zurück zur Startseite

Eine Nacht im Paradies

Ein Jugendtraum: Eingesperrt zu sein unter lauter Büchern, eine ganze Nacht lang. Alleingelassen mit all der Pracht, ungestörte Zweisamkeit mit Literatur in jeglicher Form, die Ruhe, die Zeit. Paradiesisch. Im Sommer des Jahres 2017 erfüllte ich mir diesen Traum. Von Ilija Trojanow

Nicht in einer Bibliothek, wo die Bücher schon zugerichtet sind, mit Nummern versehen wie Häftlinge, sondern in einer Buchhandlung, einer mittelgroßen, um aus dem Vollen schöpfen zu können, ohne sich zu verlaufen. Mit anderen Worten: In der Wagner’schen Buchhandlung in Innsbruck. Nach einer Nacht in dieser Wunderkammer wird einem bewusst, dass solche Buchhandlungen viel mehr als bloße Geschäfte sind. Es sind vielfältig fiebrige Kulturräume, unerlässliche Quellen für das, was wir Geist nennen und dessen Entwicklung. Solange der Mensch noch selbst denkt (manche haben diese Tätigkeit ja schon ausgelagert), wird er Buchhandlungen brauchen. Folglich benötigt jede Stadt gut sortierte intellektuelle Tankstellen.

Wer Stunden in einer Buchhandlung verbringt, gestärkt durch Wein, Aufstrich und einen disziplinlos verzehrten leckeren Kuchen, der wird getragen von einer Energie, zu finden, was dem eigenen Befinden guttun könnte. Wer oft Buchhandlungen aufsucht, wird zu einem Trüffelschwein, in der Lage, unter Tausenden von Drucksachen jene Geschichte und jene Sprache zu erschnüffeln, die das eigene Leben bereichern werden.

22:00 Uhr
Für weniger geübte, nicht traumwandlerisch zwischen den Regalen schwebende Leser und Leserinnen stehen am Eingang, neben der Kasse, zwei Stellwände mit „Blind Dates“, anonym eingepackten Büchern, die einen zu Hause überraschen sollen. Die graue Verpackung ziert eine handschriftlich verfasste Beschreibung.Die Bände seien sehr begehrt, berichtet der leitende Buchhändler, ein bärtiger Mann namens Robert Renk, ein Patriot des Buches, mit dem ich die erste Stunde verbringe, bevor er mich allein lässt. Er führt mich durch das Haus und beantwortet alle meine Fragen, eine davon etwa damit, „dass ein liegendes Buch sich besser verkauft als ein im Regal stehendes.“

23:00 Uhr
Ich beginne bei der „Erotik“. Trotz der gesellschaftlichen Liberalisierung des Sexuellen immer noch ein wenig versteckt in einer Ausbuchtung hinten links im Erdgeschoss. Zu meinem Erstaunen erwartet mich trotz der Schwemme an kostenfreien lustverstärkenden Bildern und Filmen im Internet ein ganzer Meter Erotik. Aber wie soll ein potentieller Kunde nun das richtige Buch für sich finden? Schließlich kann er schlecht zu der netten Ute gehen und verkünden: „Ich bin 51 und stehe auf dicke Fesseln und flotte Dreier.“

Die angebotene Produktion stammt fast ausschließlich von Autorinnen, die Titel bzw. Untertitel beinhalten stets „Versuchung“, „Verlangen“, „Verführung“, „verbotene Liebe“ oder „leidenschaftliches Versprechen“. Zur Erotik gehören folglich Bücher, die ohne ein „ver-“ im Titel nicht auskommen können. Ich schlage auf gut Glück den Roman „Dirty Secrets“ auf: „Das erste Mal war liebevoll und zärtlich und wunderschön gewesen, trotz der furchtbaren Umstände. Es war eine Flucht gewesen. Eine Befreiung.“ So erotikfrei geht es weiter. Ich nippe am Weinglas und sehne mich nach Josefine Mutzenbacher.

Vielleicht kann man von einem ehemaligen Pornostar mehr erwarten. Sasha Greys Roman trägt den überraschend intellektuellen Titel „Die Janus-Kammer“. Der erste Satz bringt mich fast um den Verstand: „Menschen, die in Hotels arbeiten, vermeiden es normalerweise, in Hotels zu übernachten, und folgen damit einem weitverbreiteten Trend innerhalb der Dienstleistungsbranche.“ Das ist nicht im klassischen Sinne erregend, aber immerhin informativ, wie das ganze erste Kapitel, in dem ich lerne, dass Prostituierte sich mit einem bestimmten Trick behelfen, wenn der hässliche Kerl, der auf ihnen liegt, partout nicht kommen will: „Sie rammt ihren Mittelfinger tief in seinen Arsch hinein. Und dreht ihn im Kreis.“ Aha. Leider steht aber vier Seiten weiter: „Warum nur sind harte Männerschwänze so unglaublich geschmeidig? Ist es möglich, dass die Reibung beim Masturbieren wie ein peeling wirkt?“ Solche Sätze würde ich eher lesen, um den Orgasmus zu verhindern.

