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Zwischen uns das brennende Meer

Mirko Bonné betrachtet Cy Twomblys Gemäldezyklus „Lepanto“ und erzählt dessen Geschichte, die nach Virginia, in den Golf von Korinth und nach Gröden führt.

Gemälde von Cy Twombly sah ich zum ersten Mal an einem flirrend heißen Sommertag im Museum für Gegenwartskunst Basel. Im Baseler Kunstmuseum wurde umgebaut; das nutzte man, um Teile der zeitgenössischen Sammlung in ungewohntem Rahmen neu zu präsentieren und auszudeuten. Neben zwei rätselhaft zeitlos wirkenden, weiß übertünchten Plastiken, die mitten in dem großen, durch Glasfronten erhellten Raum standen und eine erregende Präsenz bewiesen, wurden acht frühe Gemälde Twomblys ausgestellt, die die rasante Entwicklung des Malers an einem kritischen Punkt zeigen: Bilder aus den 1950er, 60er und 70er Jahren, in denen sich aus hingekliert anmutenden Ziffern und Schriftzeichen irritierende Momente entwickeln, die ihrerseits zu bildnerischen Symbolen und eigenständigen, so kindlichen wie archaischen Formen werden. Lange blieb ich stehen vor einem großformatigen, auf den ersten Blick nichts als grauen, mit dunkelgrauen Schlieren übermalten Bild, das Cy Twombly 1971 gemalt und dem er den Titel „Nini’s Painting“ gegeben hatte.
Hält man vor dem Gemälde inne und betrachtet aufmerksam das Schlieren- oder Liniengewimmel darauf, so stellt sich rasch der verblüffende Eindruck ein, dass man wie vor einem Fenster zu stehen meint, hinter dem es draußen lautlos regnet. Die Schlieren, die eine sacht ansteigende Diagonale von der linken unteren zur rechten oberen Bildecke beschreiben, erweisen sich bei genauerem Hinsehen lediglich als graue Bleiftstiftstriche, erhalten jedoch (wodurch?) blaue Schatten, die, je nach Augenentfernung von der Bildoberfläche, zu wandern scheinen. Aufgetragen ist das Graphitgeäst auf weitere, wie im entfernteren Hintergrund gleichfalls schräg über das Bild aufsteigende Strichepulks, die aber aus Kreide sind und Twomblys bevorzugte Grundfarbe Weiß auf der Leinwand ins Spiel bringen.
Einige Male ging ich weiter, sah mir die anderen, zumeist unbetitelten Gemälde und die beiden Plastiken an, stellte mich an eine der Glasfronten, durch die man hinuntersah auf den St. Alban-Teich, kurz bevor der in den Rhein mündet; es war Nachmittag, weit über 30 Grad heiß, überall am Nordufer des Rheins saßen Sonnenhungrige im Gras und auf den Steinen, Schattenplätze gab es nirgends mehr. Gleißendes Licht, das sich auf der Wasseroberfläche spiegelte, gebrochen einzig von den in der Windstille stehenden Bäumen und ihren regungslosen Wipfeln.
Wieder ging ich zurück vor das Bild. Auf mir unerklärliche Weise schien es das in den Saal fallende Licht nicht allein aufzunehmen, sondern zu verstärken, ja sogar selber Licht zu werfen. Ich hatte den Eindruck von einer im Bildhintergrund zunehmenden Helligkeit. Die graublauen Linien ergaben anscheinend eine Schrift, die ich mit Blicken selber auf dieses Licht auftrug, obwohl ich sie nicht zu entziffern vermochte, so als würde ich dicht über eine Landschaft fliegen und unvermittelt eine Ordnung, ein Muster darin erkennen, eine menschengemachte, menschliche Struktur, anhand derer Natur und Kultur ineinander übergingen.
