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Ich habe mit Einer zu Mittag gegessen.

Verabredet waren wir nicht. Ich saß mit Freunden bei Marco’s Treff in Sölden, einer der wenigen Bars, wo es im Sommer auch zu Mittag eine Kleinigkeit zu essen gibt, als Einer auftauchte und sich zu uns setzte. Von Christian Seiler

Er bestellte eine Pizza und ein kleines Bier, und er war bester Laune. Am Vormittag war er von Vent nach Sölden gekommen, ich missverstand ihn zuerst und dachte, er sei den ganzen Weg gewandert, aber er hatte das Postauto genommen, und ich missverstand ihn ein zweites Mal, als er mir erzählte, warum er gekommen sei. Wegen den Madln, sagte er, das verstand ich, aber er sagte noch etwas, was ich nicht verstand, weil die Mischung aus Ötztaler Dialekt und von Defiziten im Gebiss beförderter, undeutlicher Aussprache zu komplex für mich war.
Meine einheimischen Freunde verstanden ihn aber schon. Wegen den Madln, sagte Einer, die er hier laufen habe, und die Freunde zuckten nachsichtig mit den Schultern. Er könnte genauso gut erzählen, wegen den Raketen, die er heute Nachmittag auf den Mond schießen will.

„Jetzt kommen sie und holen Jakob“. Das ist der Satz, der am Anfang der großen Karriere des Schriftstellers Norbert Gstrein stand, die Eröffnung seiner Erzählung „Einer“, die als Band 1483 der Edition Suhrkamp im Herbst 1988 erschien und vom großen Jorge Semprun als herausragende Erforschung der „Wunder und (…) Geheimnisse des Alltags“ gelobt wurde, wie sie am Schauplatz der Erzählung, der nur notdürftig als Fend codierten Heimatgemeinde Gstreins, geschehen sind, geschehen und geschehen werden.
So beginnt die Erzählung: „Jetzt kommen sie und holen Jakob. Plötzlich hat das Knattern aufgehört, das schon den ganzen Vormittag dem Dorf im Ohr gelegen ist, von einem Hang über die Dächer zurückgeworfen auf den anderen, und die Burschen, drei sind es, stehen wartend am Straßenrand, in den behandschuhten Fäusten rotglänzend die Helme, haben ohne Eile ihre Motorräder abgestellt, auf denen sie gerade noch hin und her gefahren sind, in unermüdlichen Kreisen durch knietiefen Schnee, der von den Hinterrädern meterhoch aufgewirbelt wurde, und immer wieder dieselbe Treppe, fünf Stufen hinauf und auf der anderen Seite den Absatz in einem Sprung herunter, dass die Federn mit einem quietschenden Geräusch tief einknickten. Als gleich darauf der Bus abfährt, schaukelnd in den unregelmäßigen Rinnen gefrorenen Schnees, die jedes Jahr um diese Zeit im Schatten der Häuser entstehen, als er vor dem Hotel Fend noch ein Paket aufnimmt, vielleicht dann, oder doch erst, als er die Kirche schon hinter sich gelassen hat und auf der taunassen Straße talauswärts gleitet, blau-glänzend in der Sonne, hat der Fender auf die Wanduhr geblickt: und es ist fünf nach elf gewesen.“

