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Berge bilden den Horizont

Streit gab’s und gibt’s um die Schweizer Monte-Rosa-Hütte, die Schwarzensteinhütte im Südtiroler Ahrntal oder den Laurin-Kristall am Rosengarten. Bauen in den Bergen erregt und fasziniert seit Langem. Aus gegebenem Anlass: Überlegungen zum Bauen in den Alpen. Von Florian Aicher

Die Fachwelt debattiert über Regionalismus oder Ortsbindung, die breite Öffentlichkeit über die Fragen: Passt das Neue in die Gegend? Kann so gefragt werden? Was sind Gegend, Umfeld, Umstände? Was bedeuten sie für geplante, in sich schlüssige Gebilde? Und wenn: Was sind Kriterien, um zu beurteilen, was passt und was nicht?
Seit über Architektur nachgedacht wird, seit Vitruvs Trias Utilitas, Firmitas, Venustas, ist sie Syntheseleistung; daraus folgend wird sie die gesellschaftlichste aller Künste genannt, verpflichtet menschlichem Leben. Dies machen Menschen unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen, wie Marx feststellt. Für Heidegger ist der Mensch immer schon bei den Dingen; im zugreifenden Umgang begegnet Umwelt alltäglich. Wirksame Umstände sind demnach unbestreitbar. Nicht ob, sondern wie steht infrage.
Was wirkt an Umständen, Gegend? Natur heißt es, Kulturlandschaft, Ort; die Spannweite reicht vom schwer fassbaren genius loci bis zu Baufibeln mit peniblen Angaben zur Bauweise. Unsere Zeit sucht Objektivität, verwirft das Subjektive, gar Sentimentale. Doch Präzision wird mit Schematismus erkauft, feind allen lebendigen Bauens. Wenn „Objektivität“ nicht weiterhilft, bleibt dann das Subjekt mit seinem Empfinden, Spüren, Gefühl? Wäre, mit einem Wort Goethes, Bildung des Gefühls gefragt?

Annäherung

„Draußen das weite bayerische Land mit Kuppelwolken am unbewegten Himmel, eine Fliege summte in der Stube, die Bauerntochter klapperte mit dem kräftigen Geschirr. Ein höchst heiteres Kreisen ging fühlbar zwischen Drinnen und Draußen, Schein und Tiefe, Kraft und Oberfläche. ,Hören Sie‘, sagte da mein Freund, ,wie gut das Haus in Gang ist.‘ Und man hörte die Ruhe, das richtig Eingehängte, wie es läuft, die wohlbekannte Kameradschaft mit den Dingen, die jeder Gesunde fühlt, die Lebensluft um sie her und die taohafte Welt. So nahe und fast aus dem gelebten Augenblick heraus, so selber darin zuhause genossen wir das ,Land‘ …“
Wer würde sich heute so reden trauen? Kriegen wir da nicht heiße Ohren? Geschrieben hat das 1930 Ernst Bloch, kaum reaktionärer Heimattümelei verdächtig, setzt er sich doch schon damals den Kräften zur Wehr, die ihn 3 Jahre später ins Exil treiben – und doch beschließt das Wort Heimat sein philosophisches Hauptwerk.
Berge bilden den Horizont dieser taohaften bayerischen Welt. Gebautes kommt vor als Haus am Land. Bauen in den Bergen meint Bauen am Land, in der Natur – nicht das Bauwesen alpiner Städte.

Auf geht’s! Aus der Ebene des Voralpenlandes kommend „betreten“ wir Täler, die Erde rückt näher, ein Gefühl der Geborgenheit stellt sich ein, das in eines der Enge umschlagen kann. Unterschiedliche Besiedlung kommt in den Blick, Nachbarschaften rücken näher. Johann von Dillis malt 1825 ein Arkadien am Tegernsee, belebt vom Vordergrund bis zum Horizont. Ein Zug liegt in der Gegend – weiter, hinein und höher, hinauf. Bereichern, so fragt der bauende und lehrende Architekt Friedrich Kurrent, die Berge unsere plastischen Sinne? Für Adolf Loos steht fest: Gebirge verlangt andere Baugliederung als Ebene.
Droben ist alles anders, Heimeliges dahin. Wer je eine klare Nacht am Gipfel verbracht hat, kennt den erhabenen Schauer, wenn die Täler im Dunkel versinken, der Horizont sich ins Endlose weitet, das Himmelszelt ins Unermessliche sich dehnt. Klein wird man, auf sich geworfen, sehr deutlich. Wundert’s, dass Nietzsches Zarathustra Bergsteiger, Gipfelstürmer ist?

