Das war ein Experiment. Aber auf der Bühne spüre ich eine ganz andere Situation. Das hat etwas Artistisches …

M.O.: Auf der Bühne führen Sie wieder etwas vor.

S.G.: Da ist mein Kontakt mit Publikum. Das ist auch kostbar, aber etwas ganz Anderes. Die größte Tiefe spüre ich gerade ohne Publikum, ohne Kritiker, ohne jegliche Hindernisse.

M.O.: Und ohne die Konventionen und Normen eines traditionellen europäischen Konzertlebens.

S.G.: Ja, genau so, wie wir es wollen. Wir können alles produzieren. Wir sind absolut frei. Das gemeinsame Musizieren solcher Art ergibt ganz besondere, unendliche, unkonventionelle Freundschaften. Wie mit Viktor Suslin. Er ist ein fantastischer, wichtiger, großer Komponist mit großer intuitiver Kraft und unglaublich genauer, komplizierter struktureller Arbeit. Leider ist er 2012 gestorben. Das imaginäre Zusammentreffen nach dem Tod veränderte die Beziehung. Im Leben hatten wir immer gestritten. Es gab grundverschiedene ästhetische Vorstellungen, Einsichten in das Leben, die Existenz. Im neuen Gespräch – nach seinem Tod – war das alles vorbei, als wäre es zur Versöhnung gekommen. Mein Werk zu seinem Tod heißt „So sei es“ – das bedeutet Amen. Was geschah – alles wird gut.

M.O.: Wie steht es mit Ihrem Verhältnis zu literarischen Texten? Es gibt ja eine ganze Reihe an vokalen Werken, wo Sie sich als Komponistin zu Texten verhalten.

T.F.: Ägyptische Poesie, persische Poesie, deutsche Poesie, englische Poesie, russische Poesie, liturgische Texte.

M.O.: Wie ist Ihr Zugang zu den Texten, was steuert Ihre Wahl?

S.G.: Das ist eine sehr tiefe Frage. Allgemeine Prinzipien kann ich nicht beschreiben, jedenfalls spielt Poesie eine große Rolle für mich. In „Aus dem Stundenbuch“ werden die Gedichte von Rilke nur gesprochen, also nicht vertont. Vielleicht ist er mir am meisten verwandt. Ich spüre seine Poesie: „Und manchmal bin ich wie der Baum, der, reif und rauschend, über einem Grabe den Traum erfüllt, den der vergangne Knabe (um den sich seine warmen Wurzeln drängen) verlor in Traurigkeiten und Gesängen.“ Das ist mit so nahe. Unglaublich interessant, rätselhaft und geheimnisvoll. Rätselhaft ist auch, wie Marina Zwetajewa und Rilke Verwandtschaft zeigen. Ich spüre, dass „Das Stundenbuch“ vollkommen meine Gedichte sind. Aber das Vertonen ist eine ganz andere Sache. Ich weiß nicht, wie das gehen kann. Ich habe mir viele Gedanken darüber gemacht, was Musik mit Poesie anstellt. Mir scheint, musikalische Vertonung ist nicht nötig. Mir scheint, dass Musik für die Gedichte nicht der Vermehrung von Expressivität dient, sondern umgekehrt. Wenn ich privat das russische Vaterunser spreche, tue ich das sehr expressiv, sehr persönlich. Im Gottesdienst aber, in seiner litaneihaften Musikalität, klingt das Vaterunser zurückhaltend, damit ein allgemeiner Sinn, etwas Höheres zum Vorschein kommt.

T.F.: Du hast einmal gemeint, dass Musik Heilung der Verse sein muss.

S.G.: Ja, und zwar durch Abstraktion und Hervorhebung der allgemeinen Dinge – so geschieht Erlösung.

M.O.: Frau Gubaidulina, Sie haben uns etwas gesagt, das mich tief berührt hat: „In meinem Alter habe ich nur noch Sehnsucht nach der Zukunft, in Kunst und Leben.“ – Das ist wie eine Paraphrase auf Sartres „Die Jugend hat Heimweh nach der Zukunft“. In diesem Sinne sind Sie der jüngste Mensch von uns allen.

 

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