24:00 Uhr
Die Romantik, die direkt an die Erotik anschließt, ist mit vier Metern erheblich Platz einnehmender. Die einzige Abteilung, in der ich keine der Autorinnen (wiederum fast nur Frauen) kenne. Auch nicht Carrie Price. „Zoe“ lautet ein Band aus der Reihe „New York Diaries“ – Erotik und Romantik kommt meist in Reihen daher und spielt in New York, dem Liebeszentrum der Welt. Ich stolpere über den Satz: „Nach meinem niedergeschlagenen Anruf, der dieser fatalen Audition gefolgt war …“ – schlechtes Deutsch wirkt auf mich unromantisch. Der Verlag verschweigt, welche Software dieses Buch (nicht) übersetzt hat. Ich beschränke mich des Weiteren darauf, lediglich die Titel zu lesen. „Jeder Kuss ein Volltreffer“, „Ich bin zu alt für diesen Scheiß“ (wie wahr!) und „Ein Cowboy küsst selten allein“ (um mit offenen Karten zu spielen: Ich habe auch noch nie allein geküsst). Postmoderne Ironie allenthalben. Doch dann: „Der Junge, der mit dem Herzen sah“ (es lebe der kleine Prinz) und „Das Geheimnis der Schneekirsche“ – es gibt sie also noch, die pathetisch sentimentalen Titel. Ich lese in zehn beliebige Bücher hinein, alle im Stil des süßsauren Tofu-Realismus geschrieben, so austauschbar, niemand könnte sie je voneinander unterscheiden. Nach einer knappen Stunde bilde ich mir ein, die romantischen Titel riechen schlechter.

00:50 Uhr
Ich wende mich etwas unbefriedigt den Verkaufstischen zu, die in blauen Farben Sommerlektüre versprechen, samt Muscheln, Korallen, Papageien, Fischen, Sand und einer vermeintlichen Sommerbrise. Robert Renk hatte mir das Prinzip einleuchtend erklärt: „Hier ziehen die populären Titel die weniger bekannten mit. So kann ich einem Geheimtipp Aufmerksamkeit verschaffen.“ Donna Leon ist also die Tempoläuferin für Christoph W. Bauer (es funktioniert wohl). Passend „Der Klang der Stille“ von Sergio Bambaren. Angeblich laut Klappentext ein Buch für Mutige, also greife ich in der Geisterstunde beherzt zu. Der erste Satz ist eine Ohrfeige (man sollte nie ein Buch kaufen, ohne den ersten Satz gelesen zu haben; dieser erzwingt zwar selten einen Kauf, spricht aber umso häufiger eine klare Warnung aus): „Jede Minute, die vergeht, ist eine Gelegenheit, alles zu verändern, jeder Augenblick eine Chance, alles zu verbessern.“ Wie sehr habe ich mein Leben verschwendet, was sind all die Menschen, die ich bewundere, doch für Luschen, da sie ein Leben lang mit gemischtem Erfolg versucht haben, etwas zu verändern, die Welt ein wenig zu verbessern. Hätten wir doch nur Bambaren gelesen. Der paradoxe Titel wird auf Seite 34 erklärt: „Vergiss nie, dass die Stille, die du nur hörst, schwer zu finden und noch schwerer zu verstehen ist.“ Ich höre im Klang der Wagner’schen Stille, wie auf einem Nebentisch Franz Schuh verächtlich schnaubt. Und Karl Kraus das Wortmesser wetzt.

Buchhandlungen sind unendlich tolerante Reiche. Hier tummeln sich Meuchelmörder der Sprache wie Herr Bambaren neben Rettern und Rittern des Wortes, wie auf dem Tisch gegenüber. Vier Bücher des Mund-zu-Mund-Beatmers der Literatur, Alois Hotschnig, die großartige Novelle „Der Argentinier“ von Klaus Merz, der Roman „Himmelfarb“ meines ehemaligen Verlegers Michael Krüger, die intelligenten und gebildeten Essays von Karl-Markus Gauß. Und der so tragisch früh verstorbene David Foster Wallace, übersetzt vom Feinwerktechniker Ulrich Blumenbach, mit einer Reportage namens „Der große rote Sohn“, die zu den AVN Awards (den Oscars der Pornoindustrie) nach Las Vegas führt und sich hervorragend mit der ungewollten Parodie von Sasha Grey ergänzt. Etwas farbenübersättigt greife ich zu einem gänzlich schwarzen Band, darauf in weißen Lettern FUTUR II. Vielversprechender geht es gar nicht, zumal das Buch vom Verbrecher Verlag stammt. Zufällig schlage ich Seite 74 auf: eine Aufzählung der Konzerte der Musikgruppe Ja, Panik über zehn Seiten hinweg. Eine neue literarische Form, der archivarische Hardcore-Numerismus. Zitat: „17.05.2010 DE. Dingolfing, Red Box Festival“. Reinster Irrsinn, nur fürchte ich, dass er ernst gemeint ist, und die Gruppe in jenem Mai tatsächlich in Dingolfing aufgetreten ist. Manchmal kommentieren sich die Publikationen: Direkt daneben liegt die neuste Ausgabe der Kulturzeitschrift Wespennest aus, zum Thema „be-fremden“.

