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Fließtext*
Von Esther Kinsky

Nachts über den höfen die flachen rufe der vögel im zug – schwärme zwischen wild- und zahmflug, randsiedler mit flüchtigen botschaften an amseln finken krähen – dieser laut, der immer erinnert, immer ein weißnichtwas, immer ein zerren an diesem und jenem im vielleicht-herz über die jahre, ein grübeln nach diesem ersten hören dem wieder- und wider-erinnerten, das sich nicht mehr auffinden lässt, begraben unter, verwachsen mit den jahresdecken beginnender frühlinge halbfrühlinge und ihrem lauschen auf diesen laut, der wachhält bis in den morgen grauend zum halbfrühlingstag berlinsüdost – das unentschlossene licht, das mal hierhin kippt – niesel – mal dahin – brise – am straßenrand sammelt sich unterdessen der abfall unentschlossener nächte, abgelegtes, abgestreiftes, womöglich voll von sauer gewordenen tränen deren salziger rückstand jetzt hier in winzigen schuppen die gossenkante des gehsteigs beflockt – nachlass der unstetigkeit der welt angebotenes willnichtmehr aus händen gegeben, die sich jetzt der gegend entzogen haben – stolpergut für spätheimkehrer und fundgrube für witterungsaufnahmen der hunde, die sich als streuner geben, während ihnen halbschlaftrunkene ausführer hinterher- oder vorausfluchen, doch keinem pfiff mehr wollen sie folgen, die trübäugigen hunde, nur den düften nachschnüffeln, die unbekannt hinterlassen hat, unterdessen die krähen, krähen in allen bäumen, wie üblich willige zeugen jeglicher hinterlassenschaft und in gewisser entfernung die vom krähenrevier verbannten tauben auf dachrändern, in rinnen gekrallt nach fluglücken spähend um in gossen hinabzustoßen, ihr dumpfes gurren fällt flach unter den krähenrufen und später werden sich elstern zeigen.
Der chinese am jenseitsende des hinterhofs lehnt sich schon hemdlos aus dem fenster in den märztag, zweiter stock, der himmel spiegelt sich wie schmutzige watte in der scheibe, der chinese raucht und hält sein telefon wie einen kompass in den morgen hinaus, weder der amseln achtend noch der buchfinken unter seinem fenster, was wird er bringen der tag, was wird er nehmen, was soll ihm prophet sein, während sich kohlmeisen in der hecke unerschrocken stellen und das kind des chinesen in der tiefe des raumes am anderen ende des hinterhofs jenseits der meisenbesiedelten hecke schreit.
Ein zufallsblick im blassen tageslicht auf john constable wolken in digitaler schraffur über verdunkeltem land, alles textur, unerwartete enthüllung der unzähligkeit der schichten, farbaufträge wie erinnerungen am immer wieder aufgesuchten ort in der vergangenheit, so muss man sich die erinnerung vorstellen: wie diese grenze von wolken himmel land auf einem gemälde von john constable – alles lebt vom himmel auf den bildern, da ist die schwerkraft, die die erde hält und jedes ding und jeder schatten ist dem himmel untertan.
Später ein weißes gleichmäßiges gewölk über hof und straße, helle bleiche eckstücke zwischen den dächern, ein weiß, das sich verdichtend in die höhe bewegt und den regen zurückgezogen hat, bis fast hochnebellicht herrscht und sich über die leiernde stimme der frau im hocksitz breitet, an der straßenecke hat sie ihren platz, das ist der ort ihres tagwerks und sie hat das bettellied immer schon auf den lippen, als lose zugabe ist es ihr da gewachsen und sie wird es nicht los – jetzt sitzt sie am boden, als wär es nicht halber winter, und hält einen becher hin, schütteres scheppern von kupfer, hier bettelfrau, geb ich dir was für dein kurzes lied vom jammertal zwischen zwei groschen – not ist das gebot unter den wachsamen drosseln, die im lindenbaum wippen, gefährten von dazumal.
Am nachmittag weiß das licht nicht wohin mit sich, soll es zum dunklen, soll es zum hellen, im langsamen vorbeiradeln sehe ich auf einer baumscheibe gneisenaustraße ein totes eichhörnchen auf einer baumscheibe liegen zwischen dem ersten sprießenden krautgrün, ein rotes eichhörnchen – ein eichkatzerl, ein eichkatzerl! riefen vor jahren mal kinder an einem fenster mit blick auf den park in wien und die frage stellte sich mir fremder, was daran katzerlhaft war – solch ein eichkatzerlhörnchen liegt hier nun entlebt, flach wie ein bild auf der dunklen baumscheibenerde, der buschige schweif schon stumpf und die seite von einem großen grauen fleck gezeichnet, ein unförmiges mal dieses grau, ist es räude ist es ansteckung am grau der überhandnehmenden eindringlinge, der einmarschierten revierübernehmer, die mit ratten im bund sein sollen, den stets übelgesprochenen ratten?
Spät erscheint die sonne zwischen wolken, hinter wolken, die s-bahn seufzt und stöhnt zur abfahrt um den friedhof, der kleiber pfeift unterdessen in den kahlen kastanien und der trauerschnäpper kirrt fragend und kann nicht aufhören, denn es kommt keine antwort, ein pastor trägt die letzte urne dieses tages zum seufzklang der s-bahn und zu tschirrendem buchfinkenruf, ihm folgt eine kindsgroße frau im frommen tuch und hinter ihr zwei barnabashafte gesellen im gleichschritt und gleichgrober tracht, als hätte die kleine trauernde sie aus einer anderen geschichte gepflückt und sie zu ihren spätnachmittäglichen trauergehilfen ernannt, womöglich gegen ein entgelt, berliner klageburschen, die sich schwertun mit dem gemessenen schritt.
Auf den umschnüffelten und vom tag besudelten hinterlassenschaften lässt sich zum abend, kühl, früher dämmer in berlin südost, ein fremder nieder, nem szólt senki, sagt er immer immer wieder, nem szólt senki, wie groß ist seine fremde, wie schwer dieses nichtssagen von niemand, fremder, ember, ungarisch: mensch, embers, englisch: erlöschende glut.

— * Text, der in einem Stück und ohne Unterbrechungen durch Absätze, Überschriften, Abbildungen, Fußnoten u. Ä. gesetzt wird.
— Aufforderung, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen und dabei nicht zurückzuschauen; freihändig draufloszulegen, ohne zu korrigieren; die Buchstaben zu Papier zu bringen und bedenkenlos aus der Hand zu geben.

 

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