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Fallen Vision

Das Cover dieser Ausgabe kommt diesmal von Claire Morgan, die auch die nachfolgenden Doppelseiten mitgeliefert hat. Eva Maria Stadler über die irische Künstlerin und ihre Illusion des Lebendigen.

Die Ästhetik des Naturschönen müsse scharf abgegrenzt werden von der Ästhetik des Kunstwerks, schreibt Wilhelm Worringer in seiner Dissertationsschrift „Abstraktion und Einfühlung“, die er im Jahr 1907 veröffentlichte. Wir wären gewohnt, das Naturschöne, oder Worringer spricht auch vom Naturwahren, als Bedingung des Kunstschönen anzusehen. Jedoch vergessen wir darüber, dass wir uns jene Bedingungen genauer ansehen müssten, unter denen eine Darstellung, etwa einer Landschaft, überhaupt zum Kunstwerk wird.
Worringer gab uns so etwas wie einen Leitfaden für Fragen der modernen Ästhetik, die vor allem durch ein Merkmal zu charakterisieren sei – und zwar wäre dies der Übergang vom ästhetischen Objektivismus zum ästhetischen Subjektivismus. Das Verhalten des Subjekts, die subjektive Wahrnehmung, der kreative Akt des Betrachters, den Duchamp hervorhebt, bis zu Rancières emanzipiertem Betrachter, sie alle beschreiben die grundlegende Voraussetzung der modernen Kunstbetrachtung – das subjektive Sehen. Eng verknüpft damit wäre die Einfühlung in das Kunstwerk, die zurückzuführen sei auf die Romantik, in der die Betonung des Ich, die künstlerische Intuition und das subjektive Empfinden eine zentrale Rolle spielen. Worringer bezieht sich auf die Einfühlungstheorie Theodor Lipps aus dem Jahr 1902, die den Zusammenhang von Denken, Fühlen und Wollen herausarbeitet. Lipps These, dass wir Ideen und Vorstellungen entwickeln, während wir wahrnehmen oder fühlen, kann als autopoietischer Vorgang bezeichnet werden. Das heißt, es handelt sich um einen fortwährenden Prozess der Selbsterschaffung, wie es Humberto Maturana dann in der Mitte des 20. Jh. beschrieben hatte.
Der archimedische Punkt der Subjektivität, nämlich diese eine und einzige Möglichkeit der Kunstbetrachtung, wäre auf eine ganze Reihe von Kunstwerken jedoch nicht anwendbar, weshalb laut Worringer neben dem Einfühlungsdrang, der vor allem nach der Schönheit des Organischen strebe, im Abstraktionsdrang der Wunsch nach dem lebensverneinenden Anorganischen, dem Kristallinen zum Ausdruck käme.
In der Gegenüberstellung von Einfühlung und Abstraktion also entfaltet Worringer seine Theorie, die sich aus diesen widerstreitenden Kräften generiert.
Die Einfühlung beschreibt Worringer nach Lipps als tätige Kraft, als ein Einlassen oder inneres Arbeiten, dem ein Streben und Wollen zugrunde läge.
Das Einlassen des Betrachtenden kann aber auch bedeuten, dass er oder sie auf einen Widerstand, auf eine Zumutung stößt, der nicht stattgegeben werden kann. Lipps beschrieb in diesem Zusammenhang die positive und die negative Einfühlung, die von Lust oder Unlust dem Objekt gegenüber gekennzeichnet wäre. Während der Einfühlungsdrang von einem Vertraulichkeitsverhältnis zwischen dem Menschen und den Außenwelterscheinungen geprägt wäre, ist der Abstraktionsdrang die Folge einer großen inneren Beunruhigung, sagt Wilhelm Worringer. Seine zivilisationskritische Abstraktionstheorie geht von der Ohnmacht des Menschen gegenüber einer ihm entfremdeten Welt aus. Im Schwinden der Dinge, im Zurückweichen des Realen, haptisch Erfahrbaren sieht er nicht alleine einen Verlust, sondern auch die Möglichkeit, einen neuen wissenschaftlichen Geist der Abstraktion zu denken und sich von der Naturnachahmung abzugrenzen.

Die Installationen und Zeichnungen der irischen Künstlerin Claire Morgan vor dem Hintergrund Wilhelm Worringers Text zu lesen, erscheint insofern produktiv, als die Reflexion von Abstraktion und Einfühlung im historischen Kontext Aufschluss über veränderte Wahrnehmungsformen geben kann.
Ein herabstürzender Vogel – er scheint getroffen von einer Gewalt, die nicht zuordenbar ist. Es ist nicht auszumachen, ob der rot und grün durchtränkte Farbsturz den Vogel zu Fall bringt, oder ob sich der Vogel im Aufschrei des Untergangs im Farbnebel verliert. Tiere nehmen in Claire Morgans Arbeiten eine zentrale Stellung ein. In naturalistischer Manier gezeichnet oder als Tierpräparat stehen sie in krassem Gegensatz zu den abstrakten Lineaturen, geometrisch organisierten Raumgebilden, in die sie die Künstlerin einbindet.