Nini, fragte ich mich, ist damit ein Kind gemeint, oder vielleicht eine Frau, eine Geliebte? Ist Twomblys Gemälde als Brief, als gemalter Brief zu verstehen? An wen wäre der gerichtet? Nach dieser ersten Begegnung in Basel fing ich an, mich eingehender mit Cy Twomblys Kunst, seiner Malerei, seinen Zeichnungen, Plastiken und Fotografien zu beschäftigen. Erstaunt fand ich heraus, dass er seit Mitte der 1950er Jahre bis zu seinem Tod 2011 vorwiegend in Italien lebte und malte, in Rom, im Latium, aber auch im Grödnertal in Südtirol. Zu Twomblys frühesten europäischen Förderern zählt Plinio De Martiis, in dessen Galerie La Tartaruga in Rom er über Jahrzehnte hinweg immer wieder ausstellte. 1971 starb unerwartet De Martiis’ Frau Maria Antonietta Pirandello, Enkelin des umstrittenen italienischen Dramatikers und Nobelpreisträgers von 1934. Ihr Spitzname war Nini. Twombly malte fünf Gemälde zum Andenken an die junge Frau. „Nini’s Painting“ verbindet Schrift und Malerei, bringt Unterschiede zwischen den Genres Zeichnung und Gemälde in die Schwebe und ist tatsächlich ein gemalter, gezeichneter Brief, nicht zu entziffern zwar, und doch lesbar und verständlich auf eigentümliche, sinnliche, innige Weise. Mit „Nini’s Painting“ hält Cy Twombly der Zumutung des Todes eine Schrift-und-Licht-Erzählung entgegen.

Twombly wurde 1928 in Lexington, Virginia, geboren. Sein vermeintlicher Vorname „Cy“ ist der Spitzname seines Vaters, der so wie er mit bürgerlichem Namen Edwin Parker Twombly hieß, und vererbt sich (Poesie) durch die Generationen: Der Vater arbeitete als Schwimm- und Golflehrer an der Lexingtoner Washington and Lee Universität, war in jungen Jahren aber Baseball-Profi und hatte (ähnlich der Baseball-Legende Denton „Cy“ Young) von sich reden gemacht, indem er mit fulminanten Würfen immer wieder Maschendrahtzäune so zurichtete, als hätte die ein Tornado zerfetzt. Cy ist eine Kurzform des Ausdrucks „cy-clone“ für Zyklon oder Wirbelwind, und mir erscheint es als nicht zu weit hergeholt, in diesem selbstgewählten Namen ein Programm zu sehen. Bestimmt hätte Cy Twombly so wie sein Vater das Zeug zum Sportler gehabt, auf zahlreichen Fotos, die es von ihm gibt, erkennt man seine noch im hohen Alter hoch aufgeschossene, athletische Statur. Doch er entschied sich früh für eine künstlerische Laufbahn und hatte das Glück, keine Hindernisse in den Weg gelegt zu bekommen, die er hätte zur Seite fegen müssen.
Mit Mitte zwanzig lernte er während eines Stipendiums in New York Robert Rauschenberg kennen, mit dem ihn eine Jahrzehnte anhaltende Freundschaft verbinden sollte. Die beiden jungen Künstler besuchten einen Malkurs am Black Mountain College in Asheville, North Carolina, bevor sie (mal gemeinsam, mal jeder für sich) anderthalb Jahre lang die US-Südstaaten, Kuba, dann Europa und schließlich Nordafrika bereisten. Ehe sie in die Vereinigten Staaten zurückkehrten, verbrachten sie den Frühling 1953 in Rom, für Cy Twombly ein lebensentscheidender Einschnitt.