Entdeckung

Natur der Berge? Blochs Text nennt Naturphänomene, doch sind die eingebunden in Alltagsgeschehen, Gebrauchsdinge – Kulturphänomene. Berge lehren, dass ihre Natur kulturell vermittelt ist. Was wir heute wahrnehmen, verdanken wir der Zeit, als Dillis am Tegernsee malte, der Romantik. Die Erregung des Gemüts durch das Erhabene fasziniert; das Ich tritt, mit einem Wort Adornos, aus der Gefangenschaft in sich selbst heraus. Wörtlich genommen: Eine Sucht des Reisens greift um sich; für unerreichbar gehaltene Regionen – etwa zahlreiche Alpengipfel – werden erschlossen und genauestens erforscht. Was wir heute über den Wandel der Gletscher wissen, verdanken wir Aufnahmen dieser Zeit.
In der wilden, unberührten Natur erlebt das 19. Jahrhundert den Kontrast zur verbrauchten Industrielandschaft; im Tagwerk des Bergbauern den zur Plackerei des Proletariers und der Raserei des Profits; im autochthonen Bauen den zur verbildeten Stilarchitektur.
Paradox: Die umwerfende technische Neuerung Eisenbahn befeuert diese Begegnung, hebt Naturerschließung auf eine neue Stufe. Um die Auslastung der ersten Gebirgsbahn, die Semmeringbahn (ab 1854) von Wien aus, zu verbessern, bereichert die Bahn selbst die Strecke mit alpinen Grand-Hotels; ebenso verfährt man bei der Pustertalbahn in Südtirol. Architekt der frühen Hotels war Wilhelm von Flattich, Hochbaudirektor einer der größten Bahnlinien Europas.

Zweck und Form

Beispiel Grand Hotel Toblach im Pustertal 1877. Die Anlage der freistehenden Bauten lassen an eine Maiensäss denken mit individueller Variation gemeinsamer Merkmale. Das Erdgeschoss gemauert aus örtlichem Naturstein; über geputztem Gesims Ziegel-Sichtmauerwerk der Hauptgeschosse, gefasst durch flachrustizierte Ecklisenen; dann das aufgesetzte Dachgeschoss – flach geneigtes Fafendach – als sichtbare Holzkonstruktion mit angedeuteten Balkenköpfen, Zierschalung, verzierte Pfettenbretter, Brettschnitzereien; schließlich vorgesetzte Balkone als verzierte Holzkonstruktion.
Das ist die Antwort auf Chalets im Schweizerstil, dominant auf Weltausstellungen. Tirol macht einen Unterschied, ist malerisch, doch zurückhaltend, geordnet. Diesem Muster folgt das Bauen der Bahn unter Verwendung lokaler Baustoffe. Der regionale Bezug wird vom Architekten entschieden verfolgt – ein frühes Beispiel gebauter Corporate Identity.
Technische Innovation steht nicht im Widerspruch zu Lokalkolorit, moderne Bauaufgaben nicht zu regionaler Identität. Heimatstil formuliert vielmehr Abscheu vor Vernutzung des Landes und geschmacklicher Entgleisung der Gründerzeit. Hausforschung dokumentiert alltägliches, noch vorwiegend bäuerliches Bauen und mündet in opulenten Bildbänden. Aus diesem Geist entstehen Regional-Architekturen wie Modenisme Catalan, finnische Nationalromantik, ungarischer „Jugendstil“, tschechischer Kubismus oder Amerikas Präriestil.
Es ist die Zeit von „Arts and Craft“ und William Morris, der nicht müde wird, den Zusammenhang zwischen entfremdeter Arbeit und kultureller Verwahrlosung zu betonen. Nur Erneuerung des Handwerks, bäuerliches eingeschlossen, verspricht Umkehr. Die sozial-ästhetische Komponente der Hinwendung zum Bauen auf dem Land wird deutlich. Dort findet man: das „richtig Eingehängte“, die „Kameradschaft mit den Dingen“, die „Lebensluft um sie her“, die zeigt, „wie gut das Haus in Gang ist“. Ein wesentlicher Impuls des kommenden Funktionalismus …
Der dem Heimatstil verbundene Wiener Publizist Johann A. Lux beobachtet um die Jahrhundertwende am Bauernhaus Natürlichkeit, höchste Zweckmäßigkeit, Einfachheit und von schlechter Dekoration freie Form. Jahre später schleudert Loos seinen Bann gegen das Ornament, nochmals später folgen seine Regeln für den, der in den Bergen baut. „Achte die formen, in denen der bauer baut. Denn sie sind der urväterweisheit geronnene substanz. Aber suche den grund der form auf … Veränderungen der alten bauweise sind nur erlaubt, wenn sie eine verbesserung bedeuten.“ (1913) Haus Khuner, an der Semmeringbahn gelegen, ist sein einziges Haus in den Bergen; dem Geist Flattichs ist es näher als dem Zeitgeist.

