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Satan und Madonna – ein Plot

Über die Nähe von Gut und Böse im Märchen – ein Essay exklusiv für diese Ausgabe von Quart.
Von Michael Köhlmeier

1

Das Märchen vom Mädchen ohne Hände ist eines der schrecklichsten, das wir kennen. Dabei begegnet es uns in der Fassung der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm in einer bereits überarbeiteten Form. Wilhelm Grimm, der ab der dritten Auflage allein für die Redaktion der Märchensammlung verantwortlich zeichnete, urteilte wohl, dass die ursprüngliche Geschichte Kindern nicht zuzumuten sei.
Das „ursprüngliche“ Märchen eben, wie es tatsächlich in norddeutscher Gegend zu Lebzeiten der Grimms noch erzählt wurde, war eine nur wenig verschlüsselte Missbrauchsgeschichte: Der Vater schneidet seiner Tochter die Zunge heraus und hackt ihr die Hände ab und jagt sie davon, nachdem er ihr so viel Leid angetan hat; sie soll nicht darüber sprechen und soll auch nicht aufschreiben können, was ihr widerfahren ist. Ohne Zweifel war diese Geschichte nicht für Kinder gedacht. Wilhelm machte aus dem Vater den Teufel, und er ließ es mit dem Abhacken der Hände genug sein.
Der Teufel ist böse, das weiß jeder, es ist nachgerade seine Aufgabe, böse zu sein, vom Teufel ist nur Böses zu erwarten; auch Kinder wundern sich nicht, wenn der Teufel böse ist, und seine bösen Taten erschrecken sie wenig, denn was sollte er anderes tun als Böses. Dass es auch Väter gibt, die sich wie Teufel benehmen, das wissen Erwachsene; Kindern mögen sie bitte diesen Einblick ins Leben ersparen. Die Familie mit dem Vater als Vorstand darf nicht in Verruf gebracht werden. Wo hingegen der Teufel auftritt, hat das Böse eine außermenschliche Ursache, damit wird ihm das Unheimliche sicher nicht ganz genommen, aber es ist draußen, man kann mit dem Finger – weg von uns – darauf zeigen, und der Finger wird auch nicht gleich abgebissen; das Böse als Teufel erscheint ein bisschen harmloser. Mephisto ist im Vergleich zu dem wirklichen Menschen Adolf Eichmann ein netter Zyniker ...

Der Müller trifft im Wald ein Männlein, das fragt ihn, warum er so unglücklich dreinschaut. Der Müller jammert ihm von seiner Armut vor; das Männlein sagt, wenn er ihm gebe, was hinter seinem Haus ist, mache er ihn zu einem reichen Mann. Hinter meinem Haus, denkt der Müller, ist ein alter Apfelbaum, der nichts mehr trägt, den kann er gern haben; und er schlägt ein. Zu Hause läuft ihm die Frau entgegen; alle Schubladen seien voller Gold, die Kästen voll feinem Linnen und Seide. Der Müller erzählt, die Frau ist bestürzt. „Das war der Teufel! Und hinter dem Haus war unsere kleine Tochter und hat dort gespielt!“ Als das Kind in ein reifes Alter kommt, taucht der Teufel auf und will es holen. Aber das Mädchen wäscht sich die Hände, und der Teufel kann es nicht packen. Er solle seine Tochter daran hindern, die Hände zu waschen, befiehlt er dem Müller, sonst nehme er ihn mit in die Hölle. Da hackt der Vater seiner Tochter die Hände ab. Das Mädchen weint über die Stümpfe, und die Tränen machen sie rein, und der Teufel hat das Nachsehen. Der Vater fällt vor seiner Tochter auf die Knie, sie möge ihm verzeihen, und das tut sie, aber sie will nicht zu Hause bleiben, sie bittet den Vater, ihr die Stümpfe auf den Rücken zu binden. So geht sie in die Welt hinaus. Sie trifft einen König, der heiratet sie, macht sie zur Königin und lässt ihr silberne Hände anlegen. Der Krieg bricht aus, der König zieht ins Feld. Die Königin bringt einen Sohn zur Welt. Ihre Schwiegermutter, ausnahmsweise eine gute, schreibt an ihren Sohn einen Brief, er dürfe sich freuen, er sei Vater eines Knaben geworden. Sie schickt einen Boten, der legt sich unterwegs nieder, um zu ruhen, da kommt der Teufel und schreibt den Brief um: Die Königin habe einen Bastard geboren, sie habe ihn, den König, betrogen. Der König liest den Brief, kann es nicht glauben, schreibt dagegen, man solle die Königin ehren und das Kind behüten, bis er zurückkomme. Wieder schläft der Bote ein, wieder kommt der Teufel und fälscht auch diesen Brief: Die Königin und ihr Bastard sollen getötet, zum Beweis solle der Königin die Zunge herausgeschnitten werden. Die gute Schwiegermutter warnt die Königin, bindet ihr das Kind auf den Rücken und schickt sie in den Wald, auf dass sie der König nicht finde. Sie lässt ein Reh töten, schneidet ihm die Zunge heraus und weist sie dem König vor, als er aus dem Krieg zurückkommt. Die List des Teufels fliegt auf, der König macht sich auf die Suche nach seiner Frau und seinem Sohn. Schließlich findet er die beiden. Gott und sein Engel greifen ein, sie lassen der Königin neue Hände nachwachsen. Alles ist gut.

Soweit das Märchen Das Mädchen ohne Hände.
Das Märchen Marienkind steht in der Grimmschen Sammlung an dritter Stelle, Wilhelm und Jacob Grimm zählten es also zu den wichtigen Stücken ihrer Sammlung. Nach ihren Angaben hat ihnen Gretchen Wild die Geschichte erzählt, eine der Töchter der befreundeten Apothekerfamilie aus Kassel und Schwester von Dorothea, „Dortchen“, der späteren Frau von Wilhelm Grimm. Wahrscheinlich haben sich die Brüder obendrein von einem Märchen aus dem Pentamerone des Neapolitaners Giambattista Basile inspirieren lassen. Die Geschichte ist für sich schon haarsträubend genug, parallel zu Das Mädchen ohne Hände gelesen, tut sich uns eine Welt der Hoffnungslosigkeit und des Ausgeliefertseins auf, ein Vorwurf geistiger und seelischer Apokalypse – nämlich weil sich Gut und Böse kaum noch voneinander unterscheiden.

