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Marginaltexte (4): Wortkammer

Mit dem Wort Marginalie wird gewöhnlich Nebensächliches bezeichnet, etwas am Rande oder an der Grenze einer Sache Liegendes. In Quart werden unter diesem Titel zentrale Texte über das Leben an der Peripherie neu veröffentlicht, die längst vergriffen oder nur schwer zugänglich sind, an entlegenen Orten aufbewahrt oder gar in Archiven verschwunden. Folge 4: Kindheitserinnerungen des in Gries am Brenner aufgewachsenen und 1975 mit 25 Jahren an einer Herzkrankheit verstorbenen Paul Fröhlich.

Almabtrieb, Autobahn, Fichtennadeln, Senkgrube, Karfiol, Abschürfungen, gebrochene Finger, violett angeschwollen. Regenglitsch, Bachstaub. Zwiebel- und Schnittlauchgeruch an den Händen der Mutter. Zerklüftete Hände. Im Winter kamen die Jäger vorbei, zogen Taschenmesser und tranken Branntwein. In der Nacht träumte ich von blutigen Hasenpfoten, von Rucksäcken mit Hirschknopfaugen. Wir stellten Limonadeflaschen ins Bachwasser; ertränkten Ameisen mit Spucke; klebriger Tod. Das verlassene Bahnhaus: dämmrig, kühl. Die Mädchen legten sich zum Schmusen auf den schweren Tisch, waren zwölf oder jünger, die Burschen alle über vierzehn. Nach dem Regen dampfte der Waldboden, roch wie Honigsud. Wir spießten Insekten an Baumstämme, ließen sie in der Sonne dörren. Eine Mutprobe bestand darin, Schmeißfliegen und kleine Falter in Brot einzukneten und zu schlucken. Die Stube roch nach Geranien und gebügelter Wäsche. Auf dem Uhrkasten stand die Branntweinflasche, mit Weihwasser gefüllt, ofenwarm. Daneben: Arnikaschnaps, Johannisöl, daneben: der Spucknapf des Großvaters. Der Großvater rauchte Virginier, nahm Farnkrautbäder gegen die vereiterten Füße. Das Vieh. Der niedere, schwitzende Stall. Geruch von Sägemehl und dampfendem Urin. Gurren und Flattern der Hennen. Hennen mit Schicksal, in dem ein Marder, eine Kuhklaue oder eine kalte Winternacht eine Rolle spielten. Ich sehe Mutter mit einem blutigen zuckenden Federbalg in der Hand traurig zum Brunnen gehen: die Hennen waren ihr Volk, genauso wie die Kinder und Kochtöpfe. Die Kühe waren sein Volk. Er schlug sie mit dem Melkfuß oder tätschelte sie mit dem Striegel, er heilte sie von Euterentzündungen, Blähungen und eingetretenen Nägeln. Diese wogenden geduldigen Bäuche mit trensenden Mäulern und Augen so sanft wie Seegras! Der Vater. Sein Griff nach dem Teller befahl die Familie an den Tisch. Sein Griff nach der Zeitung brachte die Familie zum Schweigen. Die Hände des Vaters waren verlängerte Instrumente des Schweigens. Wenn sie mich an den Ohren packten, fühlte ich keinen Schmerz, sondern Angst, in einen Abgrund gehoben zu werden. Meine Sprache ist eine Gewohnheit aus Landschaft und Kindsein. Eine Gewohnheit aus Abschauen und Auswendiglernen. Die ersten Sätze, die ich lernte: das Abendgebet; der schmerzhafte Rosenkranz. Gebte für Verstorbene und Sterbende. Zu Hause wurde nur über Dinge gesprochen, die mit Arbeit, Essen oder Schicksalsschlägen zu tun hatten. Die Sätze, die im Laufe eines Tages fielen, waren mehr Bestandteile des allgemeinen Hausrates als des Einzelnen, der sie im Munde führte. Gefühle zeigte man durch Weinen, Lachen oder Unwillen, es war nicht üblich, etwas, das zum Weinen oder Lachen war, über die Geste hinaus zu beschreiben. Wenn von der Erinnerung die Rede war, erzählten Hände und Augen mit; das Zuhören war immer auch ein Zuschauen und Mitgestikulieren.