Einige Jahre lang teilten sich Rauschenberg und Twombly ein Atelier in Manhattan und begannen dort, ihre Reiseeindrücke zu verarbeiten und eine erste, gemeinsame Ausstellung in Eleanor Wards Stable Gallery vorzubereiten. Twombly lernte de Kooning, Kline, Pollock, Reinhardt und viele andere dort kennen. Das Zentrum der internationalen Kunstszene verlagerte sich von Paris nach New York, und zahlreiche Freunde und Kollegen, darunter Rauschenberg, wurden berühmt und verkauften Werke zu immer höheren Preisen. Twombly entschied sich für das Gegenteil. Er hörte auf, zielgerichtet zu produzieren, malte über ein Jahr lang überhaupt nicht und verabschiedete sich schließlich aus New York, um 1957 überzusiedeln nach Rom. Dort, in der lebendigen Nähe zur antiken Tradition, beginnt sein eigentliches Werk, Gestalt anzunehmen. In Rom, in mehreren kleinen Dörfern im Latium und auf der Insel Procida in der Bucht von Neapel, wo er in den folgenden Jahren malte, fand er das mediterrane, ins Weiße übergehende Licht, das so vielen seiner Gemälde als Bildfeld dient. Geschichte, Mythen und Dichtung vorrangig der griechischen Antike sowie ihrer Fortschreibungen bis hin zu zeitgenössischen Lyrikern wie Giorgos Seferis verwandelt Twombly zu Klang- und Bedeutungsräumen, die seine Bilder mittels minimaler, oft im gestisch kritzelnden Understatement gehaltener Fingerzeige aufrufen und sie für denjenigen Betrachter öffnen, der dort hineingehen und sich aufhalten möchte: unsichtbare Dichtung. Vorläufer einer virtuellen Kunst. Striche, Streichungen, Zeichen. Ziffern, Chiffren. Scheinanweisungen. Skizzen zu nichts. Klecks. Verwischung. Flecke. Flecken. Übermaltes. Stehengelassenes. Gekliert, verschliert. Versunken im Bildgrund. Linien wie Fische. Punktegewölk. Aber immer das Licht. Als würde man in einem weißgetünchten Raum stehend aufs Meer blicken: eine Bucht voller Helligkeit. Die Ägäis. Ein freier Tag. Das Ionische Meer. Zurückgewonnene Kindheitssaumseligkeit. 1959 heiratet Twombly Tatiana Franchetti, eine junge Baroness, deren Familie Land und Anwesen bei Rom und in Südtirol besitzt. Im selben Jahr kommt ihr Sohn zur Welt, Cyrus Alessandro, auch ihn nennt man Cy. Aus der Zäune zertrümmernden Baseball-Legende wird ein antiker König.
Durch das Vermögen der Franchettis aller finanziellen Schwierigkeit ledig, bereist die Familie in den folgenden Jahren Südeuropa und Nordafrika, verbringt aber längere Zeiten immer wieder auch in Virginia oder auf Captiva Island in Florida, wo Robert Rauschenberg ein Atelier hat. Auf dem Familienanwesen Castel Gardena in St. Cristina im Grödnertal beginnt Cy Twombly zu Beginn der 1960er Jahre, sich mit den Mythen, der Philosophie und Dichtung der hellenischen und kretischen Antike zu beschäftigen. Er bereist die Kykladen und Mykonos. Erste historisch aufgeladene, archaisch anmutende, unmittelbar anrührende Objekte entstehen. Er mietet ein Atelier in Rom an und eines in Gaeta auf dem Weg nach Neapel. Twombly hat die Orte gefunden, an denen für den Rest seines Lebens seine Zeichnungen, Gemälde, Plastiken und Fotografien entstehen. Das Glück dieser Fügung ist jedem einzelnen seiner Kunstwerke eingeschrieben. „Jede Linie ist die momentane Erfahrung mit ihrer unverwechselbaren Geschichte“, sagt Cy Twombly.