Wieder geht ein Mann in den Wald und klagt über seine Armut; da erscheint ihm die himmlische Madonna, und auch sie sagt, sie werde ihn reich machen, wenn er ihr dafür gibt, was verborgen in seinem Haus ist. Der Mann verspricht es. Verborgen in seinem Haus aber ist das Kind im Bauch seiner Frau. Nach der Geburt erscheint die Madonna und nimmt das Kind mit sich. Sie zieht es oben im Himmel groß, und als es herangewachsen ist, gibt sie ihm dreizehn Schlüssel, die passen in die dreizehn Türen des Himmels. Sie sagt, sie gehe und lasse das Kind allein, hinter zwölf Türen dürfe es schauen, hinter die dreizehnte aber nicht. In den zwölf Kammern knien die Apostel und beten, und schließlich kann das Kind seine Neugierde nicht mehr bändigen und öffnet die dreizehnte Tür. Dort wohnt die Dreifaltigkeit, das Kind berührt sie mit dem Finger, und der Finger wird zu Gold. Als die Muttergottes zurückkommt, sieht sie den goldenen Finger und weiß, was geschehen ist. Sie fragt das Kind, ob es die dreizehnte Tür geöffnet habe, das Kind sagt: „Nein.“ Sie fragt ein zweites Mal und ein drittes Mal. Das Kind leugnet wieder. Da schickt es die Muttergottes auf die Erde zurück. Das Mädchen heiratet einen König und bringt ein Kind zur Welt. In der Nacht nach der Geburt erscheint die Madonna und fragt wieder: „Hast du die dreizehnte Tür geöffnet?“ Die Königin leugnet. Da nimmt ihr die Madonna das Kind. Erste Gerüchte kommen auf – die Königin habe ihr Kind getötet. Sie wird wieder schwanger, bringt wieder ein Mädchen zur Welt, und wieder erscheint ihr in der Nacht die Madonna. Ob sie es nun zugibt. „Nein.“ Auch dieses Kind wird ihr genommen. Empörung im Volk, die Königin sei eine Menschenfresserin. Der König verteidigt sie – noch. Das dritte Kind wird geboren, die Madonna erscheint, wieder sagt die Königin, sie habe die dreizehnte Tür im Himmel nicht geöffnet. Auch das dritte Kind wird ihr genommen. Da verlangt das Volk, die Königin auf dem Scheiterhaufen hinzurichten. Erst als die Flammen hochschlagen, ruft die Königin in den Himmel hinauf: „Ich geb’s zu! Ich geb’s zu, ich habe die dreizehnte Tür geöffnet!“ Da wird ihr verziehen, und sie wird zu ihren Kindern in den Himmel aufgenommen.

2

Es fällt schwer zu entscheiden, welche der beiden Geschichten „teuflischer“ ist. Die Empörung trifft die Madonna mehr als den Teufel, aber Empörung ist bekanntlich billig. Und sie verstellt den Blick. Wir wollen den Kern der beiden Märchen herausschälen, um unserem Thema Kontur zu verschaffen – selbstverständlich mit dem Ziel zu ergründen, warum diese merkwürdigen, geheimnisvollen, zugleich geheimnislosen Gebilde uns seit – wie die Märchenforschung herausgefunden hat – tausenden Jahren faszinieren.
Ich schlage deshalb vor, das Böse in Das Mädchen ohne Hände und in Marienkind vorerst nicht unter moralischen, sondern unter ästhetischen Gesichtspunkten zu betrachten. Was, zugegeben, widersinnig erscheint, beziehen sich diese beiden Begriffe ja gerade auf moralische Kategorien und sind so ohne weiteres nicht als ästhetische zu denken. Aber aus solcher Widersinnigkeit, meine ich, besteht das Wesen der Märchen und auch das Wesen mancher Mythen.
Dass Grausamkeit schön sein kann, führen uns unzählige Märchen, Legenden und Mythen vor – wie die über den Satyr Marsyas, der von Apoll gehäutet wird, oder viele Heiligengeschichten, in denen Martyrien bis zur Verzückung geschildert werden, denken wir an die Qualen des heiligen Laurentius, der auf dem Grill geröstet wurde und der, laut Legende, seine Peiniger verspottete, indem er bat, man möge ihn umdrehen, auf der einen Seite sei er gar – hier wird das Böse, die Grausamkeit, in einen Witz verkehrt, also ästhetisiert.