Dieser einheimische Mundbetrieb: ein vorgeburtlicher, fleischdunkler Zustand. Das Wollen regiert über das Können, das innere Gefälle wird ohne Umschweife in Laute umgesetzt. Tagesnöte und Todesahnungen vermischen sich mit dem Hausverstand, Handgriff und Unheil sind unzertrennlich miteinander verschwistert. Die Wörter sind mit Gegenständen vollgesogen, Landschaft, Hausrat, Geschlecht … Die Wortkammer gehört zum erblichen Inventar dieser Gegend: verfertigte Redensarten und Bittformeln, die dem Einzelnen das Nachgrübeln ersparen helfen. Das Wörtchen „ich“ steht für Beruf, Krankheit und Adresse und in den meisten Fällen auch für die besondere Neigung zum Alkohol. Der Alkohol verschafft vorübergehend eine Art Lebensgefühl, eine Art Weitblick, aber auch nur in den Grenzen der bewährten Übermuts- und Verdrußformeln, mit denen der Volksmund übereinstimmt. Der Volksmund: ein Sammelgut verjährter Lebensregeln, mit dessen Hilfe die Temperamente neuer Generationen abgekühlt und zurechtgestutzt werden. Der Volksmund: der Mythos der handwerklichen Berufsstände, die keine andere Bedrohung kennen als die tägliche Forderung, überleben zu müssen. Überleben heißt: essen, schlafen, wieder essen, wieder schlafen. Rund um diese Naturbedürfnisse wird noch der Hausfriede als seelischer Anspruch angemeldet, allenfalls der Friede mit Gott, aber hier beginnt sich dieser Anspruch schon in Bilderbuchvorstellungen aufzulösen. Gott trägt die Gesichtszüge des – nur vom Hörensagen bekannten – Urgroßvaters, eine nachsichtige, schlichtende Figur, die aus Altersgründen und Ruhebedürfnis über die größten Gemeinheiten beide Augen zudrückt. Der einzelne, der sich immer nur in den allgemeinen Begriffen erlebt und empfindet, handelt in seiner Triebhaftigkeit im Einverständnis mit der allgemeinen Triebhaftigkeit. Jedes Vergehen in diese Richtung wird von der schweigenden Mehrheit abgedeckt, so gilt das gemeinschaftliche Verständnis zugleich auch als himmlische Lossprechung, denn das Recht ist immer auf der Seite des Außergewöhnlichen.
„Jemand“ ist in dieser Gegend männlichen Geschlechts. Das Leben der Frau spielt eine rein tagwerkliche Rolle. Alles, was die Frau über den Tag hinaus fühlt oder sagen möchte, wird vom Mann mit einer Handbewegung vom Tisch gewischt: Beruf und Kirche haben ihm seit Jahrhunderten die Rolle des stellvertretenden Herrgotts und Familienrichters zugesprochen, und dieser Zuspruch duldet – was die Frau betrifft – nur den demütigen Augenaufschlag der jungferlichen Maria und später den bitteren, in den Ärmel geweinten Lebensschmerz der Muttergottes. Die Muttersprache ist in Wirklichkeit eine Vatersprache, die das Kind durch die Mutter lernt. Die Vatersprache trägt die Seufzer der Mutter, die entsagenden Blicke, die heimlichen Tränen: das Kleinkind wird für diese Randtöne hellhörig. Das Kind spürt die verschwiegenen Nöte dieser Sprache auf und reimt sich später seine eigenen Vokabeln zum Gesagten dazu. Der Vater wird als hart, mürrisch, unberechenbar verinnerlicht, seinen unbegreiflichen Anweisungen wird ein kritischer Trotz entgegengestellt. Später verwischt sich diese Vaterfigur mit den Begriffen Öffentlichkeit, Gesellschaft, Staat: die Empfindsamkeit des Heranwachsenden richtet sich mit derselben unnachgiebigen Haltung auf diese übertragenen Autoritäten. Der leise, aussichtslose Kampf der Mutter wird zum unerschöpflichen Impuls, sich in der Gemeinschaft Gerechtigkeit zu verschaffen und ihren mundlosen Schmerz, an dem ich jahrelang mitgelitten habe, in Wörtern aufzulösen. Die Erzählungen des Großvaters waren beladen mit Gegenständen, Uhrzeiten, Wetterverhältnissen und Handgriffen. Die Menschen in seinen Geschichten waren eine Versammlung landläufiger Gewohnheiten, aber jeder von ihnen hatte eine besondere Art damit umzugehen. Wenn die Mutter nach dem Abspülen in den Küchenstuhl sank und mit dem Zeigefinger die Brotkrumen von der Tischplatte pickte, so war die Müdigkeit, von der sie seufzte, zugleich auch die erledigte Arbeit oder der in sich zusammengesunkene Tag.