Alpenstil

1918 ist die Alte Welt dahin – neue Staaten entwachsen dem Habsburgerreich, das Zentrum wankt. Mit Innsbruck bekommt Österreich ein neues Zentrum der Architektur, Innbegriff alpiner Moderne, Gegenpol zum dynamischen Berlin – anziehend wie abstoßend. Bindung der Berge bekommt neue Qualität.
Verankerung im Gelände steht bei Clemens Holzmeister im Vordergrund: Das Hotel Drei Zinnen (1930), ein monolithischer, weiß geputzter Bau, bewältigt die enorme Dimension, indem der talseitige, dem Südtiroler Bauernhaus verpflichtete Giebel über einem Arkadengang eine differenzierte Erkerlandschaft entfaltet. Beim Wettbewerb für Hotel Seegrube nahe der Nordkettenbahn über Innsbruck (1927) sitzt das monolithische weiße Volumen auf einem sparsam differenzierten zweigeschossigen Natursteinsockel, wölbt sich kon-
vex zum Tal und ist mit einem Eckturm exzentrisch betont.
Dieser Wettbewerb wird zum Fanal der neuen Bauauffassung. Franz Baumann schlägt einen weißen Sockel vor, konvex zum Tal gebogen, der sich am höchsten Ende zu einem Turm aufschwingt. Auf dem Sockel erhebt sich, um die weite Terrasse zurückgesetzt, der dreigeschossige geschwungene Gästebau, bandartig befenstert und mit dunklem Holz verkleidet, bekrönt vom zum Tal ansteigend weit auskragenden Pultdach. Siegfried Mazaggs Idee ist eine asymmetrische Komposition geschichteter Baukörper, weiß geputzt, Fensterbänder, das oberste Geschoss als dunkle Holzkonstruktion mit Pultdach; exzentrisch kragt der Sockel halbrund übers Tal. Am dramatischsten die Massenentwicklung bei Lois Welzenbacher. Dem Berggrat folgend strebt ein konvex ausschwingender Baukörper einem sich emporschraubenden Zentrum zu. Gegenüberliegend läuft die vorgelagerte Terrasse in einem seitlichen Bergvorsprung aus. Das Hauptgebäude ist dunkel mit Fensterbändern und weit auskragendem Pultdach, aufsteigend zum Tal. Dem Zentrum mit Turm und technischen Aufbauten ist tiefer die Einhausung für die talseitige Seilbahn vorgelegt, die sich rückwärtig mit Richtungswechsel fortsetzt.