Fragen wir nicht nach den Ähnlichkeiten der Handlung in unseren beiden Märchen, sondern nach einem gemeinsamen Motiv, von dem die jeweilige Handlung ihren Ausgang nimmt.
Da ist einmal der im Wald allein vor sich hin jammernde arme Mann, den Gut und Böse nicht scheren, der nur endlich auch einmal haben möchte – haben, nicht darben. Dann, als der erste Plot Point in der Geschichte, der Punkt, an dem die Handlung in Gang gesetzt wird: der Tausch. Das Männlein und die Madonna bieten an, etwas scheinbar Wertloses gegen Reichtum zu tauschen. Einmal meint der Müller, es handelt sich um den alten, unfruchtbaren Apfelbaum, und wir unterstellen dem Teufel, dass er genau auf diesen Irrtum spekuliert; im anderen Märchen sieht es aus, als habe der Mann gar keine Vermutung, was für eine Sache es sein könnte, die sich im Haus verborgen befindet, nur dass er sich denkt, wertvoll könne die Sache auf jeden Fall nicht sein, denn etwas Wertvolles besitzt er nicht, sonst würde er ja nicht jammern. Beide werden also im Unklaren gelassen, wofür sie den Reichtum eintauschen; und wir, die wir die Geschichte erzählt bekommen, sind davon überzeugt, hätten sie es gewusst – nämlich dass sie ihr Kind opfern sollen –, wären sie den Handel nicht eingegangen.
Das ist nicht fair.
Gut, vom Teufel kann man Fairness nicht erwarten, und der Müller wusste ja nicht einmal, dass in dem Männchen der Gottseibeiuns steckt, also gab es für ihn keinen Grund, ihm zu misstrauen. Die Muttergottes aber, das meine ich doch glauben zu dürfen, führt – so wie sie uns bisher gepriesen wurde – einen Ahnungslosen nicht hinters Licht, nein, das tut sie nicht. In dem Märchen Marienkind tut sie es aber; hier präsentiert sich die Gnadenreiche als Gnadenlose. – Aber ich wollte ja nicht moralisch werden ...
Im weiteren Verlauf zweigen die Handlungen der beiden Märchen auseinander, und sie finden auch nicht mehr zusammen.
Das Motiv, das die schließlich sehr verschiedenen Handlungen auslöst, ist also der Tausch, und zwar ein unfairer Tausch, in beiden Fällen. Den Prinzipien der bürgerlichen Ökonomie folgend, ist ein unfairer Tausch aber eigentlich gar kein Tausch, sondern ein Betrug; Tausch setzt nämlich Gleichheit voraus, auch Gleichheit des Wissenstandes; was jemand auf die beschriebene unfaire Weise erworben hat, hat er eigentlich gestohlen. – Und wieder kommt die Moral daher ...
Und es ist kein Wunder, dass sie daherkommt, denn wir haben bisher unser Augenmerk nur auf die Handlungen und ihre Motive gelenkt. Gut und Böse, so haben wir unterstellt, entstehen erst im Tun, im Handeln. Erich Kästners „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es“ fasst diese Einsicht in ein schönes Bonmot. Der Katholik aber beichtet, er habe gesündigt in Gedanken, Worten und Werken – also nicht nur in Werken, nicht erst, als er Böses getan hat. Und auf dem Gebiet der Sünde ist die katholische Kirche kompetent, folglich sollten wir die Beichtformel ernst nehmen.
Dass die den Taten vorgesetzten Worte zum Bösen gezählt werden, ist zwar nicht unbedingt korrekt und logisch widerspruchsfrei durchdacht, aber praktisch sinnvoll, weil uns nicht nur die Historie, sondern auch unser tagtägliches Leben immer wieder vorführen, wie aus bösen Worten böse Taten folgen, weswegen Verhetzung nach dem bürgerlichen Gesetzbuch ja auch bestraft wird, unter Umständen sogar empfindlich.
Was aber tatsächlich unter der „Sünde des Wortes“ zu verstehen ist, lässt sich so einfach nicht definieren. Wenn zum Beispiel in einem Roman eine Figur auftritt, die rassistische Reden hält, und wenn diese Figur auch noch die denkbar übelsten Worte verwendet, wird in einem freien Land wohl kein Gericht den Autor dafür verurteilen. Wenn allerdings derselbe Autor bei einer politischen Versammlung wortwörtlich die gleiche Rede hält, bekommt er wahrscheinlich Schwierigkeiten. Und was wird daraus, wenn sich der Autor in der Öffentlichkeit zwar zurückhält, aber seinen Lesern doch klar ist, dass er die Meinungen seiner Figur teilt? Also wenn er Verhetzung mithilfe eines Romans betreibt? Und wie soll das festgestellt werden? Oder umgekehrt – kann sich einer, der wegen Verhetzung vor Gericht steht, weil er vor einer überschaubaren Gruppe von Menschen womöglich auch noch in plumpen Phrasen seine Bösartigkeiten abgesondert hat, nicht mit Recht beschweren, wenn ein Schriftsteller, der eine seiner Figuren zu einem womöglich tausendmal größerem Publikum viel Schlimmeres, in viel verführerischen Worten reden lässt, das aber ungestraft? Oder was, wenn jemand eine Gefahr darin sieht, dass ein Roman, unabhängig davon, welche Meinungen der Autor vertritt, auf die Leser verhetzend wirkt, weil die darin auftretende böse Figur besonders gut gezeichnet wurde – wird dann eine Anzeige wegen Verhetzung vielleicht doch eine Chance haben? Wenn aber ja, sollte man Autoren dann raten, böse Figuren nicht ganz so überzeugend, also von einem literarischen Standpunkt aus betrachtet, weniger gut zu zeichnen? Dass also Shakespeare wegen seines Richard III. oder wegen seines Jago oder seines Edmund oder seines Macbeth auch heute noch eventuell verurteilt würde? Oder was ist mit der Satire? Jonathan Swifts Bescheidener Vorschlag im Sinne von Nationalökonomen, wie Kinder armer Leute zum Wohle des Staates am Besten benutzt werden können ist ein leidenschaftlicher Apell, die Unbarmherzigkeit einer Gesellschaft nicht zu dulden, gekleidet allerdings in die Form einer unbarmherzigen, bürokratisch-sachlichen Analyse, die zum Schluss kommt, der Bettelei könne am besten begegnet werden, indem man die Kinder armer Leute den Reichen zum Verzehr anbietet. An keiner Stelle des Textes wird darauf hingewiesen, dass es der Autor nicht ernst meint, dass es sich also um eine Satire handelt. Was, wenn jemand, der diese Art von Spaß nicht versteht, und solche Menschen gibt es, dar-aus eine grausige praktische Konsequenz zieht? Oder: Jemanden zum Selbstmord anzustiften, ist zwar nicht strafbar, moralisch aber doch bedenklich – ist Goethe wegen des Verfassens seines Werther verfemt worden? Immerhin hat das Buch eine Selbstmordserie ausgelöst.
Im Unterschied zur bösen Tat ist das böse Wort nicht so leicht zu identifizieren.