Die Finsternis, die schneidende Kälte in dieser Gegend; oft noch im Juni, oft noch bei der Heuarbeit mit rotgefrorenen Fingern … Herbst brachte Schneeregen, die Felder dunkelten rasch zu; manchmal verspätete, trügerische Sonnentage nach Allerheiligen. Auf dem abschüssigen Gelände Wegzäune, Küchenschellen, Moosquellen, darüber die Hochspannungsleitung, darüber der Himmel, in allen Grauschattierungen vor und nach Gewittern. Die Bahn, wie in den Fels hineingerostet; ein flimmernder Luftofen, der an gewissen Augusttagen bis in die Dämmerung hinein glühte. Auf der anderen Talseite nasse, überhängende Schrofen, von Lawinen, Muren und Bränden zerschunden, darunter der Bach, ein silberner Lidstrich, ganz eingeschlossen in die Silbernis des Abendvergehens. Mulden, Steilhänge, Wald: ein windiger Talkessel, mit einer Kopfdrehung zu überschauen. Nach Sommergewittern tauchen auf dem Feldbuckel italienische Schneckensucher auf. Wir beobachten aus der Ferne, wie sie in ihren schwarzen Gummimänteln und tief in die Stirn gezogenen Tschakos durchs Gras waten. Der Großvater steht mit fauchendem Gehstock an der Hausecke und schleudert ihnen die gemeinsten Schimpfwörter entgegen, die er seinerzeit an der italienischen Front gehört hat. Die Schneckensucher schwenken ihre prallen Rupfensäcke und verschwinden so lautlos, wie sie gekommen sind. Die Paßstraße, eine steile Serpentine, die den Talkessel von Bergvorsprung zu Bergvorsprung einspannt. Im Winter eine Eisfalle für die Fernlaster, die nacheinander abrutschten, umkippten, ausbrannten. Die Schneeketten der Fernlaster scharren tiefe Narben in den Asphalt. Die Fahrer brechen kleine Fichten und schlagen sie unter die funkensprühenden Räder, bis die Stämme zerfransen. Sie stehen frierend und fluchend herum und reiben sich die tätowierten Arme mit Schnee warm. In der Nacht huschen Taschenlampenkegel über die Aufschrift der Plachen, und immer wieder diese langgezogenen ausländischen Flüche, ein verzweifeltes Gebell … Ich stand am vereisten Fenster und fürchtete mich; fürchtete mich vor etwas, das keinen Namen hatte, von dem ich nur wußte: es war irgendwo dort draußen und bedrohte. In den ersten Schuljahren, als der Winterverkehr noch keine Rolle spielte, jagten wir auf Rodeln über diese Eisplanke ins Dorf. Die Kleinsten klammerten sich an den Windblusen und Zöpfen der Größeren fest, ellbogenlange Fäustlinge übergestülpt, die Kappen tief in die Augen gezogen, – und noch immer weinten sie vor Kälte leise in sich hinein, wenn alles Stille, alles Sternenfunkeln war, – nur das eisige Pfeifen des Fahrtwindes und das knöcherne Gleiten der Kufen. Aus den Tälern der Kindheit weht ein scharfer Geruch: Erde, Weihrauch, Schnee …