Ausschwingende Baukörper, helle, massive Sockel, darüber dunkle Holzbauten, vorspringendes Pultdach, oft exponierte Konstruktion beherrschen nun das Bild. Oft findet ein exzentrisch vorstoßender Sockel in einem turmartigen Bauteil sein Gegengewicht. Baumann, Mazzag und andere variieren dieses Modell in den 1930er Jahren mehrfach; Welzenbacher geht weiter.
Unverkennbar das gemauerte Bauernhaus mit massiven Wänden, kleinen Fenstern, aufgesetzten oder freistehenden Bergeräumen in luftiger, sonnenverbrannter Holzkonstruktion. Neu der Schwung – eine ausgreifende Geste, ganz Gelände und Klima verpflichtet. Vor allem Welzenbacher treibt diese Dynamik voran, spricht vom Haus als atmendem Organismus, jede Stunde des Tages der Sonne zugewandt. Vom Werkzeug hat sich das Haus zum Drehort gewandelt, der Bergbauer zum selbstbestimmten Ski- oder Motoradfahrer jenseits der Baumgrenze, frivoler Hüttenzauber inbegriffen wie beim Maler-Architekten Alfons Walde.
Bemerkenswert der weitere Verlauf. Gio Ponti entwirft nach neuer Art 1935 ein Sporthotel. Es liegt in Südtirol, seit 1919 italienisch, seit 1922 faschistisch. Wenig später plant er einen Seilbahnverbund von Bozen bis Cortina mit zahlreichen Hotels, unverkennbar nach Innsbrucker Vorbild. Nun verkündet er im Namen des neuen Staates: Abkehr vom „nicht-italienischen“ Satteldach und starren Haus; stattdessen das „Nuovo Schema“: Flexibilität, Ökonomie, Expansion unterm expressiven Pultdach. Ein gutes Jahrzehnt später knüpft Carlo Molino mit seinen Bauten im Aostatal daran an. Auch wenn sein „Maniero moderna“ alle Regeln sprengt und der Bau sich vom Boden löst, bezeugen zahlreiche Skizzen die Faszination von „Stadeln“, Inspiration seiner Konstruktionen. Franco Albinis Jugendherberge am selben Ort wenige Jahre steht dem in nichts nach.
Bodenständiger bleibt Eduardo Gellner 1950 mit seinem Kinderhotel; das „Schema“ wird polygonal, das Volumen offen, die Materialien vielfältig. Der Bau ist Initial für ein neues Ortszentrum von Cortina; vor allem Auftakt für ein Feriendorf (1954–63) des ENI-Konzerns für 6000 Gäste mit Ferienhäusern, Hotels, Nahversorgung, Gemeinschaftseinrichtung. Intensive Hausforschung Gellners inspiriert seine moderne Gestaltung, Typisierung und Vorfabrikation inbegriffen. Bemerkenswert: die landschaftliche Einbindung Hunderter Ferienhäuser in einen luftigen, erst beim Bau gewachsenen Wald. Tourismus hat sich den Massen geöffnet. Fünf Jahre später beginnt in Les Arcs Savoie unter Charlotte Perriand die Planung einer Ski-Stadt, die heute 30000 Betten bietet. Verdichteter Geschossbau, autofreie Zone, Waldstreifen, Orientierung zu Sonne und Landschaft, viel Holz und Balkon – das Schema wird modernisiert, doch die schiere Masse ergibt ein Weder-Dorf-noch-Stadt.

Andere Wege

Zurück ins Inntal der frühen 1930er Jahre. Bei Imst baut Paul Schmitthenner ein kleines Familienhaus – kein Bauern-, kein Tirolerhaus, sondern aus der Landschaft gedacht in dem Sinn, dass es nutzt, was die Gegend unmittelbar bereitstellt – Holz der Wälder, Stein des Bauplatzes, handwerkliches Vermögen örtlicher Bauleute. Eingeschossig, wohlproportioniert, hinreichend befenstert, verschaltes Fachwerk, geschindeltes Satteldach – und vom Boden gelöst durch zurückgesetzte Fundamentstreifen. Behaglichkeit statt Zeitgeist.
Den fand die „Gläserne Kette“ Jahre zuvor im Kristall. Begleitet von expressionistischem Pathos der Menschheitsbrüderschaft proklamiert Bruno Taut ein neues Formgesetz: Transparent wie Kristall, offen, referenzlos, sich gleichwertig mehrend, verdichtend zu neuen Schöpfungen wie Stadt-, Bergkronen, „alpine Architektur“. Ein neues Wachstumsprinzip, dem technischen Zeitalter gemäß, sollte das organische Wachsen ablösen, wie es Goethe in der Metamorphose der Pflanzen oder Louis Sullivan mit seinem „form follows function“ formuliert hatte – ein im Keim angelegtes Programm, das seine Funktion über Blüte, Frucht entfaltet, verfällt und neu keimt im ewigen Kreislauf. Dagegen das Prinzip der Kristallisation, mechanisches Wachsen selbstidentischer Figuren zu Gebilden großer Massen. In seinem „Arbeiter“ von 1932 gebraucht Ernst Jünger das Bild der Kristallisation für die totale Mobilmachung der Technik.