3

Allerdings: Bereits die Gedanken als Sünde zu bezeichnen, muss einen aufgeklärten, sein Leben mündig selbst bestimmenden Menschen doch ärgerlich verwundern.
Wir alle wissen, aus bösen Gedanken folgen bei einer halbwegs gesitteten Erziehung nur selten böse Worte und noch seltener böse Taten. Und wir wissen weiters, dass unsere Vernunft unsere Gedanken selten lenkt. Denken gleicht einem Strom, und der fließt in jedem Augenblick durch uns hindurch, die wenigsten Gedanken sind sprachlich ausformuliert; wir können nicht einmal genau sagen, wie wir denken; die einen meinen, wir denken in Bildern, die anderen behaupten, Sprache und Denken sind aneinander gekoppelt. In seinem 17. Aphorismus in Jenseits von Gut und Böse schreibt Nietzsche:

... ein Gedanke kommt, wenn „er“ will, und nicht, wenn „ich“ will; so dass es eine Fälschung des Tatbestandes ist, zu sagen: das Subjekt „ich“ ist die Bedingung des Prädikats „denke“. Es denkt: aber dass dies „es“ gerade jenes alte berühmte „Ich“ sei, ist, milde geredet, nur eine Annahme, eine Behauptung, vor allem keine „unmittelbare Gewissheit“.

Ein mit mir befreundeter Psychiater hat mir von einem Patienten erzählt, den er vor vielen Jahren behandelt hatte. Der Mann litt unter dem Tourette-Syndrom, und er litt wirklich darunter; so sehr litt er, dass er sich kaum mehr traute, das Haus zu verlassen. Der Mann war rechtschaffen, freundlich, entgegenkommend, sogar schüchtern, er war gebildet und hatte eine gute Erziehung genossen, und lange hatte er ein ganz normales Leben geführt – und dann war es auf einmal da, es: Wenn er unter Menschen war, besonders wenn er den Eindruck hatte, er werde beobachtet, konnte es vorkommen, dass eine Schimpftirade aus ihm herausbrach, so heftig, dass alle, die um ihn herum waren, vor Entsetzen erstarrten, vor allem, weil er die schmutzigsten, versautesten, niederträchtigsten Worte gebrauchte. Als ihn mein Freund fragte, ob er sich bei seinen Anfällen all dieser Worte überhaupt bewusst gewesen sei, antwortete ihm der Mann, natürlich sei er sich der Worte bewusst, und er stellte meinem Freund gleich die Gegenfrage: Ob er denn mit absoluter Gewissheit behaupten könne, dass solche Worte in seinen Gedanken noch nie aufgetaucht seien. Da musste ihm mein Freund zugeben, dass auch er nicht frei von solchen Gedanken und auch solchen Ausdrücken sei. Und der Patient belehrte den Arzt: Der Unterschied zwischen ihnen liege nur darin, dass er, der Arzt, es zu verhindern wisse, dass sich diese Gedanken zu Worten formen, die dann auch ausgesprochen werden, und dass er, der Patient, das eben nicht könne. Ihre Gedanken aber, ihre nicht ausgesprochenen Worte würden sich nicht oder nur wenig von einander unterscheiden. Die Krankheit bestehe darin, dass die Worte über die Lippen kommen.
Wenn der Mensch schon wegen seiner bösen Gedanken verurteilt würde, wäre – anders als Martin Luther glaubte – der Himmel leer und die Hölle voll. Vielleicht hat Augustinus, als er die menschenfeindliche Gnadenlehre seiner späten Jahre formulierte, in der er uns darüber unterrichtet, dass die allermeisten verdammt sind, daran gedacht, dass eben die allermeisten im Lauf ihres Lebens verdammenswürdige Gedanken haben, gehabt haben und weiter haben werden, so dass die Seele der allermeisten nie und nimmer rein sein wird und es folglich von Anfang an einer besonderen Gnade bedurfte, wenn einem ein Leben lang kein böser Gedanke kommt.
Hamlet (in der Übersetzung von August Wilhelm von Schlegel) spricht es aus, wenn er Ophelia zurechtweist:

Ich bin selbst leidlich tugendhaft, dennoch könnte ich mich solcher Dinge anklagen, daß es besser wäre, meine Mutter hätte mich nicht geboren. Ich bin sehr stolz, rachsüchtig, ehrgeizig; mir stehn mehr Vergehungen zu Dienst, als ich Gedanken habe, sie zu hegen, Einbildungskraft, ihnen Gestalt zu geben, oder Zeit, sie auszuführen. Wozu sollen solche Gesellen wie ich zwischen Himmel und Erde herumkriechen? Wir sind ausgemachte Schurken, alle: trau keinem von uns! Geh deines Wegs zum Kloster!