Der Tod der mageren Schwester hat den Juli siebenundfünfzig ein für allemal vereinsamt: ein spanischer Sommer der Erinnerung, von Bienen und schwarzen Trikoloren beweint. Die Mutter geht still hinüber in die Jahre. Ihre versteinerte Hand zieht auf den Scheiteln der Buben bittere Furchen. Der Achtjährige wirft sich in die gemähte Wiese, von Schnecken und Salamandern bekränzt. Die Kühe sprechen in der Nacht mit den Toten. Särge werden durchs Haus getragen. Dunkles Gepolter der Knechte, denen unsichtbare Hunde den Schweiß von den Stirnen lecken. Und immer wieder die winzigen, spitzen Schreie der Aufgebahrten. Das Kind atmet schweißgebadet in der einsamen Kammer. Sie war schon seit Jahren bettlägrig gewesen. Ich durfte immer nur für Minuten in ihr Zimmer. Dann schnupperte ich am Nagellack oder sah mir die Münzensammlung an, die sie im Nachtkästchen aufbewahrte. Manchmal erzählte sie mir vom Himmel. Dort glänzt alles, sagt sie. Alles glänzt. Ich habe keine Angst vor dem Sterben. Ich weiß, daß ich in den Himmel komme. Alle Kinder, die sterben müssen, kommen in den Himmel und werden heilig und glänzen. Als die Mutter in der Tür des Schuppens stand und kein Wort sagte, da wußte ich: die Schwester ist in den Himmel geflogen. Auch das hatte sie mir erzählt: ich werde dann Flügel haben und durch die Luft fliegen. Ganz weit hinauf. Alle standen um das Bett herum und weinten. Der Großvater, die Nachbarin, der Bruder, Vater, Mutter. Die Tränen rannen ihnen. Die Stube wurde mit schwarzen Tüchern verhängt. Die Nachbarn kamen mit Schnittblumen und Kerzen und beteten Rosenkränze bis spät in die Nacht. Es roch nach Weihrauch und Kranznadeln. Eine Verwandte sorgte für die Mahlzeiten, während die Mutter den ganzen Tag mit ausgeweinten, verschwollenen Augenlidern vor der Aufgebahrten kniete. Einmal gab es einen Aufruhr, weil sie gesehen haben wollte, daß sich die Tote bewegte.

Wir suchten in den dürren, verstaubten Böschungen nach weggeworfenen Flaschen. Jeder von uns hatte einen Stock, mit dem er im Gras stocherte und Flaschenhälse aufspießte. Der eine oder andere hatte sich schon an einer rostigen Konserve geschnitten oder war mit den Fingern in eine übelriechende Flüssigkeit getappt. Wir schleppten die Flaschen in einem Rupfensack zum Bach und spülten die Würmer und Schnecken heraus. Dann versteckten wir sie im Holzschuppen. Jeder hatte sein eigenes Lager nach Limonade-, Bier- und Wein-flaschen sortiert. Nachmittags trugen wir einige davon zum Krämer und tauschten sie gegen Kaugummi oder Stollwerck ein.
Mein Schulweg führte durch ein Stück Wald, in dem ich immer laut betete, aus Angst vor ungeheuerlichen Erscheinungen. Eine Sage aus dieser Gegend erzählt von einer Zigeunerin, die aus Liebeskummer in den Tod gesprungen sei. Einheimische hätten sie später noch oft zu Gesicht bekommen oder ihr Schluchzen gehört. Früher hatte die Mutter während der Arbeit manchmal Kirchenlieder gesungen oder der Vater hatte sich die Ziehharmonika umgeschnallt und den Schneewalzer gespielt. Jetzt fuhrwerkten sie einsilbig in Küche und Stall herum. Der Vater schlägt die Türen hinter sich zu, die Mutter wischt sich heimlich mit dem Geschirrtuch die Tränen aus den Mundwinkeln. In einem Haus, wo zwei Kinder aufgebahrt und weggetragen worden sind, gibt es nicht mehr viel zu musizieren. Die Fotografie im Herrgottswinkel: das durchsichtige Gesichtchen der Toten mit dem unvergeßlichen Herzkrankenlächeln. Daneben, wie ein zweiter Altarflügel: der herzkranke Bruder im Norwegerpullover. Als mich der Vater im Lehrlingsheim Graz-Eggenberg vom Unglück benachrichtigte, sah ich das blasse, von einem nässenden Ausschlag übersäte Gesicht vor mir, das ich zum letzten Mal auf dem Balkon der Innsbrucker Medizinischen lachen gesehen habe. Das Fehlen des Bruders am Mittagstisch war eine bedrückt hingenommene Leere, die durch das Besteckgeräusch zur Beklemmung anschwoll. Während ich den Löffel zum Mund führte, starrte ich auf den Fleck der Tischplatte, wo er immer seinen Ellbogen aufgestützt hatte. Nach dem Begräbnis wartete ich, bis alle Menschen – auch die Mutter – gegangen waren. Dann bückte ich mich nach einer Handvoll Schnee und warf ihn auf die pyramidenförmig geschichteten Kränze. Das Rascheln der Kranzschleifen brachte mich zum Weinen. Nach dem Tod des Bruders schrumpfte das Zuhause zum Schauplatz stummer Bedrückungen. Der Großvater wurde in das Altenzimmer abgeschoben. Dort stand er gebeugt und zitternd am Fenster und starrte auf die andere Talseite, als würde er von dort jemanden erwarten. Er war in den letzten Jahren so schwerhörig geworden, daß jede Unterhaltung nach zwei, drei Sätzen ins Stocken kam und in Handzeichen ausartete. Die notwendigsten Wörter wurden ihm ins Ohr geschrien.