Abgesehen von einem Sommeraufenthalt auf Rhodos habe ich (Schande) Griechenland nie bereist. Es hat sich einfach nicht ergeben, auch wenn ich durchaus so etwas wie eine Griechenlandsehnsucht, eine Griechenlandfaszination in mir spüre. Da war es erstaunlich für mich (wie das Leben doch so spielt!), als vor inzwischen fast zehn Jahren meine beiden Töchter anfingen, zusammen mit ihrer Mutter im Sommer nach Griechenland zu reisen, und zwar stets, aus privaten Gründen, an denselben Ort, in die Nähe eines westgriechischen Hafenstädtchens am Golf von Korinth namens Nafpaktos. Von der dort mittlerweile gewohnheitsmäßig von Waldbränden heimgesuchten Küste erhalte ich im Juli und August Post, Fotos, Filmchen, Karten, Nachrichten. Ich versuche mir die Leute vorzustellen, die in Nafpaktos leben, die Luft, die Farben des Meers, die Laute, die Tiere, die Sternbilder. Es soll viele wilde Hunde und Katzen geben, und im Hinterland Schlangen. Wie ist die Geschwindigkeit, in der man miteinander umgeht? Alles Zusammenhänge, die auf Cy Twomblys Bildern und in seinen Plastiken sichtbar werden, ohne nach Bedeutsamkeit zu verlangen. Wie meine Töchter fuhr auch Twombly mit dem Wagen von Athen aus an den Golf. Entlang der Peleponnesküste besuchte er Epidaurus, Korinth, Mykene, Olympia und Sparta, immer wieder aber ließ er auch die Meerenge selbst auf sich wirken. Die Idee, die Seeschlacht von Lepanto zu malen, trug er jahrzehntelang mit sich herum, ehe er 2001, unter dem Eindruck der Ereignisse vom 11. September und ihrer Folgen, daranging, den Zyklus „Lepanto“ zu malen.
Zwischen Patras und Nafpaktos, dem alten Lepanto am westlichen Eingang zum Golf von Korinth, trafen am Morgen des 7. Oktober 1571 in Sichtweite der Küstenstädte die seit langem zusammengezogenen und auf ihrem Weg stetig größer gewordenen Flotten des Osmanischen Reichs und der christlichen Mittelmeermächte aufeinander. Rund 250 Galeeren und mehrere hundert kleinere Fusten und andere Segelschiffe auf Seiten der Türken, denen sich mehr als 200 schwere Galeeren und stark bewehrte Galeassen sowie dutzende weitere Segel- und Ruderschiffe der sogenannten Heiligen Liga entgegenstellten, einer Allianz vor allem aus Spaniern und Venezianern, der jedoch auch kleinere Mittelmeeranrainerstaaten angehörten, wie die Republik San Marco, die dem Vatikan unter Papst Pius V.
unterstand. 1571. An die 450 Jahre ist er her, dieser ruhige, lichte Herbstmorgen über den türkisblauen Weiten des Ionischen Meers.
Anlass der Seeschlacht von Lepanto, des letzten und zugleich blutigsten Galeerenseegefechts der Geschichte, war vordergründig die zwei Monate zuvor vollzogene Annexion Zyperns durch das Osmanische Reich. Neben Kreta war Zypern die einzige bedeutsame Insel im östlichen Mittelmeer, die noch zur einmal so einflussreichen Handelsmacht der venezianischen Dogen gehörte. Anderthalb Jahre lang hatten Venedig, Spanien, Genua und ihre Alliierten aus taktischem Kalkül heraus, aber auch einer verheerenden Typhus-Epidemie wegen tatenlos zugesehen, wie die Türken der Reihe nach und unter Anwendung von Folter und Gräueln die zypriotischen Städte Paphos, Limassol, Larnaka und schließlich Famagusta unter ihre Kontrolle brachten und mit Anatoliern zu besiedeln begannen. Erst Ende des Sommers 1571 waren Philipp II. von Spanien und der Doge Alvise Mocenigo soweit, eine ausreichend große und, wie sich zeigen sollte, gefechtstechnisch der türkischen zumindest ebenbürtige Flotte in See stechen zu lassen.