Was sind die Dinge, derer Hamlet sich anklagen könnte, anderes als Gedanken? Die Gedanken bieten ihm sogar mehr Vergehen an, als sie selbst fassen können. Wir brauchen keine Bestätigung von einem Psychologen, um zu wissen, dass wir uns manchmal erst beruhigen können und zu klaren, das heißt, zivilisierten Gedanken fähig sind, wenn wir uns zuvor – in Gedanken – abreagiert haben; und nicht selten sind diese „Abreaktionen“ von einer Grausamkeit, die uns, würden sie laut ausgesprochen, in die Psychiatrie, in Handlungen umgesetzt, lebenslang ins Gefängnis bringen würden.
„Die Gedanken sind frei!“ ist mehr als ein politischer Slogan; die Gedanken sind gemäß ihrer Natur frei, sie sind der einzige von der Natur uns zugestandene Ort der Freiheit, alle anderen Orte müssen wir uns erobern. Wer die Idee der Sünde auf unsere Gedanken ausdehnen möchte, will Zugriff auf diesen Ort; er ist ein Okkupant, und zwar der gefährlichste Okkupant, der sich denken lässt. Manès Sperber schreibt in seinem berühmten Essay über den Tyrannen, selbst wenn seine Untertanen vor ihm im Staub liegen und sein Lob singen und seine Worte und seine Taten bejubeln, nie wird er sich sicher sein können, ob sie ebenso denken, immer wird ihn die bange Frage quälen: Was geht in ihren Köpfen vor? Und manchmal lässt er die Köpfe aufschlagen, um nachzusehen. Aber dort findet er nichts.
Wenn der Marquis von Posa in Schillers Don Karlos sein berühmtes „Geben Sie Gedankenfreiheit!“ ausstößt, folgt im Text, getrennt nur durch einen Bindestrich, noch in derselben Zeile die Regieanweisung Sich ihm zu Füßen werfend. – Was soll man davon halten? Wirft sich einer dem Tyrannen zu Füßen und bittet: „Darf ich denken, was ich will.“ Hat man je einen jämmerlicheren Lakaien gesehen? Schillers Leidenschaft für die Freiheit war mir nie geheuer. Ich hatte immer den Verdacht, er meint mit Freiheit des Denkens eben nicht die Freiheit, dass jeder denken darf, was er will, auch einen hanebüchenen Blödsinn, sondern nur das, was vernünftig ist – also denken wie Friedrich Schiller. Gegen sein Freiheitsdrama ist unser bürgerliches Gesetzbuch ein Bollwerk an Liberalität. Darin wird die Freiheit der Gedanken nicht einmal erwähnt, sie wird als selbstverständlich vorausgesetzt.

4

Kehren wir zu unseren beiden Märchen zurück. – Wir müssen uns also von der Handlung lösen, aber auch von dem Motiv, das die jeweilige Handlung in Gang setzte, wollen wir die Moral aus unseren Überlegungen heraushalten und Gut und Böse als allein ästhetische Kategorien sehen. Nur: Was bleibt dann noch übrig, worüber sich die eine Geschichte mit der anderen vergleichen ließe?
Je ein Bild. Eine Chiffre.
In Das Mädchen ohne Hände sind es die silbernen Handprothesen, in Marienkind ist es der goldene Finger, der das Mädchen verrät, nachdem sie die verbotene dreizehnte Tür geöffnet hat. Dabei stellen wir etwas Verblüffendes fest: Weder die silbernen Hände noch der goldene Finger sind für die Handlung notwendig. Beides sind Bilder, die wie in einem Traum vor uns stehen, man möchte sagen, nackt, in einem Zustand vor den Worten, ja, in einem Zustand vor den Gedanken, bevor die Koordinaten Gut und Böse aufgespannt wurden, in einem Zustand vor der Moral.
In vielen Märchen und auch in Mythen begegnen wir solchen Bildern, die sich zwar mehr oder weniger in die Handlung einfügen, die aber weder für die Handlung noch zur Charakterisierung einer Person notwendig sind. Jeder kennt das Märchen von den Bremer Stadtmusikanten. Wenn ich Sie frage, welches Bild fällt Ihnen spontan dazu ein, werden Sie antworten: die Tiere, die übereinander stehen. Vielleicht ist es schon lange her, seit Ihnen das Märchen erzählt wurde, oder seit Sie es gelesen haben. Wissen Sie noch, um was für Tiere es sich handelt? Und wissen Sie noch, warum die Tiere übereinander stehen? Ich habe in der Vorbereitung zu diesem Beitrag in meinem Bekanntenkreis herumtelefoniert. Alle haben beim Stichwort Bremer Stadtmusikanten die übereinander gestapelten Tiere assoziiert. Keiner wusste genau zu sagen, um welche Tiere es sich handelt, und keiner, warum der Hund auf den Esel, die Katze auf den Hund und der Hahn auf die Katze steigt. Sie tun es übrigens, um die Räuber zu erschrecken, die nachts im Wald in einem Haus sitzen. Es hätte viele andere Möglichkeiten gegeben, sie zu erschrecken, sich übereinander zu stellen, ist sicher die ausgefallenste. Ich vermute, das Bild hatte ursprünglich mit der Geschichte gar nichts zu tun.
Oder denken wir an den Kyklopen Polyphem in der Odyssee des Homer. Er ist eine märchenhafte Figur, er tritt in einer der Geschichten auf, die Odysseus am Hof der Phäaken erzählt. Polyphem hat nur ein Auge, das kennzeichnet ihn. Aber dass er nur ein Auge hat, spielt für die Handlung nicht die geringste Rolle, Odysseus hätte ihm gewiss auch zwei Augen ausgestochen. Wieder vermute ich, das Bild des einäugigen Riesen war da, längst bevor darum herum eine Handlung, eine Geschichte gewoben wurde. Auch in dem Märchen Einäuglein, Zweiäuglein, Dreiäuglein hat die Anzahl der Augen auf die Handlung keinen Einfluss, die drei Schwestern könnten ebenso vier oder fünf Augen haben oder nur je zwei wie wir.
In unseren beiden Märchen, Das Mädchen ohne Hände und Marienkind, haben wir es mit aus ihrer Art und ihrer Funktion geratenen Gliedmaßen zu tun, einmal mit silbernen Händen, einmal mit einem goldenen Finger. Trotz der edlen Materialien haben die Bilder etwas Bedrohliches an sich. Hände und Finger sind zwar veredelt, Silber und Gold sind mehr wert als Sehnen, Fleisch und Knochen, aber als Hände und als Finger sind sie nun unbrauchbar. In dem Bild von den silbernen Händen und dem Bild von dem goldenen Finger wird ein Eingriff in unsere Souveränität dokumentiert, ein Eingriff allerdings, der von einer transzendenten Welt aus vorgenommen wurde. Ob diese transzendente Welt der Himmel oder die Hölle ist, davon kündet das Bild nicht. Auch ob es gut oder schlecht ist, dass von außen auf jemanden von uns zugegriffen wurde, sagt uns das Bild nicht. Auch nicht, ob es vielleicht gar eine Bevorzugung ist, wenn ein Glied zwar unbrauchbar gemacht, aber veredelt worden ist. Das Bild sagt uns gar nichts. Es zeigt. Es ist. Und alles darüber hinaus ist Kommentar – unser Kommentar.
Wir sehen: Eine Veredelung von Gliedmaßen hat stattgefunden auf Kosten ihrer Brauchbarkeit. Und wir sehen auch, es gelingt uns nicht oder nur mit größter Mühe, dieses Bild nicht zu kommentieren; schon seine bloße Beschreibung läuft Gefahr, von Wort zu Wort in einen Kommentar hinüberzugleiten. Worte bewerten; und das muss mit Moral noch längst nichts zu tun haben. Worte schaffen ein Netz, eines verweist auf viele andere, und was darin eingespannt ist, nimmt an der Bedeutung teil und wird zu einem Teil dessen, was wir Sinn nennen.
Geschichten sind aus Worten gebaut. In der Geschichte vom Mädchen ohne Hände wurde der Eingriff in unsere Welt von der Hölle aus vorgenommen, in Marienkind vom Himmel. Die Silberhände und der Goldfinger sind Spuren, die ein Wesen aus einer anderen Welt hinterlassen hat, einmal kam es aus der Hölle, einmal aus dem Himmel; die Geschichten dazu haben sie nicht geliefert, die haben wir uns ausgedacht, mit Hilfe unseres Verstandes. Und nie sind wir uns sicher, verwenden wir die beiden Worte Himmel und Hölle als Metaphern, sind Hölle und Himmel poetische Begriffe oder doch knallhart theologische – wir neigen heute zu Ersterem.
Schon dass wir die Silberhände dem Satan, den Goldfinger aber der Madonna zuordnen, ist eine Interpretation; Hände und Finger ließen sich gegeneinander austauschen. Die Bilder, die Chiffren, stehen nackt und rein vor uns – und: Sie sind unerträglich. Das Unerträgliche besteht darin, dass sie schweigen. Rohware sind sie, die noch keine Bedeutung haben – mag sich der denken, der sich eine Welt ohne Bedeutung nicht vorstellen kann. Wir bringen die Bilder zum Sprechen, indem wir eine Geschichte um sie herum spinnen, und oft drängen wir sie dadurch ins Nebenbei. Silberhände und Goldfinger als pure Chiffren unterscheiden sich voneinander nur wenig; eingebaut in ihre Geschichten werden sie einmal Bestandteil des Plots des Teufels, einmal des Plots der Madonna.