Vent ist ein charaktervoller Ort, das heißt: Der Tourismus hat hier nicht alles niedergewalzt. Zwar gab es allerhand Projekte, die Vent in der Nahrungskette des Fremdenverkehrs weiter nach oben gerückt hätten. Das spektakulärste war die größenwahnsinnige Planung einer Straße über die Rofenhöfe Richtung Hochjoch, von wo aus mit einer Seilbahn das Skigebiet Schnalstal in Südtirol erschlossen werden sollte. Das wussten die richtigen Menschen zu verhindern, sodass Vent das Schicksal erspart blieb, zu einer touristischen Autobahnstation zu werden. Die Grundstruktur des Ortes am Ende des Tals blieb weitgehend unverändert, auch wenn sich, wie überall in den österreichischen Alpen, die Verlockungen des Tourismus durch Wachstum bemerkbar machten, neue Häuser, neue Hotels, neue Frühstückspensionen, freilich anders als in den Ötztaler Skihochburgen Sölden und Obergurgl: kleiner, familiärer, überschaubarer. Immerhin ist Vent ein Dorf geblieben.
Das Fend, in dem Norbert Gstrein seine Erzählung ansiedelt, ist so klein wie Vent und so touristisch wie Vent, jedenfalls so touristisch, wie es ein junger Mann wie Norbert Gstrein empfindet, der zwischen Skischule und Hotel aufwächst.
Jetzt kommen sie und holen Jakob. Sie holen ihn in den langen, musikalischen Sätzen Norbert Gstreins, in Sätzen, die in Rückblenden das Bild von Jakob zeichnen, das Bild eines begabten Kinds, das aus dem Tal hinaus aufs Internat geschickt wird, zum Außenseiter wird, Misshandlungen erlebt und zurück zu Hause an diesem Zuhause zerbricht.
Jakob leidet am Ort und an der Familie. Er leidet daran, wie der Ort und die Familie ihren Gästen alles andere unterordnen. Manchmal verliebt er sich in die Töchter von Gästen und trauert, wenn sie nach zwei Wochen wieder verschwinden. Wenn seine Kammer unter dem Dach für Gäste gebraucht wird, muss er in der Stube schlafen. Dann schreit er. Sein Aussehen ist ihm egal. Er fällt auf. Er verdingt sich als Skilehrer. Er weiß, dass über ihn gelacht wird. Er hasst es, wenn über ihn gelacht wird. Er säuft. Er geht von Wirtshaus zu Wirtshaus. Er verliert die Stelle als Skilehrer. Schließlich gibt ihm nur noch die Mutter ein paar Schilling, damit er irgendwo sein Glas Wein trinken kann. Längst schreibt keiner der Wirte mehr seine Getränke an. Er muss Geld auf den Tisch legen, bevor ihm ein Glas eingeschenkt wird.
Aber er ändert seine Gewohnheiten nicht. „Manchmal sprach er mit Hanna, sah sie über einen Tisch lange an oder begann plötzlich, wenn sie weit die Straße hinaus spaziert waren, das sei kein Leben, und es kam vor, dass er auf einmal weinte, grundlos, wie man sagt. In den Gasthäusern merkte man nichts. Er erzählte die gleichen Geschichten mit den gleichen Dummheiten, und wenn er einen ganzen Abend irgendwo schweigend stand, nannte man ihn besoffen, nicht unglücklich, oder sah an ihm vorbei.“