Religiöse Gründe spielten für die Entsendung der päpstlichen Seemacht jedoch eine mindestens ebenso wichtige Rolle. Wäre Zypern mehr als nur ein Vorwand gewesen, man hätte die Insel wohl kaum bloß zwei Jahre nach der Seeschlacht von Lepanto den Osmanen überlassen. Lepanto gilt bis heute als geschichtlicher Kipppunkt: Alles, was man hatte, wurde den Osmanen entgegengesetzt. Sollte demnach die Ausweitung des Islam ins westlichere Mittelmeer mit allen Mitteln unterbunden werden? Oder ging es doch eher um Eindämmung der osmanischen Handelsstärke? Was wäre passiert, hätten die Türken diese entscheidende Schlacht gewonnen? Die politische und religiöse Inquisition Philipps II., seine Spitzel, Folterknechte und Beamtenschergen hätten das Feld räumen müssen. Die Türken wären europäische Zentralmacht, vielleicht Weltmacht geworden.
Oberbefehlshaber der als der Liga weit überlegen geltenden Osmanenflotte war Admiral Ali Pascha, der im Ruf eines taktisch wenig erfahrenen Haudruffs stand. Am Hauptmast seines Flaggschiffs, der Galeere „Sultana“, war das „Banner des Kalifen“ befestigt, eines der bedeutendsten Symbole des Osmanischen Reichs, ein riesenhafter, gleich einem Drachen im Wind wehender, leuchtend grüner Wimpel, der mit Koranpassagen bestickt und in goldenen Lettern 28.000 Mal mit Allahs Namen verziert war. Auf Ali Paschas Kommando begab sich die „Sultana“ ins unmittelbare Kapergefecht mit dem Flaggschiff der Liga, der Prachtgaleere „La Real“, von deren Hauptdeck aus der junge Kommandant der Armada Don Juan de Austria seine Schiffe befehligte. Die „Königliche“ war 60 Meter lang, ein Ungetüm, das 290 Ruderer antrieben und auf der in der Seeschlacht von Lepanto an die 500 Soldaten kämpften. Der hölzerne, in Spaniens Nationalfarben Rot und Gelbgold lackierte Koloss wurde von zwei nur unerheblich kleineren Galeeren geschoben, um bei seiner Größe überhaupt in der Formation zu bleiben. Diesen das ganze Killergefährt doppelt stabilisierenden Zusatzantrieb nutzten Philipps II. findige Untertanen, um im Vorschiff den Platz der Rudersklaven einzusparen und stattdessen dort weitere Soldaten zu postieren.
Wie schnell klar wurde, waren die wendigen, nicht nur im Bug, auch längsseits und so mit weit mehr Kanonen bestückten spanisch-venezianischen Galeassen den behäbigen osmanischen Galeeren in jeder Form überlegen. Von Bord der Schiffe der Heiligen Liga feuerten die Soldaten mit Musketen und Arkebusen, Vorläufern späterer Gewehre, und brachten den Türken, die zum Großteil noch mit Pfeil und Bogen kämpften, in kürzester Zeit schwerste Verluste bei. Ganze Schiffe gingen binnen Minuten in Flammen auf und entzündeten wie aneinandergehaltene, schwimmende Fackeln die Nachbarschiffe, bis ganze Flottenreihen lichterloh brannten. Mit dem Hauptmast der „Sultana“ fing das „Banner des Kalifen“ Feuer und verbrannte. Ein Arkebusenschuss traf Ali Pascha in den Kopf und tötete ihn eine Stunde nach Gefechtsbeginn. Ein spanischer Matrose trennte der Leiche des Admirals den Kopf ab und pflanzte ihn auf einen Spieß, um ihn weit oben in der Takelung der „Real“ zu befestigen. Im Wasser trieben tausende Tote. Es war dunkelrot, orangerot, wenn ein brennendes Schiff durch den Teppich aus toten Türken, Spaniern, Armeniern, Genuesern, Kurden, Venezianern, Kretern, Ägyptern, Zyprioten, Maltesern und Griechen driftete. Den Kommandanten des Flaggschiffs der Republik von San Marco traf ein Brandpfeil ins Auge, als er einmal, der Hitze