5

Nachdem Jacob und Wilhelm Grimm die erste Fassung der Kinder- und Hausmärchen herausgegeben hatten, meinte Clemens Brentano, der ehemalige Freund der Brüder, darüber urteilen zu müssen – und in seinem Urteil kommt alle Verachtung zum Ausdruck, die er in Wahrheit für diese Gattung empfand:

Ich finde die Erzählung äußerst liederlich und versudelt und in manchem dadurch sehr langweilig. (...) Will man ein Kinderkleid zeigen, so kann man es mit aller Treue, (...) an dem alle Knöpfe heruntergerissen, das mit Dreck beschmiert ist, und wo das Hemd den Hosen heraushängt. (...) dergleichen Treue, wie hier in den Kindermärchen macht sich sehr lumpig.

Abgesehen davon, dass ich den Brentano nicht leiden kann und für einen weniger als mittelmäßigen Dichter halte, der, wenn er dem Wilhelm Grimm auf der Schulter säße, ihm nicht bis zum Kinn reichte; abgesehen davon, kann man doch nur den Kopf schütteln, wie jemand, der sich in der Sammlung Des Knaben
Wunderhorn, die er zusammen mit Achim von Arnim herausgegeben hat, so intensiv nicht nur mit Volksliedern, sondern auch mit Märchen auseinandergesetzt hat, wie so einer nicht den geringsten Tau davon hat, was das Wesen dieser Gattung ausmacht. Es verwundert deshalb auch nicht, dass er einer der Ersten war, die ein Thema aufbrachten, das dann später, vor allem ab den Sechzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts, immer wieder wie eine Standarte in den Diskussionen aufgestellt wurde, nämlich: die Gewalt in den Märchen.
Mein Leben lang habe ich mich mit Märchen beschäftigt, und immer wieder habe ich sie gegen den Vorwurf verteidigen müssen, sie seien grausam, sie seien oft amoralisch, sie erschrecken die Kinder, pflanzen ihnen Alpträume in den Kopf, lassen sie schlecht schlafen, verderben sie. Irgendwann habe ich festgestellt, dass meine Verteidigung nichts anderes ist als die Spiegelverkehrung der Vorwürfe. Dass es in manchen Märchen nahezu kataklysmische Gewaltszenen gibt, das lässt sich nicht leugnen, und diese schön zu reden, hieße, sich argumentativ auf die Angreifer einzustellen und ihre Vorwürfe anzuerkennen. Märchen kann man nicht verteidigen; reine, von allem anderen abgelöste Schönheit benötigt keinen Anwalt, und kein Anwalt könnte sie verteidigen.
Am Phänomen der Gewalt im Märchen lässt sich veranschaulichen, was ich anfangs meinte, als ich vorschlug, Gut und Böse als ästhetische und nicht als moralische Kategorien zu fassen. Wir alle kennen das Märchen vom Rumpelstilzchen, und die meisten von Ihnen werden sich an den Schluss erinnern, als der böse Zwerg – der übrigens auch das Kind der Königin / Müllerstochter mit sich nehmen will – sein Spiel verliert und vor Zorn erst mit dem einen Bein so fest aufstampft, dass er bis zum Knie im Boden versinkt, sich dann am anderen Bein packt und sich selbst in der Mitte auseinanderreißt. Ich habe diese Geschichte oft meinen Kindern vorgelesen und auch nacherzählt und habe sie auch vor Erwachsenen erzählt, und immer war am Ende ein erleichtertes, heiteres Lachen gewesen und auch eine durchaus moralische Befriedigung, weil es dem ordentlich gegeben worden ist, der den Frauen die Kinder wegnehmen will.
Rumpelstilzchen ist ein Musterbeispiel für die Ästhetisierung von Gut und Böse. Moralisch gesehen berichtet das Märchen nur Schlechtes. Ein Müller – ja, es sind immer die Müller! – prahlt, seine Tochter könne Stroh zu Gold spinnen; der König hört es und will den Beweis, sprich: das Gold; anstatt dass die Tochter den Unsinn aufklärt, lässt sie sich darauf ein, weil ihr der König verspricht, sie zu heiraten, wenn ihr das Unmögliche gelingt; in der Nacht kommt ein Männlein und schlägt ihr einen Tausch vor – wieder das Motiv des Tausches! –, es spinnt das Stroh zu Gold, wenn sie ihm dafür ihr erstgeborenes Kind gibt; sie ist einverstanden. Der Handel verstößt zweifellos gegen die guten Sitten, aber betrügerisch wie der Handel in unseren beiden Märchen, Das Mädchen ohne Hände und Marienkind, ist er nicht. Die Betrügerin ist hier die Müllerstochter/Königin, sie hält sich nicht an die Regeln des Tauschs, sie entdeckt den Namen des Zwergs, und der geht leer aus. – Lauter miese Sachen. Und am Ende dann noch ein Blutbad wie aus einem Splattermovie, und zwar aus einem ganz schlimmen.
Und das für Kinder? – Haben also Brentano und die Kinderpsychologen seit den Sechzigerjahren, die Pädagogen und Soziologen, die Helikoptereltern und die Überkorrekten, die Lehrplanersteller und sanften Theologen recht? Sollen die Märchen ent-brutalisiert oder überhaupt aus den Kinderzimmern verbannt werden? Dass kritisch in der Geschichte darauf hingewiesen werden soll, auch das böse Männchen ist betrogen worden? Dass sich das böse Männchen am Ende, anstatt sich selbst in Fetzen zu reißen, mit einem bedauernden Schulterzucken verabschiedet? – Kann man machen. Aber man soll dann nicht mehr von Märchen sprechen.q32