Ich las „Einer“ zum ersten Mal 1988, als das Buch erschien. Die Erzählung berührte mich. Ich empfand Mitleid für diesen tragischen Jakob, und ich entwickelte eine abstrakte Vorstellung des Ortes Fend, weil ich noch keine Ahnung hatte, dass es Vent wirklich gibt, wo es liegt und wie ein Leben dort verlaufen kann. Mich erschütterte, wie lakonisch Gstrein die Tragik des Einzelnen mit der berechnenden Gleichgültigkeit der Übrigen verschränkt: „Im Dorf sahen sie Jakob als etwas, mit dem man sich abfand, und im besten Fall könnte man versuchen, einen kleinen Vorteil herauszuschlagen. Solange es dem Geschäft nicht schadete, war alles erlaubt, aber sie hatten einen überscharfen Blick, der sie bei einem Verdacht gleich das Ärgste fürchten ließ; dass die Gäste davonliefen oder gewiss nie wiederkämen. Sie wussten Jakob mit Gespür auf den rechten Platz zu rücken, brauchten nur ein wohlwollendes Lachen zu sehen, um aufmunternd die Hand auf seine Schulter zu legen: erzähl doch einen Witz; und eine Flasche Wein wäre ihm sicher. Aber immer öfter zogen sie ihn stillschweigend zurück, weil er plötzlich zu schreien begann: Piefke; manchmal das einzige Wort, oder sein Anblick war einfach nicht zu ertragen, und die Damen wandten sich angeekelt ab.“
Mir imponierte Norbert Gstreins Radikalität, seine offensichtliche Bereitschaft, die Brücken zu seinem Heimatort niederzubrennen. Ich bewunderte seine melodische, an Thomas Bernhard geschulte Sprache. Ein paar Jahre später lernte ich ihn kennen und konnte erst wirklich ermessen, welche Anstrengung notwendig gewesen musste, in einer Welt, in der Sport, Gäste und Investitionen den Ton angeben, einem intellektuellen Leben nachzugehen.
In den Preisreden, die bald darauf auf Norbert Gstrein
gehalten wurden, kamen diese Motive wiederholt zur Sprache. Als er zum Beispiel den Franz-Nabl-Preis erhielt, wurde attestiert, dass „… die provinzielle Sozialstruktur der Tiroler Fremdenverkehrsgemeinde (…) für die Bewohner keine Beheimatung [bietet], sondern (…) sie in innerer und äußerer Vereinsamung einen Passionsweg beschreiten [lässt], an dessen Ende die Auslöschung der sozialen Identität und die Verwahrung stehen.“
Gstrein wurde mit so verschiedenen Autoren wie Franz Innerhofer, Uwe Johnson und Peter Handke verglichen. Sein Aufstieg vom jungen Nachwuchsautor zur fixen Größe des deutschsprachigen Literaturbetriebs vollzog sich in erstaunlichem Tempo. Gstrein verließ zuerst Vent, dann Tirol, wo er regelmäßig nach seinem Bruder Benni gefragt wurde, der ein erfolgreicher Skirennfahrer war. Er siedelte sich an wechselnden Orten in Österreich, Deutschland und der Schweiz an. Bis heute besucht er Vent mit einer gewissen Regelmäßigkeit, hegt aber keine Ambition, wieder dauerhaft ins Bergsteigerdorf zurückzukehren. Die innerliche Distanz zwischen dem, der gegangen ist und denen, die geblieben sind, ist zu groß, auch wenn Norbert Gstrein inzwischen als großer, wenn auch schwer zu verstehender Sohn des Ortes gilt. Der Längenfelder Bildhauer Gerbert Ennemoser widmete der mit ihrem Schöpfer bekannt gewordenen literarischen Figur „Einer“ eine monumentale Skulptur. Im Wikipedia-Artikel zu Vent ist Norbert Gstrein zwar noch nicht als Vent-Celebrity verzeichnet, dafür gibt es jede Menge literaturwissenschaftlicher Sekundärliteratur, die das Verhältnis von Autor und Herkunft beleuchten. Gstrein selbst äußert sich dazu nicht mehr.

Ich lernte Vent erst kennen, als mich ein Freund, der in seiner Jugend hier als Skilehrer gearbeitet hatte, einlud, mir das Dorf einmal anzuschauen. Das erste Haus, das er mir zeigte, war das alte Widum, gleich beim Dorfeingang. Dort war er als Skilehrer untergebracht gewesen und manchmal, wenn es abends in der „Milchbar“ spät geworden war, dem Pfarrer in die Arme gelaufen, der gerade zur Frühmesse hinüber zur Kirche gehen wollte. Der Pfarrer verzieh diese offensichtliche Sünde, allerdings nur unter der Bedingung, dass mein Freund mit in die Frühmesse kam und in der ersten Reihe bis zur Wandlung durchhielt.
Er erzählte mir, während wir durch den Ort spazierten, noch viel mehr. Wenn es geschneit hatte, mussten seine Kollegen und er oft mitten in der Nacht ausrücken, um die Straße frei zu machen: Die Landesstraße von Zwieselstein nach Vent war damals noch nicht mit zahlreichen Galerien überbaut, die gegen Schnee und Steinschlag schützen. Einmal, erzählte er mir, sei es dabei zu einem fürchterlichen Unfall gekommen, als ein Einheimischer in die Schneefräse kam und von ihr zerstückelt wurde.
Später schauten wir uns das Hotel Vent an, das nicht mehr ganz so elegant im hinteren Dorfteil von Vent steht wie auf den Fotos aus den dreißiger Jahren. Ein paar Zubauten haben der Ästhetik ein bisschen zugesetzt, aber verglichen mit den muskelbepackten Almarchitekturen sieht es noch immer ein bisschen extraterrestrisch aus. Wir nahmen an der dortigen Bar namens „Scharfes Eck“ ein, zwei Getränke, und erst später, als ich im Bett über den Tag nachdachte, kam mir vor, als hätte ich die Geschichte mit der Schneefräse schon einmal gehört. Mich beschäftigte die Frage, wie eine „urban legend“ heißen muss, wenn sie auf dem Land passiert, dann schlief ich ein, ohne die Frage gelöst zu haben.