Die Architektur muss noch warten; Gebilde wie das Planetarium Jena 1926 sind Ausnahmen. Buckminster Fullers Domes ab den 1940er Jahren verbreiten die Idee. Über Wachsmanns Sommerakademie Salzburg wird der Salzburger Architekt Gerhard Gerstenauer damit vertraut. Bei seinen Bauten in Badgastein 1967– 72 werden sie Architektur: als Teil der Überdachung seines Kongresszentrums und als geodätische (Schutz und Aussichts-)Kugeln im ewigen Eis.
Mit dem Zerfall des jahrzehntelang sakrosankten international style kehrt das Interesse am Alltagsbauen zurück. 1961 erscheint Roland Rainers „Anonymes Bauen im Burgenland“, 1963 Raimund Abrahams „Elementare Architektur“. Bernard Rudofskys Ausstellung „architecture without architects“ erreicht 1964 breite Wirkung. Der kritische Rationalismus, ab Beginn der 1980er Jahre von Frampton, Lefaivre und Tzonis eingeführt, belebt die Debatte. Friedrich Achleitner fragt 1997: Ist Region ein Konstrukt? Schwindel, falscher Zauber? Ja im banalen Sinn, dass jeder Begriff Vorannahmen des Interpreten unterliegt, sein Gegenstand geformt, konstruiert ist. Nein, wenn diese Dialektik zur Annahme führt, den Gegenstand so loszuwerden. Jahre später präzisiert Achleitner, regionale Architektur gebe es immer. Formale Festlegungen verwirft er, fordert stattdessen eine Architektur, die sich aus den kulturellen, personellen und ökonomischen Ressourcen eines Landes entwickelt – Architektur der Region, ob simuliert, konserviert oder interpretiert.

