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Fließtext *
Von Jan Wagner

Sobald ich die Augen schließe, stehe ich unter Wasser, dürfen die Fische sich nähern: Schwimmende Schönheiten des Pazifiks sind es gelegentlich, edler in ihrem Muster als Schlafzimmertapeten aus Versailles, schillernde Barockschwärme mit einem verschwenderischen Flirren und Funkeln, mit einem Leichtsinn von Farben; hier und da wagen sich die bizarren Gestalten aus der dunklen Experimentierkammer der Tiefsee hervor, weit öfter noch aber sind es die seit Kindertagen vertrauten Formen von Flunder, Forelle, Hecht und Dorsch – sie schweben heran, schauen fragend, schauen stumm, verschwinden mit einem leichten Schlag ihrer Flossen, tauchen ab, als wären sie mit einem Mal misstrauisch geworden, müssten den Zweibeiner meiden. Und tatsächlich fällt mir jetzt, da ich die Augen geschlossen habe, auch wieder ein, was Forrest vor einigen Jahren erzählte, als wir gemeinsam am Strand von Rhode Island spazierengingen, den wir ganz für uns allein hatten, als wir in einer späten Nachmittagssonne plaudernd an den verlassenen Rüstungen und den leeren Helmen einiger Pfeilschwanzkrebse vorbeiliefen: Wie die riesigen Schwärme der bluefish, der Blaubarsche, wie sie im Deutschen heißen, einmal im Herbst der Wärme des Golfstroms nach Norden folgen und vor der Küste bei Providence vorüberziehen, erzählte Forrest also; wie sie die wimmelden Schwärme kleinerer Fische vor sich her treiben, hinein in die Buchten von Rhode Island, aus denen es für ihre Opfer, das wissen die Blaubarsche, kein Entkommen gibt, allerdings, und dies wissen sie nicht, obwohl sich das blutige Ritual Jahr für Jahr wiederholt, auch für sie selbst nicht; wie sodann hunderte, ja abertausende von Heringen oder Makrelen auf ihrer Flucht die nasse Heimat verlassen, erzählte Forrest (und ich sah es vor mir), wie sie angsterfüllt aus dem Meer schnellen, sich in ihrer Panik aus den Wellen hinauskatapultieren, lieber an der fremden, feindseligen Luft verenden als Beute ihrer blauen Jäger zu werden; wie all diese Heringe und Makrelen also nunmehr aufs tödliche Land klatschen, in den Sand prasseln wie silberne Münzen, als würden sie ausgeworfen aus den Tiefen der Meeresmaschinerie, eine gewaltige Münzausschüttung, ein glitzernder, blinkender Jackpot – und eine Tragödie, die schon früh ankündigt wird: Von den Möwen nämlich, ihrem unmissverständlichen Zeichen, das sie am Vormittag schon aus weiter Ferne senden und das die Schuljungen in ihren Baseballmützen beobachten, das Zeichen, das sodann alle, Erwachsene und Kinder, Jung und Alt, zum Ufer hinuntereilen lässt, jener gefiederte Tornado aus Seevögeln also, der zunächst als winzige Fahne am Horizont zu sehen ist, dann als eine weiß leuchtende Säule übers offene Meer heranzieht, sich langsam und zuverlässig Richtung Bucht bewegt, wo man sie erwartet, der gierige Kreisel, der die Schwärme der Jäger und die Schwärme der Gejagten in sicherer Erwartung eines überreichen Mahls begleitet, dieses brodelnde Stück Meer, das erst von der Küste gestoppt wird, wo es auf die Phalanx der Männer prallt. Und wie die Fischer, erzählte Forrest (und ich sah sie vor mir im Wasser), ihrerseits in langen Reihen in der Bucht auf das unabwendbare und herbeigesehnte Herbstspektakel warten, das die Truhen für den Winter und die Bäuche der Familie füllen soll, wie die hochgewachsenen und schweigsamen Männer von Providence, Richmond und Newport also konzentriert in die Bucht starren, das flache Wasser mit ihren Blicken durchdringen, in hohen schwarzen Gummistiefeln und Wachstuchjacken, mit hochgekrempelten Ärmeln knietief in der seichten Bläue stehen, im weichen Untergrund Halt suchen, sich ganz im Wasser verhaken und gar nicht erst auf die Heringe achten, das armselig glitzernde Kroppzeug, das hinter ihnen auf dem Sand schlägt und zuckt, weil die Männer einzig Augen für den wahren Hauptgewinn haben, für den fetten Fang, die Septemberbeute; denn die Blaubarsche selbst sind es, ihre kalte Meute, der Hunger und Jagdgeschick zum Verhängnis werden, wenn die Männer von Rhode Island sie zu dutzenden mit bloßen Händen, mit Stangen und Netzen aus dem Wasser zerren, sie herausreißen, aufs Land schleudern mit sicherem Griff, um die glatten, sich wehrenden Körper noch bei lebendigem Leib aufzuschneiden, sie sogleich auszunehmen, zu zerlegen; wie ihre groben und geübten Hände diese Atlantikgeschenke aufreißen, sie hastig zu verarbeiten suchen, um ja nicht die nächste Gabe zu versäumen, denn ein blinder Griff genügt, um einen weiteren Blaubarsch zu ergreifen. Ganze Stücke und Brocken sind an die Umstehenden zu verteilen, Arme werden gestreckt, hier, ruft man, hier, während der weiße Sand der Bucht sich einfärbt, dunkler und dunkler wird von dem Blut und von dem Gekröse, während der Wind ein paar Flocken von rötlichem Schaum hinauf in die Dünen treibt und die Düfte von Schlachtfest und Tod die kreischende Vogelwolke über den Köpfen noch wahnsinniger werden, noch irrwitziger sich in die Luft von Rhode Island schrauben lässt; kilo- und klumpenweise Fisch an die Familien, sogar an die Fremden, die sich zuverlässig eingefunden haben, keiner soll leer ausgehen bei diesem Septembermassaker, jeder wird heute bedacht und satt, darf sein blutiges und tropfendes Paket mit nach Hause tragen, mit beiden Händen sein kaltes Meerespräsent umfasst halten, berauscht vom Lärm, dem Salz auf den Lippen, benebelt vom Zucken und Tanzen der Körper, ein bisschen taub vom Schlachtenlärm, mag sein, von dem Gelächter der Jäger, dem kochenden Wasser der Bucht. Doch nichts von all dem an diesem Tag, an dem wir auf Sohlen aus feinem weißen Sand spazierengingen in einer Bucht, die ganz ruhig und ganz klar vor uns lag, an dem die Sonne hinter Providence verschwand und Forrest mir mit ausgestrecktem Arm den winzigen weißen Leuchtturm zeigte, der von der anderen Seite der Bucht friedlich zu uns herübergrüßte, sich langsam warm zu glühen begann für die Nacht.

— * Text, der in einem Stück und ohne Unterbrechungen durch Absätze, Überschriften, Abbildungen, Fußnoten u.Ä. gesetzt wird.
— Aufforderung, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen und dabei nicht zurückzuschauen; freihändig draufloszulegen, ohne zu korrigieren; die Buchstaben zu Papier zu bringen und bedenkenlos aus der Hand zu geben.

 

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