wegen, sein Helmvisier lüftete. Pferde schwammen zwischen den Toten, versanken. Schweine und Hühner kreiselnd auf der blutdurchströmten Dünung. Es gab keine einzige Frau auf dem ganzen brennenden Meer. Drei Stunden lang dauerte die Schlacht. In dieser Zeit kamen rund 30.000 Türken und 8.000 Spanier und Italiener um. Claude Simon, der französische Nobelpreisträger von 1985, von dem die eindringlichsten mir bekannten Darstellungen von Kriegswirren stammen, schildert in „Die Schlacht bei Pharsalos“ eine kriegerische Auseinandersetzung, die zugleich an Land, in der Luft und auf dem Wasser stattfindet. Zudem ist das dargestellte Chaos zeitenthoben, da antike, mittelalterliche und Kämpfe zu Beginn des Zweiten Weltkriegs ineinandergeblendet werden. Jagende Menschenmassen beschreibt Simon, „die sich in einer Art kosmischem Ganzen vermischen, ein Mahlstrom, in dem sich der metallische Sturzbach windet, hier und da von flüchtigen Reflexen funkelnd, Treibgut mit sich führend (und ein Reiter erschien, nicht wirklich reitend, sich einen Weg bahnend, sondern dahintreibend wie ein Korken an der Wasseroberfläche: einen Augenblick lang war er sichtbar, von den Wirbeln langsam über dem Durcheinander getragen, als ob alles, Mann, Rüstung, Pferd – wie eine Reiterstatue, wie ein Heiliger oder Gruppen, die in Prozessionen auf den Schultern getragen werden – auf der dunklen Flut schwömme, schwankend, hin- und hergeworfen, vorwärts-, zurückgezogen, dann wieder mitgerissen und schließlich versinkend …)“.
Ein einfacher Soldat, der vor Lepanto ein Beiboot verteidigte, wurde später weltberühmt, bekannter als Ali Pascha und Don Juan de Austria, ja berühmter als jeder Sultan, jeder Inquisitor, jeder Nobelpreisträger und jeder Papst. Er sollte später einer der bekanntesten Erzähler überhaupt werden. Damals aber, 24 Jahre jung, segelte er als ein vor Philipps Häschern geflohener, vermeintlicher Italiener an Bord der spanischen Galeere „Marquesa“: Miguel de Cervantes. Knapp drei Jahrzehnte, bevor sein „Don Quijote“ erschien, wurde Cervantes von zwei Kugeln in die Brust und einer in die linke Hand getroffen; seither lautete sein Spitzname „el manco de Lepanto“, Einarmiger von Lepanto. Mehrfach beschreibt Cervantes später, als Schöpfer des Ritters von der traurigen Gestalt, wie furchteinflößend die sichelförmige Aufstellung der osmanischen Flotte gewirkt habe. Über einen wie ihn heißt es in den „Exemplarischen Novellen“: „In der Seeschlacht von Lepanto wurde ihm die linke Hand von einer Musketenkugel unbrauchbar gemacht; diese Verstümmelung erachtet er trotz ihrer scheinbaren Hässlichkeit für schön, weil er sie davontrug aus der denkwürdigsten und erhabensten Begebenheit, die verflossene Jahrhunderte nie zu sehen bekamen und künftige nicht zu sehen erwarten dürfen.“

Diese epochale, über die Jahrhunderte hinweg andauernde Symbolik der mörderischsten Seeschlacht aller Zeiten erfüllt Cy Twomblys Gemäldezyklus „Lepanto“ von 2001 mit neuem Leben. Zwölf großformatige Bilder, in lichten, ja explosiven Gelb-, Rot-, Grün- und vor allem Blautönen zeigen dem Betrachter keinen einzigen Menschen, nichts Tierisches, Pflanzliches oder Gegenständliches, sind jedoch alles andere als abstrakt. Schon beim Betreten des halbrunden (sichelförmigen?) Saals im ersten, lichtdurchfluteten Stock des Münchener Museums Brandhorst war ich überwältigt von der Wucht, mit der mir die eigene Bestürzung angesichts einer derartigen Verheerung entgegenkam.