Das Glück des Organisch-Lebendigen würde das Motiv bilden, das hinter einer naturalistischen Darstellung stünde, sagt Worringer. Denn nicht die Illusion des Lebendigen, sondern der Zauber, der dem Gefühl für die Schönheit des Organischen innewohnen würde, läge dem Naturalismus zugrunde. Worringer unterscheidet also, wie eingangs erwähnt, das Naturwahre, bzw. die Naturnachahmung, von der naturalistischen Darstellung und differenziert damit die künstlerische Haltung, die der jeweiligen Ästhetik zugrunde liegt. Während die Nachahmung der Natur auch als eine Strategie des Realen gelesen werden kann, würde der Naturalismus aus dem Einfühlungsdrang resultieren.

Claire Morgan lebt im Nordosten Englands, in Gateshead, einer kleinen Stadt am Fluss Tyne, geprägt von einer Mischung aus Industrie, neuen Freizeitanlagen in „signature-architecture“-Manier und ehemaligen, heute stillgelegten Industriegebäuden. Das Leben am Fluss inmitten von industrieller Architektur provoziert ständig von Neuem die unterschiedlichen Kräfte der Zivilisation, die wechselseitig aufeinander einwirken. Die Überformung und Ausbeutung durch die Industrie der kapitalistischen Produktion und Formen des Widerstands und der Anpassung, mit der sich Menschen, Pflanzen und Tiere zu wehren suchen. Für Claire Morgan bildet dieser Widerspruch Ausgangs- und Zielpunkt ihrer künstlerischen Arbeiten.

Die psychischen Voraussetzungen des Einfühlungsprozesses lägen in der Tendenz, „in der ästhetischen Anschauung hemmungslos mit seinem inneren Vitalgefühl, mit seinem inneren Tätigkeitsbedürfnis in den beglückenden Lauf des formalen Geschehens einzufließen“1. Worringer schreibt weiter, dass der Naturalismus beim Betrachter „das ungetrübte Glück seines rein organischen Seins“ auszulösen vermag, indem es ihn von der Differenziertheit seines individuellen Bewusstseins erlösen würde.

Dieser von Wilhelm Worringer am Beginn des 20. Jahrhunderts beschriebene Einfühlungsdrang, diese tiefe ästhetische Empfindung gegenüber dem Organischen, kann wohl noch immer als Grundlage gelten, wenn sich auch die Vorzeichen inzwischen radikal gewandelt haben. Die Vielzahl an Umweltproblemen, die mit der andauernden Industrialisierung einhergehen, hat unser Naturempfinden – und dies soll nicht zynisch klingen –, nachhaltig verändert. Zur sensualistischen Tendenz hin zum Organischen gesellen sich Schmerz und Verletztheit über Vergänglichkeit und Tod. Man könnte an die barocken Stillleben von Juan Sánchez Cotán vom Anfang des 17. Jahrhunderts denken, der Gemüse und Geflügel hängend malte und, wie Norman Bryson in seinem Buch „Looking at the Overlooked“ ausführt, die Hierarchie des Barock auf den Kopf gestellt hatte. Denn Cotán folgte nicht einer höfischen Logik oder Dramaturgie, er zeigt nicht die seltenen, kostbarsten und wertvollen Früchte, Blumen oder Tiere, sondern er zeigt einfach Gemüse, wie es auch im 17. Jahrhundert alltäglich verfügbar war. Es ist auch bei Cotán, wie bei Claire Morgan, nicht auszumachen, ob die Früchte und Fasane fallen oder aufsteigen. In dieser Ambivalenz kommt etwas zum Ausdruck, was Bryson als „Fallen Vision“ bezeichnet. Die Intensität eines ungetrübten Naturempfindens ist nicht mehr zu haben, und dennoch wird genau diese vermeintlich unschuldige, intensive Wirkung von Claire Morgan adressiert, um die Fallhöhe zu markieren, die es braucht, um die Zumutungen, denen die Tiere ausgesetzt sind, im Ästhetischen zuzuspitzen.

Gegenüber dem Einfühlungsdrang und seinem Vertrauen in die organische Form sieht Worringer hinter dem Abstraktionsdrang eine Unruhe, der die Kunst entgegenzuwirken suche. Worringer orientiert sich in seiner Abstraktionstheorie am Begriff des „Kunstwollens“ des österreichischen Kunsthistorikers Alois Riegl. Gebrauchszweck, Rohstoff und Technik würden das Kunstwollen modifizieren und es damit in Distanz zur Naturnachahmung bringen. Wie es die Moderne umfassend vorführt, haben nunmehr bei der Herstellung eines Kunstwerks Materialien und Techniken den gleichen Stellenwert innerhalb der gesamten künstlerischen Konzeption. Für die Abstraktion hat dies zur Folge, dass sich das Formenvokabular an den Koordinaten der eigenen Bedingungen zu differenzieren beginnt. Es scheint kein Zufall, dass die Operationen der Abstraktion oftmals mathematische sind. Die Mathematik wird etwa bei Novalis als das Leben der Götter bezeichnet, und Riegl spricht von der „kristallinen Schönheit, die das erste und ewigste Formgesetz der leblosen Materie bildet und der absoluten Schönheit am nächsten kommt“.2