01:30 Uhr
Die breiten Regale mit den Krimis empfinde ich als wenig einladend, weil die Umschläge schon von Weitem eine breite, uniforme rot-schwarze Front aufweisen. Offensichtlich haben die Verlage den ultimativen visuellen Köder gefunden (schwarz für Drama, rot für Blut), die Kunden beißen zuverlässig an, gerade weil es wenig subtil ist und daher nur noch reproduziert werden muss.

Andere Tische hingegen beschwören reihenweise persönliche Erinnerungen herauf: Michail Schischkin (ein gemeinsamer Drink in einem Zelt auf der Buchmesse), David Albahari (traurige Gespräche spätabends beim ersten Münchner Literaturfest), Michael Köhlmeier (vor Kurzem eine absurde Zusammenkunft mit dem Noch-Kanzler Kern, der uns „Intellektuelle“ mit einer klaren Positionierung gegen rechts übertrumpfte, die er schon am nächsten Morgen beim Kuschelgespräch mit Strache vergessen hatte), Meja Mwangi (mein erstes Tusker-Bier als Jugendlicher in Kenia, als wir aufgeregt auf einen Auftritt von Mwangi warteten, der aber nie erschien), Yu Hua (gemeinsam die Pekingente verspeist, während wir über Auflagen redeten, seine stets um eine Null höher als meine), Katja Lange-Müller (die mir neulich wie ein Rohrspatz schimpfend im Gang eines Zuges entgegenlief), T. C. Boyle (der mir erzählte, auch er höre beim Schreiben vor allem Opern, am liebsten Barockopern), Aslı Erdogan (vor deren Gefängnis in Istanbul wir noch im November protestierten, die inzwischen freigelassen worden ist). Mir wird bewusst, wie viele Erlebnisse meines Lebens sich um Bücher und Autoren ranken, wie viele der anwesenden Kolleginnen und Kollegen ich kenne, ob persönlich oder als Leser. Es stellt sich ein rührendes Gefühl ein, als wären wir eine Familie, mit vielen Freundschaften, aber auch dem einen oder anderen schwarzen Schaf (schon fällt mein Blick auf Christian Kracht). Denn ich stehe vor der breitesten aller Regalwände, der Literatur.

02:38 Uhr
Auf einmal überkommt mich ein merkwürdiger Drang aufzuräumen. Ich ordne herumliegende Exemplare ins Regal, sorge für alphabetische Ordnung, von Hector Abad bis Wu Ming. Das bereitet mir großen Spaß, danach schmerzt mir der Rücken. Es ist alles vertreten, sogar eine handsignierte Gesamtausgabe des leider noch nicht kanonisierten Edgar Hilsenrath. Natürlich mit erkennbaren idiosynkratischen Vorlieben, an denen sich die Handschrift jedes Buchhändlers zeigt: wenig von Grass, viel von Kästner; Steinfest (eine feste Burg der Phantasie) neben Stichmann (mehr Talent als Können). Viele kleine österreichische Verlage sind vertreten, das Regionale steht Schulter an Schulter neben dem Weltläufigen. Jede Menge Charmantes, Versponnenes, Bücher, die man nie von sich aus suchen würde, über die man stolpern muss, wie über Kieselsteine von ungewöhnlicher Form und Farbe. An der „Infostelle“ überrascht eine aufwendig gestaltete Monografiereihe über berühmte Autoren, etwa über den sehr geschätzten Gottfried Benn aus der Feder eines gewissen Jörg Magenau. Vielleicht liegt es an der fortgeschrittenen Nachtruhe, dass ich angesichts halbgarer Teflon-Erkenntnisse à la „Mag sein, dass man als Pathologe eine andere Beziehung zum Tod unterhält“ das Buch gleich wieder zuschlage. Mag sein, dass man als Buchhändler eine andere Beziehung zum Lesen und als Autor zur Sprache hat. Mag sein, wer weiß das schon so genau …

03:44 Uhr
Zeit nun für den wirklich großen Elefanten in der Buchhandlung. Er heißt George R. R. Martin und nimmt alleine mehr Platz ein als die Erotik und halb so viel wie die Klassik! Tolkien hält sich wacker, zu meiner Begeisterung ist Lovecraft auch noch gut im Rennen, aber alle anderen sind mir unbekannt (Harry Potter ausgenommen). Erstaunlich, wie wenig man sich auskennt in gewissen Genres. Das Genre trägt übrigens den Namen Fantasy. Science-Fiction hingegen fehlt völlig, zur ausgleichenden Gerechtigkeit liegt die schon legendäre Southern-Reach-Trilogie von Jeff VanderMeer auf einem der Tische aus.