Zum Gipfel

Ab den späten 1950er Jahren erfährt das Bauen in den Bergen neue Impulse. In Tirol knüpfen Robert Schuller, Josef Lackner und Othmar Barth an Dynamik und Expression der 30er Jahre an. In Graubünden verschmilzt Rudolf Olgiati Bündner Steinbau mit Corbusiers Stil zu einer eigenen Moderne. Im Tessin macht Anfang der 1970er Jahre die „tendenza“ von sich reden, die lokale Tradition mit dem Rationalismus verbindet; wenngleich eher ein Phänomen der voralpinen Agglomerationen, wären die frühen Villen Mario Bottas oder Luigi Snozzis kaum denkbar ohne das karge Bauen in den Seitentälern. Die mitschwingende 68er-Kritik am Konsumismus steht in krassem Kontrast zur heute totalen Mobilisierung der Massen im Sport- und Vergnügungszirkus in technoidem, möglichst spacigem Gewand.
Die Tendenza appelliert an die Autonomie der Architektur, ein der Form-auf-den-Grund-Gehen. Kein Bild, kein Programm. Peter Zumthors Bauen in den Bergen lässt sich so charakterisieren, mit Betonung des Materials. Bei streng stereometrischem Zuschnitt der Räume bewirkt alleine die Umhüllung der Therme mit Valser Gneis den starken Ortsbezug. Mit kulinarischer Kultivierung des Materials hat das wenig zu tun – lebendig wird es durch Kontrast. Die Kapelle Sogn Benedetg: statt Stein- ein Holzbau, rundspitz statt rechtwinklig. Ein Boot, eine Handschale, ein gefalteter Schutzmantel? Dem Betrachter wird einiges zugemutet, doch dieser geschindelte Leib gehört in die Berge.
Verfremdung des Naheliegenden auch bei Walter Agonese. Eine merkwürdige Idee nennt er die Absicht, beim Verkaufspavillon eines Weingutes eine dicke Betonplatte auf Eichenschwellen zu hieven. Ein Paradigmenwechsel während der Planung des betonierten Kellers – Anspielung auf eicherne Spundwand, das Holz der Fässer? Die Erweiterung einer Villa mit flachem Walmdach als Weiterbau und Zusatz – nun mit spitzem Beton-Walmdach, das in der Ferne bei alten Bauten wieder auftaucht – object trouvé verkehrt?
Noch mehr auf Distanz geht Valerio Olgiati, der heute referenzlose Architektur fordert. Anstelle eines abgebrochenen Stalls steht in einem Bergdorf (2007) sein Abbild als Silhouette aus rot eingefärbtem Beton mit eingelegten Ornamenten aus bäuerlichem Schnitzwerk; ein Teil des Volumens nimmt ein nach oben offenes Atrium, den anderen ein Studio ein, übers Atrium belichtet. Beim Besucherzentrum Schweizer Nationalpark (2008) sind zwei identische Würfel so ineinandergeschoben, dass im Schnittpunkt von einem zum anderen sowie zu den beiden Obergeschossen gewechselt werden kann. Die Würfel sind je Seite und Stockwerk identisch befenstert, die helle monolithische Wand in Wärmedämmbeton schließt nach oben so scharfkantig ab wie zur Seite – reinste Geometrie, lediglich durch geringe Stockwerksversätze gestört.
Olgiatis monolithische Würfel der Schule in Paspels 1998 und des Gelben Hauses in Flims 1999 sind Zuspitzungen volumenbetonter Kuben, die auch außerhalb Graubündens seither Schule gemacht haben. Die reine Geometrie wird polygonal gebrochen. Zum Turm gestreckt, dem Grundstück folgend zum Fünfeck geöffnet, unregelmäßig befenstert und mit dezenten Dachneigungen versehen, steht der Wohnturm von Miller & Maranta im Garten der Villa Garbald (2004); Farbigkeit und Haptik des Sichtbetons beziehen sich auf den Ort. Vergleichbar monolithische Turmhäuser von Bearth & Deplazes (2001) in Sichtbeton mit tiefen Fensterscharten oder aus Holz (1999), monochrom dunkel mit bündig sitzenden Fenstern.
Bekanntestes Polygon mag die Monte-Rosa-Hütte sein, 2009 mit einem Studententeam von Andrea Deplazes realisiert. Extremes Klima und energetische Selbstversorgung (Sonne) waren formgebend. Die vorfabrizierte Holzkonstruktion wurde mit dem Hubschrauber geliefert. Eine umlaufende Treppe erschließt die konzentrisch angeordneten Zimmer auf vier sich nach oben verjüngenden Geschossen, gewährt wie der ebenerdige Speiseraum Panoramablicke, während die Hülle sonst mit Blech und Sonnenkollektoren weitgehend geschlossen bleibt. Nur kristalline Architektur, so Deplazes, vermag dem maßstabslosen Gletscher standzuhalten. Referenzlos? Die Bertolhütte von Eschenmosern (1975) wirft einen Schatten, während die heute umstrittene Schwarzensteinhütte (2018) im Schatten der Monte-Rosa-Hütte steht.
Mit der Gipfelstation auf dem Chäserugg (2015) widersprechen & de Meuron dem kristallinen Postulat. Der Holzbau mit geneigtem, weit auskragen-dem Dach, vielen Fenstern und Veranden beschwört klassischen Zimmermannsbau mit überdimensionierten Hölzern – auch die expressiven Streben von Baumann und Ponti fehlen nicht. Die Presse spricht von Orientierung an ländlichen Typologien, vernakularer Architektur.