Im Frühjahr begann die Autobahn AG mit den Vorarbeiten für den Brückenbau. Die Mutter zeigte den Ingenieuren und dem Küchenpersonal die eingerahmten Bildchen der Toten. Diese fremden, an solche Zeremonien gewöhnten Gesichter beugten sich tief über die Aufnahmen, als wollten sie ihr Mitgefühl mit diesem Elend noch deutlicher zur Schau stellen. Ich fühlte mich unter ihren harten, unruhigen Augen als lebendes Kind dieser Familie irgendwie schuldig. In der Nähe des Hauses wurden Sprengarbeiten durchgeführt. Die Erschütterungen waren so gewaltig, daß das Geschirr in der Kredenz jedesmal eine Weile nachzitterte. Ich beobachtete vom Stubenfenster aus, wie zwei Arbeiter das Feldkreuz umsägten. Es war ein ganz einfaches Feldkreuz mit einem verwitterten Dach und einem bemalten Heiland, dem vor langer Zeit ein Fuß abgesplittert war. Jedesmal, wenn ich daran vorbeikam, flüsterte ich: Heilig’s Kreuz! Das war so eine Gewohnheit, die mir noch die Schwester beigebracht hatte. Vergaß ich es einmal, dann lief ich zurück und sagte das nächste Mal zweimal laut: Heilig’s Kreuz! Heilig’s Kreuz! Während die Männer den Herrgott auf einen Handwagen luden, grub in der Nähe ein Caterpillar einen übermoosten Feldhügel ab und kippte die fettschwarze Erde auf ein Schotterauto. Mit einem Schlag hatte das Feld seine Würde verloren. Dort, wo das Kreuz gestanden hatte, gähnte eine winzige Narbe, und rund um diese Narbe war die Landschaft entseelt, als hätte man ihr das Auge ausgestochen. Die Gegend schrumpfte zur Baustelle.

Eines Tages klopfte dieser Mann an unser Küchenfenster. Ein junger, kräftiger Mensch mit einem kantigen Schädel. Er trug einen grauen Lodenmantel und schwarze Gummistiefel. Die Mutter winkte ihn herein und bot ihm ein Glas Wein an. Er wehrte mit einer knappen Handbewegung ab: Bin mit der Vespa unterwegs! Aber dann trank er das Glas doch in einem Zug leer. Unser Hund, ein Spaniel, hatte sich bei seinem Eintreten winselnd unter dem Herd verkrochen. Der Vater versuchte, ihn herauszulocken; zuerst mit schönen Worten, dann mit Speck, schließlich brüllte er: Sauvieh! Der Hund robbte zitternd hervor und vergrub die Schnauze zwischen den nassen Stiefeln des Mannes. Der packte ihn unterm Arm und trug ihn hinaus. Der Vater setzte seinen Hut zurecht und ging den beiden nach. Die Mutter schloß die Tür. Auf dem Herd sotten die Kartoffeln über. Bevor die Tropfen verzischten, rasten sie in einem wilden Tanz um die Herdplatte. In dieses Zischen hinein fiel der Schuß. Die Mutter riß den Topf vom Feuer, daß eine Handvoll Wasser überschwappte. Der Dampf schoß wie ein Pilz zur Decke und breitete sich über alle Gegenstände. Kurz darauf hörte ich das Knattern der Vespa, das sich immer weiter entfernte.