6

Die Welt des Märchens, übertragen auf die Wirklichkeit, zeigt in der Tat oftmals ein Schlachtfeld, von dem man die Augen abwenden möchte, dessen Anblick wir auf jeden Fall einem Kind ersparen sollten. Aber Märchen und Wirklichkeit sind nicht in eins zu setzen; im Märchen begegnet uns die Wirklichkeit in einem noch larvenhaften Zustand; der Träumer mag die Relevanz anders gewichten und sagen, die Wirklichkeit sei die Maske des Märchens; die Surrealisten haben nach dieser Wertung ihre Ästhetik ausgerichtet: das Primat des Traums.
Was wir Wirklichkeit nennen, ist für den einzelnen Menschen wie für die Menschheit ohne moralische Richtlinien nicht zu überstehen, und die Moral teilt nun einmal Handlungen in Gut und Böse ein. Die Entdeckung der Moral diente dem Überleben, dem Überleben des Einzelnen, dem Überleben der Gattung. Im Märchen gelten aber andere Lebens- und Überlebensgesetze. Das Märchen wird vom Zauber gesteuert und nicht von der Vernunft und auch nur bedingt von den Gefühlen. Darum geschehen im Märchen Dinge, die nicht begründet sind, die sich nicht in die zwingende Kette der Kausalität eingliedern lassen. In einem der kürzesten Geschichten der Grimmschen Sammlung, betitelt mit Herr Korbes, tun sich die Dinge mit den Tieren zusammen, um gezielt und strategisch ausgeklügelt einen Menschen erst zu quälen und endlich zu töten, und sie tun es fröhlich singend. Und wir wissen nicht warum. Es ist böse, was sie tun, und dennoch ist, was sie tun, mit moralischen Kategorien weder zu erklären noch zu verurteilen.
In der letzten Fassung der Kinder- und Hausmärchen hielt Wilhelm Grimm diese Ungeheuerlichkeit nicht mehr aus, und er fügte dem Märchen einen Satz hinzu: „Der Herr Korbes muss ein böser Mann gewesen sein.“ Damit waren Kausalität und Moral wieder hergestellt.