Ins Tal

Alltägliches Bauen kommt mit Spitzenarchitektur wenig in Berührung, doch ist es unser täglich Brot. Hohes Niveau mit Breitenwirkung bleibt die Ausnahme. Ende der 1970er Jahre macht Vorarlberg mit Bauten von sich reden, die erschwinglich waren, aus Holz, mit Satteldach. Was mit den Baugruppen um Dietmar Eberle und Roland Gnaiger beginnt, in der Holzarchitektur von Hermann Kaufmann und Helmut Dietrich seine Entsprechung fand, hat heute im Bregenzerwald zu einer Architekturlandschaft geführt, die weniger mit Highlights glänzt als mit nützlicher Geradlinigkeit, wie sie handwerkliche Kultur des Holzbaus hervorbringt, technologisch immer up to date. Was sich so im Kontext entfaltet und ihn weitet, wird Architektur. Welches Vermögen man braucht, gerade das Banale nicht mit Exzentrischem zu parieren, zeigt Bernardo Bader eindrucksvoll mit seinem Dorfzentrum in Steinberg, 2014. Hat der Architekt den Geist des Ortes getroffen oder dieser sich selbst begeistert? Aus gebräuchlichem Bauprozess schöpft Florian Nagler die Kraft, um in Bayrischzell den beim Tannerhof, üblichen Gästepavillons mit kleinen Wohntürmen neue Flügel zu verleihen.
Aus dem Ort heraus entwickelt Armando Ruinelli sein Werk in Soglio. Inspiriert durch Alder, beginnt er mit Neubauten für Bauern, „anonymes Bauen“ feinster Art; sein Umgang mit alten Häusern und Ställen zeigt ihr Potenzial für heutige Nutzung im Zusammenspiel von Beton, wertvollen Hölzern, alten Mauern – höchste Qualität der Bearbeitung statt gesuchter Kontrast. Von vergleichbarer Qualität ist ein Umbau von Corinna Menn in Samedan, der Bauphasen des 16. und 20. Jh. integriert und um wenige plastische Elemente ergänzt, die den monolithischen Steinbau zum Tanzen bringt.
Weiterbauen im fast Gleichen, so ein Motto von Gion Caminada. In Vrin setzt er sich Jahrzehnte mit dem Strickbau der Bergbauern auseinander, gewinnt ihnen bei Wohn- ebenso wie Wirtschaftsbauten neue Qualitäten ab und erreicht eine Souveränität, um sensible Themen wie ein Totenhaus für das Dorf zu meistern. Bauen ist ihm Arbeit in der Gemeinde. Das bleibt, auch wenn er über seinen Ort hinauswirkt. Das Gasthaus in Valendas (2014) ist Ortszentrum, wiederbelebt dank einer aktiven Gemeinde und in seiner heutigen Gestalt eine Synthese aus sorgfältiger Erhaltung, Abbruch und Neubau. Es reflektiert Ereignisse und Geschehen im Dorf und ist unerwartet und gewöhnlich gleichermaßen. In aktuellen Wohnprojekten (2019) geht Caminada der Frage nach, welche neuen Bauformen sich aus der Begegnung heutiger Lebensformen mit tradiertem Leben in den Bergen ergibt. Dem Wie gilt sein Interesse, das Ob steht außer Frage.
Gebräuchlichkeiten werden relevant. Pragmatismus neu? Die grundsoliden Wohnbauten Roman Hutters im oberen Rhonetal enthalten sich jeden Materialkultes, Formalismus oder Detailverliebtheit. Sie zeugen von gelebtem Bauhandwerk. Bei Umbauten fällt das Neue im Kontrast zum Alten sachlich aus, wohlproportioniert, fein im Baustoff. Erneut „um 1800“?
Bauen in den Bergen zeigt heute eine große Bandbreite. Was Architektur ausmacht: dass sie in der Auseinandersetzung entsteht, gilt hier besonders. Die beeindruckende Kulisse fordert zur Auseinandersetzung heraus, ist kostbare Anregung. Jedes hier vorgestellte Bauwerk reagiert, jedes auf eigene Weise, jedes gewinnt, keines verliert.

 

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