Im Kleinbauern- und Wirtshausklima unserer Gegend galt Innsbruck als Podium für den beruflichen Erfolg. Wenn es einem jungen Menschen gelungen war, einen Arbeitsplatz in der Stadt zu ergattern, dann blickten die Zurückgebliebenen neidisch auf diese erfolgreich gesicherte Existenz. Es kam vor, daß so ein junger Mensch scheiterte und sich als Tankwart oder Sägewerkarbeiter mit einer Dorflaufbahn begnügen mußte; das war dann für die Familien tüchtiger Kinder immer Anlaß für Mitleid und Spott. Im Winter kam die Sechsuhrfrühgarnitur ungeheizt über den Brenner. Wir zeigten mit steifgefrorenen Fingern unsere Monatsausweise her, gruben die Fäuste in die Anoraktaschen und nickten vor Übermüdung wieder ein. Auf der Heimfahrt wurde geschmust, gerauft oder geschnapst. Auf eine Bierwette hin sprang ein Hilfsarbeiter aus dem fahrenden Zug. Ein Mechanikerlehrling versuchte den Stöckelschuh einer Wurstverkäuferin aus dem Fenster zu werfen und wurde von einem Eisenbahner unter Gelächter bei den Ohren gepackt und durch den Waggon gezerrt. Die Atmosphäre aus Roheit, Schadenfreude und Tageserschöpfung verschweißte die Pendler zu einer dumpfen, unberechenbaren Leidensgenossenschaft.

Es gibt – nach außen hin – ein untrügliches Zeichen für das Ende der Kindheit: das erste Monatsgehalt. Der Vater schneidet die Frage des Kostgeldes an, die Mutter durchsucht die Rocktaschen nach versteckten Scheinen, es kommt zum Wortwechsel über vermutete Beträge, schließlich der erste Streit und von Seiten des Vaters die erste Drohung mit dem Hinauswurf: schau wie du weiterkommst, Rotzbub! Ich erinnere mich an eine Szene, in der mein Vater nach einer solchen Auseinandersetzung die verriegelte Schlafzimmertür aufgetreten hat, während die Mutter händeringend im Hintergrund stand. Es ging um zwanzig Schilling, die ich mir erlaubt hatte, aus meiner Sparschatulle zu nehmen, um ins Kino zu gehen. Es war natürlich nicht der lächerliche Betrag, – es war der Widerstand gewesen, den ich gewagt hatte: der erste Widerstand, der nicht vom Kind, sondern vom Mitverdiener gekommen war: das ist mein Leben und mein Leben ist meine Sache! Man lebte nicht für seine Sache. Man lebte für den Hof, für die Familie und dürftigstenfalls für den Glauben. Das Geistige wurde durch kurze Geschichten veranschaulicht, sodaß auch der schwerfälligste Kopf das Gute vom Bösen unterscheiden konnte. Das genügte für den Umgang mit Angehörigen und Nachbarn. Alles andere war eine Angelegenheit von Handgriffen. Fleiß zählte mehr als Klugheit. Die Ausdauer war angesehener als der Einfall. Nur Kleinkindern war es erlaubt, aus der Seele zu reden. Schon in der Volksschule wurde dem Kind das Eigenleben abgewöhnt. Die Neugierde war plötzlich nicht mehr belustigend, sondern vorlaut. Wünsche waren Zeichen für Undankbarkeit. Der eigene Wille wurde als Trotz beschimpft und jeder Versuch, sich zu erklären, als Aufmucksen bestraft. Geduldet wurden nur ein paar harmlose Ausfälligkeiten, aber auch nur als Unterhaltung am Mittagstisch: der Bub durfte den Teller des Vaters vertauschen, den Löffel ausnahmsweise einmal mit der linken Hand halten oder den Radiosprecher nachäffen. Die Schuldgefühle wurden einmal im Monat in den Beichtstuhl getragen; das verschaffte eine vorübergehende Erleichterung, aber auch die Scham, vor der Gemeinde als Büßer dazustehen. Das sechste Gebot war das kritischste. Während bei allen übrigen Punkten eingelernte Sätzchen heruntergesagt werden durften, mußte die Unkeuschheit in allen Einzelheiten beschrieben werden: wann, wo, wie oft und mit wem. Einmal überraschte mich die Mutter bei einer Unkeuschheit. Ich hatte einem Nachbarmädchen die Unterhose abgestreift und mit einem Stück Holz, das mir als Operationsmesser diente, am Geschlecht herumgefupselt. Die Mutter gab aber nicht mir, sondern dem verschreckten Mädchen die Ohrfeige. Zu mir sagte sie nur: wasch dir sofort die Hände, du Schweinigl! In geschlechtlichen Dingen trug immer das Mädchen, auch wenn es noch so klein war, die letzte Schuld.