Aber ich kam auf die Geschichte zurück.
Als ich meinen Freund bei Gelegenheit fragte, ob er sicher sei, dass seine Story nicht nur eine Story sei, reagierte er brüsk. „Und ob“, sagte er, ohne in weitere Details zu gehen.
„Aber ich kenne die Geschichte von irgendwo“, sagte ich.
„Das wundert mich nicht“, sagte er. „Norbert Gstrein hat sie in ,Einer‘ erzählt.“
„Ach so“, sagte ich, ohne mich konkret zu erinnern. Später las ich die Stelle dann nach, die gekonnt Poesie und Splatterliteratur kombiniert: „Mutter zuckt unmerklich zusammen, und wir wissen, dass sie sich erinnert, erinnern uns selbst an den Unfall im letzten Winter, als einer beim Schöpfen ausgerutscht und augenblicklich von der rotierenden Trommel zerfleischt worden ist. An den Schneewänden konnte man noch Tage später das Blut sehen, und vor wenigen Wochen, am Jahrestag, hat der Pater ein Wegkreuz anbringen lassen, in Gedenken an einen, der an dieser Stelle ums Leben kam; bis heute weiß niemand, ob aus Unachtsamkeit oder weil er betrunken war.“
Dass Chronik und Erzählung zusammenhängen könnten, brachte mich auf eine neue Spur.
„Es wäre ja witzig“, sagte ich zu meinem Freund, „wenn es auch den Jakob aus ,Einer‘ tatsächlich gäbe. Sozusagen den echten Einer.“
Mein Freund schaute mich groß an und legte die Stirn in Falten, als hätte ich irgendetwas Entscheidendes verpasst.
Dann sagte er: „Natürlich gibt es den echten Einer.“
Er erzählte mir dann die ganze Geschichte. Sie unterscheidet sich von der literarischen Geschichte nur in Details. Ein Detail ist freilich entscheidend: Die Geschichte hört nicht 1988 auf. Während der Jakob aus „Einer“ seine Erlösung im offenen Ende der Erzählung von 1988 findet, hat sich der Einer aus Vent sein Leben am Rand der Ortsgemeinschaft eingerichtet. Er sieht aus, wie ihn Norbert Gstrein beschreibt, nur älter, und er hat auch seine Gewohnheiten nicht abgelegt. Er ist in Vent geblieben und hat sich, so viel ist bekannt, seine Welt, in der er denkt und zu Hause ist, ganz allein eingerichtet, manchmal schweigsam und mürrisch, manchmal zur Unterhaltung des ganzen Dorfes.
Das klingt ein bisschen depressiv, aber zu Unrecht. Denn Einers Welt, wie sie die anderen sehen, stimmt nicht unbedingt mit der Welt überein, die er tatsächlich bewohnt. Die Unschärfen fallen jedenfalls nicht zum Nachteil von Einer aus. Beim Vergleichen sind Vor- und Nachteile bekanntlich eine Frage der Perspektive.
Als sich Einer in Marco’s Treff an unseren Tisch setzt, stellt ihn mir mein Freund als den Helden des Norbert-Gstrein-Buchs vor.
Einer bekräftigt das. Aber er setzt die Betonungen anders. Einer sei sein Buch, und er habe Norbert Gstrein damit berühmt gemacht. Er lacht zufrieden. Sein Buch. Er war’s. Lacht. Schiebt ein Stück Pizza nach und spült es mit Bier hinunter, dann möchte er noch etwas über Vent sagen, wohin er demnächst mit seinem Bus, dem Postbus, aufbrechen werde.
Der Chef von Vent sei nämlich er. Schon klar, dass sie droben in Vent etwas anderes erzählen. Sollen sie erzählen. Erzählen kann jeder. Aber über wen wird erzählt? Über wen?
Das müssen wir endlich verstehen.
Sonst gibt es nichts zu verstehen.
Aber das müssen wir verstehen.

 

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