Für Claire Morgan bildet die Abstraktion wie für Worringer das Gegenüber der Einfühlung. In ihren raumgreifenden Installationen treffen postminimalistische Formen, wie Kugeln, Trichter oder Kuben, auf organische Elemente, das können Samen sein oder auch Tierpräparate, wie Fliegen oder andere Insekten. Der Paradigmenwechsel, den die Minimal Art eingeleitet hat, wird hier ein Stück weit zurückgenommen, denn die Kugel rückt stärker ins Zentrum der Wahrnehmung, obgleich die Künstlerin die geometrischen Formen zu transzendieren sucht. Indem Claire Morgan aus einer Vielzahl von Entitäten ein größeres Ganzes formt, versucht sie nicht zuletzt Aspekte der Arbeit sichtbar zu machen. Die Zartheit der Raumgebilde und die rationalisierte Organisation der Elemente verweisen zum einen auf die Flüchtigkeit des Tuns und zum anderen auf die Bedingungen, in die das Tun eingebunden ist, etwa die Messung der Zeit/Arbeitszeit oder ihre institutionelle Ordnung und Hierarchie. Für Claire Morgan stellt diese Ordnung auch eine Form der Kontrolle und Disziplinierung dar, die zunächst Sicherheit zu vermitteln scheint. Die Unmöglichkeit der Kontrolle bringt sie zum Ausdruck, indem die Künstlerin Tiere – oftmals sind es Tiere, die verletzt, im Begriff zu sterben sind –, die abstrakte Ordnung stören, ja zerstören lässt.

Am Beginn des 20. Jahrhunderts war die Abstraktion noch stärker der Grafik und Malerei vorbehalten, auch wenn die Objekte und Skulpturen des Primitivismus eine wichtige Folie für die Diskussion der Abstraktion darstellt. Wilhelm Worringer spricht sogar von einer Unterdrückung der Raumdarstellung oder von einer Raumscheu in Bezug auf den Abstraktionsdrang. Worringer begründet dies damit, dass sich im Raum die Dinge miteinander verbinden bzw. in Relation zueinander stehen, während es in der Ebene möglich ist, die kristalline und klare Ordnung herzustellen, die vielmehr dem Selbstentäußerungstrieb entsprechen würde. Denn in der Betrachtung des Unverrückbaren würde der Notwendigkeitswert von der Willkür sinnlicher Erscheinungen befreien. Claudia Öhlschlager sieht darin eine Parallele zu Helmuth Lethens „Verhaltenslehren der Kälte“, die sich mit dem Aspekt des Reinheitsbegriffs und seiner Verfügbarkeit bzw. Vereinnahmung in der Zwischenkriegszeit auseinandersetzt. Und bereits in den Dreißiger Jahren wandten sich Theoretiker und Künstler wie Carl Einstein oder Georges Bataille gegen die mathematische Trunkenheit der Moralisten, die in der Abstraktion die Moral der puren Form verteidigten.
Der Begriff der Kälte ist für Claire Morgan noch in anderer Hinsicht relevant. Sie kritisiert die Tendenz der Disziplinierung durch Kontrolle, wie dies aktuell mit den zum Teil totalisierenden Strategien der Digitalisierung angestrebt wird, und spricht in diesem Zusammenhang von einer Kälte, die den Raum absorbiert, „als wäre der Raum ein Fisch, der den anderen vertilgt“. Der Raum ist nicht nur ein Ort der gewaltsamen Interaktionen, „der Raum ist selbst ein gewalttätiger Akteur, dessen Gewaltsamkeit im Zusammenbruch jener entscheidenden Grenze sichtbar wird, die das Leben des Organismus oder der sozialen Systeme garantiert“.3
Claire Morgan verknüpft zwei Formen des ästhetischen Erlebens, die einander zu widersprechen scheinen. Empathie und Einfühlung als Strategien eines objektivierbaren Empfindens stehen dem ästhetischen Genuss gegenüber, in dem sich das Ich gerne verliert. Morgans Arbeiten zielen aber letztlich darauf, die widerstreitenden Ich-Empfindungen als Eines zu begreifen, um das „unsichtbare Wesen der Dinge hinter dem Schleier der Erscheinungen sichtbar zu machen“.4

1   Wilhelm Worringer, Abstraktion und Einfühlung, Wilhelm Fink Verlag, München 2007, S. 95
2    Wilhelm Worringer, Abstraktion und Einfühlung, Wilhelm Fink Verlag, München 2007, S. 85
3    Friedrich Balke und Maria Muhle: Räume und Medien des Regierens, https://www.fink.de/uploads/tx_mbooks/9783770559022_leseprobe.pdf, gesehen am 18.11.2019
4    Wilhelm Worringer, Abstraktion und Einfühlung, Wilhelm Fink Verlag, München 2007, S. 40

 

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