Der Schritt vom Feldweg auf den Gehsteig: zwischen mir und den geräumten Schauplätzen der Kindheit einen Graben ziehen. Das Verdrußgesicht der Mutter, die abgearbeitete Gestalt des Vaters, die wehrlose Genügsamkeit des zitternden Mannes im Altenzimmer hinter diesem Graben zurücklassen. Als Gepäck nur die Erinnerung und das unbestimmte Gefühl, daß alles anders werden wird. Der kurze Abschied: die Mutter wischt sich die Hand in die Schürze und macht mir mit dem bebenden Daumen ein Kreuzzeichen auf die Stirn. Der Vater steht mit aufgekrempelten Hemdsärmeln in der Tür und wartet, bis ich an ihm vorbei muß. Er streckt mir die Hand hin, schweigend, mit einem festen, endgültigen Druck. Der Großvater schläft. Es würde auch schwerfallen, ihm diesen Augenblick zu erklären. Auf der Höhe des Feldbuckels, von dem aus der letzte Blick auf das Haus möglich ist, befällt mich der ganze Jammer. Die Kindheit, die sich auf dem letzten, steilen Wegstück so verzweifelt ans Herz geklammert hat – plötzlich rutscht sie ab. Die Tränen schießen mir in die Augen und ohne Übergang beginne ich zu singen: unzusammenhängende Lied- und Wortfetzen, aus Liedern und Wörtern, die ich in diesem Talkessel gelernt und die es mir nun aus Mund und Augen spült. Vermischte Erinnerung … Ich sitze unterm Tisch und wische mir mit dem Ärmel die Katzenhaare von der Zunge; die Mutter geht in Schafwollsocken über den frischgespülten Küchenboden … Das Haus: wie eine Wurzel in die Landschaft eingewachsen. Von der Dachrinne tropfte das Schneewasser auf die roten Geranien des Stubenerkers … Die Felder rund ums Haus, der Garten, die Bretterstöße, der nahe Wald: das war die Weite. Heute sitze ich hinterm Tisch, das Kinn auf die Handballen gestützt und schaue in eine seltsam erstarrte Gegend: als wären die Dinge in das Fenster eingefroren … Die Handgelenke der Schwester dufteten nach Lavendel, als sie mir über die Wange strich und kein Wort herausbrachte vor Atemnot … Das Blitzlicht des Gemeindefotografen zeigte ihre violettgesprenkelten Wangen überirdisch.

Auf dem Dachboden stehen Schachteln voll Krimskrams. Schulhefte, Kommunionkerzen, Bilderbücher. Eines Tages, so habe ich mir vorgenommen, werde ich alles genau durchsehen. Eines Tages, so habe ich es mir vorgenommen, werde ich mich an alles genau erinnern.

 

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