Dass dem Zyklus eine kreisförmige, die Zeit darstellende Gestalt innewohnt, macht zum einen die Anzahl der Gemälde deutlich: Jedes der zwölf Bilder steht für eine helle Stunde des verstreichenden 7. Oktober 1571, der ebenso jeder andere Tag hätte sein können. Zum anderen beginnt der Zyklus mit einem fast ausschließlich in Gelb- und Rottönen gemalten Bild und endet auch mit einem solchen: Nur auf dem ersten, vierten, achten und zwölften Gemälde verzichtete Twombly beinahe völlig auf die Verwendung von Blau- oder Grüntönen – hier herrscht Feuer vor. Und nur auf diesen vier voll und ganz wie in Flammen stehenden Bildern sind die Umrisse der Galeeren, Galeassen, Fusten und anderen Begleitschiffe und -boote von oben zu erkennen (wie aus durch die Zeit geflogenen Aufklärungsflugzeugen oder aus der Perspektive von Vögeln, die plötzlich, wie unter Schock stehend, malen können).
Die anderen acht Bilder zeigen die Schiffe in Seitenansicht, stark vereinfacht, fast kindlich, doch deutlich als Ruderschiffe erkennbar, die weiter weg oder im Vordergrund, einzeln oder in Flottillenformation, dahintreiben wie durch Luft oder Licht. Die meisten von ihnen in Flammen geschossen. Allesamt ihrer Segel beraubt. Wie verwundet. Wie blutend. Wie in Farben schreiend. Nackt und skelettiert. Flammenbälle stehen darüber. Von Galeeren ist nur Leere geblieben, das Leben, das Tempo, die Kraft, die Zukunft verwischt, versunken, verdampft. Einzelne Ruder (Ruderer?), einzelne Masten (Matrosen?) schwimmen rumpflos im Golf aus hellblauem Acryl. In noch nicht zur Gänze zerballerten Schiffen klaffen riesige Löcher, das Feuer frisst sich dort ins Innere, wo Menschen sind und schreien und ertrinken oder schreien und verbrennen. Es ist erschütternd, zu sehen, was sich in einem Gesicht vollzieht wie dem meiner Tochter, als ich ihr erzählte, dass all diese zerplatzten, kaputten Formen auf den zwölf Bildern, aus denen die Farbe herunterzufließen scheint (und ja wirklich heruntergeflossen ist!), Schiffe darstellen. Erschütternd ebenso, dass Cy Twombly schon Mitte der 1950er Jahre auf Gemälden, die sich mit der griechischen Geschichte beschäftigen, Schiffe malt, die in ihrer hingekritzelten Eindringlichkeit jenen der „Lepanto“-Bilder ähneln.
Twombly malte den Zyklus nicht zufällig 2001, dem Jahr der Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon. Im selben Jahr, in dem die Globalisierung erstmals auch für den Westen kriegerische Züge annahm, ziehen die Gemälde eine geschichtliche Parallele und stellen so auch eine poetisch-bildnerische Mahnung dar. Besonders deutlich wird dies anhand des ob seiner unfassbaren Furiosität zentralen sechsten Bildes. An dessen rechtem Rand lässt Cy Twombly rote, blaue, grüne, gelbe und schwarze Acrylfarbe in zwei unterschiedlich hohen Säulen so über die Leinwand hinunterrinnen, dass sich das Auge des Eindrucks nicht erwehren kann, eine ähnliche Gestalt wie das Äußere der in sich zusammengestürzten New Yorker Zwillings-Türme vor sich zu haben. Eine Galeere mit blutig roten Umrissen scheint dort im Anflug, wo eine andere bereits explodiert sein muss.
Licht und Stille, die Cy Twomblys Gemälde erzeugen, sind von derselben Intensität, wie man sie über dem Golf von Korinth noch heute erlebt. Meine Tochter Sonia, die 2001 zur Welt kam, hat sie auf acht Polaroids gebannt: die Stille und das Licht bei Nafpaktos.

 

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