Die viel zitierte „Moral aus der Geschicht“, wenn sie denn am Ende eines Märchens auftaucht, ist immer angeklebt – nämlich, weil man sich nicht damit abfinden konnte, dass uns Märchen keine Botschaft senden, dass sie vielleicht allein schön sind und keine Bedeutung haben; dass sie sich zwar als Gleichnisse verwenden lassen, aber nur, wenn man ihnen Gewalt antut – als Gleichnisse, mit deren Hilfe vor allem Kindern etwas eingebeult werden soll. In den meisten Fällen haben sich die Brüder Grimm diesen Moralaufkleber verboten, beim Herr Korbes machten sie eine Ausnahme. Die Geschichte vom Marienkind ist ihnen wohl als eine bereits „moralische Geschichte“ zugetragen worden, weshalb ich vermute, wir haben es bei diesem Märchen nicht eigentlich mit einem solchen zu tun, sondern mit dem Endprodukt einer Umwandlung in ein Gleichnis im Interesse einer vermeintlich christlichen Ethik – „wenn du bereust, wird dir vergeben“. Es ist höchst interessant, dem Kern dieses Märchens nachzuforschen und die verschiedenen Varianten zu rekonstruieren.
Die Literaturwissenschaftler, Volkskundler und Erzählforscher Johannes Bolte und Georg Polívka haben in ihrem monumentalen, fünf dicke, engst beschriebene Bände umfassenden Kommentarwerk zu den Märchen der Brüder Grimm jeder einzelnen Geschichte nachgeforscht und ihr Rhizom ausgegraben. Gleich zu Beginn ihres Kommentars weisen sie auf eine zeitgleich mit dem Marienkind in Deutschland erzählte Version, in der statt der Muttergottes eine schwarz gekleidete Jungfrau auftritt, die das Mädchen nicht in den Himmel, sondern in ein schwarzes Schloss führt. Hinter der verbotenen dreizehnten Tür sitzen anstatt der heiligen Dreifaltigkeit vier schwarze Jungfrauen, in „Bücher-lesen vertieft“, wie es heißt. Als Strafe muss das Mädchen „etwas verlieren“, und es entscheidet sich für die Sprache. Von nun an kann sie nicht mehr sprechen. Sie heiratet einen König, bringt ein Kind zur Welt, die böse Schwiegermutter ertränkt das Kind und bespritzt die Wiege mit Blut; auch hier wird die Königin verdächtigt, ihr eigenes Kind aufgefressen zu haben. Schließlich kommt die Sache auf, und die Schwiegermutter wird zusammen mit giftigen Schlangen in ein Fass gesperrt. In einer flämisch-französischen Variante wird von einer „grünen Jungfrau“ erzählt; bei Giambattista Basile nimmt die Rolle der Madonna eine grüne Eidechse ein, die Handlung ist ähnlich; in einem tschechischen Märchen sitzt hinter der dreizehnten Tür ein nickendes Gerippe, und das Märchen verliert vor Schreck die Sprache. Es gibt eine Version, in der nimmt die Rolle der Madonna ein Wesen halb Frau halb Fisch ein; in einer anderen wiederum hängt im dreizehnten Zimmer ein Kruzifix, und Christus spricht vom Kreuz herab, das Mädchen dürfe unter gar keinen Umständen verraten, dass es hinter diese Tür geschaut habe. Die Reihe ließe sich noch lange fortsetzen. In den meisten Fassungen, nicht in allen, aber doch in den meisten, berührt das Mädchen mit dem Finger, was sich hinter der dreizehnten Tür befindet, und der Finger wird vergoldet. Und in keiner Variante wird auf den goldenen Finger weiter eingegangen, er wird nicht einmal mehr erwähnt.
Wilhelm Grimm hatte von allem Anfang an ihre Sammlung als für Kinder geeignet erachtet und sie deshalb auch Kinder- und Hausmärchen genannt. Er wusste, die Bilder, die in Märchen wie aus einem Nebeltal aufsteigen, haben mit unserer wachen Wirklichkeit nichts gemein, und die grausamsten Dinge, die sich aus diesen Bildern heraus erzählen lassen, verweisen nicht auf diese wache Wirklichkeit, sondern auf Traumbilder, die der Schläfer nicht deutet und an denen er nichts moralisch Verwerfliches findet, eben weil sie noch nicht gedeutet wurden.
Die Traumwelt und die Märchenwelt sind Zauberwelten, und in einer Zauberwelt ist es nicht so schlimm, wenn einer seinem eigenen Bruder den Kopf abschneidet wie in dem Märchen Die zwei Brüder, denn schon läuft der Hase los und besorgt ein Kraut, das bewirkt, dass der Kopf wieder anwächst. Die abgehackte Ferse der Schwester von Aschenputtel ist Teil eines missglückten Glückszaubers, von Blut wird zwar erzählt, nicht aber vom Schmerz; und wenn sich die Schwester in Die sieben Raben einen Finger abhackt und ihn als Schlüssel zum Glasberg gebraucht, in dem ihre verzauberten Brüder leben, dann gibt es wieder keinen Schmerz, dann fließt nicht einmal Blut, dann ist mit einem Satz alles gesagt:

Das gute Schwesterchen nahm ein Messer, schnitt sich ein kleines Fingerchen ab, steckte es in das Tor und schloss glücklich auf.

7

Woher aber kommen diese stummen Bilder? Wie haben sich diese Chiffren gebildet? Und wie haben sie es geschafft, sich über so lange Zeit in den Geschichten zu halten, wo sie doch zur Handlung und zur Personencharakterisierung nichts oder nur wenig beitragen? Oft sind sie Nebensächlichkeiten. Oder sie tarnen sich als solche. Oder sie sind zu Nebensächlichkeiten erzählt worden.
Goldfinger und Silberarme sind Bilder, und sie bereiten uns Unbehagen, weil uns die Deutung nicht zufriedenstellt; wir beziehen das Bild auf die Geschichte und sehen oder spüren doch, dass es in der Handlung und den handelnden Personen keinen Niederschlag findet. Wir übersetzen das Bild in Worte, und wissen dann doch nicht mehr, aus welchem Bild das Wort entstand. Und dennoch ist das Bild da – es ist da als Nukleus, sein Rätsel überstrahlt das Märchen, färbt es ein, gibt ihm seinen spezifischen Klang. Märchen sind die Primzahlen der Literatur, und das Rätsel dieser letzten, einfachsten Form ist ein Bild.
Sigmund Freud fand solche Bilder an seiner Via regia, als wären es Wegmarken am Königsweg ins Unbewusste, hinunter zu den Träumen. Tatsächlich wurden Märchen und Träume als Geschwister gesehen – es gibt Analysen des Märchens Brüderchen und Schwesterchen, in denen das Mädchen zur Traummetapher, der Bub zur Märchenmetapher erklärt wird. Freud hat darauf hingewiesen, dass die Traumsymbolik keine Erfindung der Psychoanalyse sei, sondern sich in Märchen und Mythen finden lässt. Aber auch er hat die stummen Schönheiten zu gering geschätzt, er hat sie über die Deutung rationalisiert und ihnen dadurch Bedeutung gegeben. C. G. Jung war behutsamer, er war sich bewusst, dass etwas, das nichts bedeutet, doch Bedeutung haben kann; er hat … – Aber das würde für heute zu weit führen.

 

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