04:22 Uhr
Erschöpft wende ich mich den Kalendern zu. Ich habe schon mehr Bücher in der Hand gehabt, als ich in meinem restlichen Leben werde lesen können. Diese Erkenntnis stößt mich in ein schwarzes Loch, obwohl ich zu Hause die Anwesenheit der vielen ungelesenen Bücher eher als Verheißung begreife, als Beglückung empfinde. Island und Irland scheinen besonders viele Tiroler Wände zu schmücken. Auch New York, Neuseeland und der Haderer. Welche Erkenntnisse kann man hieraus über die Einheimischen ziehen?

04:26 Uhr
Ich habe das Erdgeschoß nun einmal umrundet (an den vielen Reiseführern bin ich vorbeigegangen wie ein Vegetarier an einem Metzgerladen; wer mit Reiseführern aufbricht, hindert sich selbst am Reisen). Gegenüber der Kasse – wie in jeder Buchhandlung – die Bestseller. Mal sehen, wie gut Sie sich, liebe Leserin, lieber Leser, in der Buchbranche auskennen: Die Bestseller hier stammen von Schuh, Jergovic´, Muschg, Bärfuss und einigen anderen. Fällt Ihnen etwas auf? Ja, wenn der Wunsch Vater des Verkaufs wäre, dann würde die Bestsellerliste in etwa so aussehen. Im real existierenden Kapitalismus aber nicht, nie und nimmer!

04:37 Uhr
Hinter der Kasse in einem engen Kabuff warten die bestellten Bücher auf Abholung. Wonach gelüstet es die Innsbrucker? Nach Stanisław Lems Meisterwerk „The Big Book of Breasts“ – nein, Verzeihung, das ist der Unschärfe meines müden Blicks geschuldet, Lem steht nur unmittelbar neben einem Brustkompendium.
Jemand fliegt nach Taiwan, nach Albanien oder Madagaskar, jemand will ernsthaft ins Power Training einsteigen. Jemand muss noch Mathematik lernen, jemand will alles über den Kräutergarten von Paracelsus erfahren. Es ist faszinierend: Obwohl die Wagner’sche so unendlich viel bietet, ist doch nicht für jeden alles dabei. Die Vielfalt unserer Interessen und Begierden ist eine tröstliche Vorstellung.

05:02 Uhr
Auf in den ersten Stock. Hier finden sich mehr Bücher, die die Umwelt begrünen als die Welt verbessern wollen. Vielleicht weil viele glauben, mit dem Ersteren sei es schon getan?! Es geht meterweit um Kochen, Esoterik und Gesundheit, aber nur schmalregalig um Politik. Auffällig ist die Dominanz der individuellen Glücksversprechen. Das Glück des Einzelnen steht öfter im Fokus als das Glück der Gesellschaft. Obwohl Studien wiederholt erwiesen haben, dass das Glücksempfinden der Bürger in gerechteren Gesellschaften erheblich höher ist. Anders gesagt: Soziale Ungerechtigkeit macht die ganze Gesellschaft unglücklich. Der beste Weg, das eigene Wohlbefinden zu steigern, wäre, das Leben aller zu verbessern. Das widerspricht aber dem Zeitgeist, und dieser äußert sich, nicht nur in diesem Punkt, immer wieder – wie sollte es auch anders sein –
in der Auswahl der Bücher. Buchhandlungen sind Seismografen der Gegenwart. Sie können unmodische Angebote unterbreiten (viel Lyrik und experimentelle Literatur), aber sie müssen auch die Wünsche der Kunden respektieren. So könnte man nach einer Nacht in der Wagner’schen den Reichtum menschlicher Kreativität ebenso feiern wie die dekadente Dummheit unserer Zeit beklagen.

06:06 Uhr
Beim Einschlafen zähle ich anstatt Schafen Bücher, mein Blick vom Vorüberziehen der Bücherrücken so müde, dass er nichts mehr hält.

 

im Heft weiterblättern


Email

registrieren

Ihre Email-Adresse wurde bei uns registriert und zur Liste der Newsletter-Abonnenten hinzugefügt.
Sie erhalten in Kürze ein Bestätigung per Email.