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Fließtext*
Von Marie Gamillscheg

Ich erinnere mich an das Gefühl, im Auto einzuschlafen und im Halbschlaf ins Bett getragen zu werden. Ich erinnere mich, dass ich immer behauptete, das Buch gelesen zu haben, um dann hinzuzufügen: „Aber das ist schon lange her.“ Ich erinnere mich daran, wie ekelhaft ich den Gedanken an Cola-Rot fand und wie gut es dann war. Ich erinnere mich an Kroketten mit Knoblauch-Mayonnaise. Ich erinnere mich, zu erschrecken, als ich in den Spiegel sah. Ich erkannte mich nicht. Ich erinnere mich, morgens zu bedauern, als dieses Ich aufgewacht zu sein. Ich erinnere mich daran, dass ich am nächsten Morgen als jemand anderes aufgewacht bin. Ich erinnere mich daran, nicht einschlafen zu wollen, weil es am nächsten Tag diesen Moment nach dem Aufwachen gab, in dem mir jedes Mal neu einfiel, dass wir uns nie wieder sehen würden. Ich erinnere mich an das Rattern der Autos über Pflastersteine. Ich erinnere mich an das Gefühl, unter einem Wollpullover zu schwitzen. Ich erinnere mich an Debatten. Ich erinnere mich, wie schnell sie auch wieder vergingen. Ich erinnere mich an die kuratierte Aussicht von Zugfenstern. Ich erinnere mich, als ich mich auf einem Spaziergang eine Stunde lang nicht an einer Bisamratte vorbeitraute und mir ein Leben auf dieser schmalen Düne ausmalte. Es war Dezember. Ich erinnere mich daran, Äpfel in drei Bissen zu essen. Ich erinnere mich an eine Preisverleihung, als man meinen Namen sagte und ich nicht verstand, dass er etwas mit mir zu tun hat. Ich erinnere mich, dass meine Sätze auf Bühnen endlose Schleifen drehten und ich mich später im Hotelbett dafür schämte. Ich erinnere mich, dass man mit dem Taschenrechner ESEL schreiben konnte. Ich erinnere mich an den Knall, als ich beim Klettern von der Wand fiel und mir alle Bänder im linken Knie riss. Ich erinnere mich an eine unheilbare Müdigkeit. Ich erinnere mich an das Rutschen über eisige Gehwege. Ich erinnere mich daran, wie gut die Idee im Vorhinein oft war, zur Kühlung einen Eiswürfel in den Mund zu nehmen, und wie schnell es dann viel zu kalt wurde, aber der Eiswürfel sich noch nicht zerbeißen ließ. Ich erinnere mich, dass eine Buchhändlerin einmal zu mir sagte: „Halten Sie durch.“ Ich erinnere mich an Pflanzen, die wie Menschen aussahen. Ich erinnere mich an Menschen, die wie Tiere aussahen. Ich erinnere mich, als ich Malina las und nichts verstand. Ich erinnere mich, als ich Malina wieder las und alles mit mir zu tun hatte. Ich erinnere mich an Joe Brainards I REMEMBER und die magische Wirkung, die davon ausging. Ich erinnere mich an die Erleichterung, wenn ich den Wohnungsschlüssel beim Nachhausekommen zwei Mal umdrehte, also niemand zu Hause war. Ich erinnere mich daran, die Dinge meiner Mitbewohner aus dem Kühlschrank zu essen und sie danach heimlich nachzukaufen. Ich erinnere mich daran, als ich daran arbeiten wollte, mysteriöser zu wirken. Ich erinnere mich an viele angefangene Tagebücher. Ich erinnere mich daran, einen Kloß im Hals zu haben und zu denken, dass es sich tatsächlich wie ein Kloß im Hals anfühlt. Ich erinnere mich, dass ich mehr Zwetschgenknödel essen konnte als mein Bruder. Ich erinnere mich, dass ich unter einer Bettdecke, abends, Süßigkeiten mit der Taschenlampe aß. Ich erinnere mich, dass ich vortäuschte, Fieber zu haben, und den Thermometer unter der Nachttischlampe aufheizte und der viel zu schnell in die Höhe schoss. Ich erinnere mich an den Neid, wenn ich Anfang zwanzig-jährige Paare durch die Straßen gehen sah. Ich erinnere mich daran, wie im Tierpark Schönbrunn ein Jaguar eine Pflegerin tötete. Ich war ungefähr zehn. Ich erinnere mich, dass jemand, den ich gut kenne, am gleichen Tag wie Helmut Pechlaner Geburtstag hat. Ich erinnere mich, wie ein Mann eine Tonne Braunkohlebriketts in unseren Keller trug. Ich erinnere, als ich beschloss, nur mehr Schwarz zu tragen. Ich erinnere, als ich kurz danach beschloss, nur noch sehr ausgefallene Sachen zu tragen. Ich erinnere mich an den Schmerz anderer Menschen, der sich wie der eigene anfühlte. Ich erinnere mich an fleischfressende Pflanzen. Ich erinnere mich an das Raunen der auf die Haltestelle zukommenden Straßenbahn und wie ich sie jeden Morgen, mit offenen Schuhen und Mantel und Schultasche in der Hand, gerade noch erwischte. Ich erinnere mich an Cornflakes mit Wasser. Ich erinnere mich an das Wort versifft. Ich erinnere mich an das Gefühl, auf einem Gipfel zu stehen und kein einziges Haus zu sehen. Ich erinnere mich an die Entschärfung eines verminten Gebiets. Ich erinnere mich an den Geruch von kalten Skijacken. Ich erinnere mich daran, Nagellack in einem Stück abzuziehen. Ich erinnere mich an Nägel, die in Wände fielen. Ich erinnere mich an Pizza nach Umzügen, zwischen den Kisten. Ich erinnere mich an den dringenden Wunsch, einen Hosenanzug zu besitzen. Ich erinnere mich, dass ich später überlegte, wann der Wunsch wieder verschwand. Mir fiel es nicht ein. Ich erinnere mich daran, tagelang das Internet querzulesen und am Ende alles zu vergessen. Ich erinnere mich an einen leichten Schwindel, als ich merkte, dass ich nicht verstand, wie die Finanzwelt funktionierte. Ich erinnere mich an das Wort Reizwortgeschichte. Ich erinnere mich daran, die Geschichten anderer so oft zu erzählen, bis ich glaubte, dabei gewesen zu sein. Ich erinnere mich an meine erste Zigarette, an einem Vormittag am Fenster in meiner ersten Wohnung. Ich erinnere mich, als ich von diesem Fenster wenig später einen Unfall sah. Ich erinnere mich, als ich mit dem Moped auf die Autobahn auffuhr und wie die Menschen mir aus den offenen Fenstern Dinge zuriefen. Ich erinnere mich, als ich aus dem Fenster sah und auf der Straße jemand im Gehen Ravioli direkt aus der Dose aß. Ich erinnere mich an gezuckertes Schweinefleisch. Ich erinnere mich an die Aufregung, ein SMS zu bekommen und wie lang ich an der Antwort feilte. Ich erinnere mich an das Gefühl, eine Lebensmittelmotte in der Luft zu erschlagen und wie sie dann mehlig auf der Handfläche klebte.

— * Text, der in einem Stück und ohne Unterbrechungen durch Absätze, Überschriften, Abbildungen, Fußnoten u. Ä. gesetzt wird.
— Aufforderung, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen und dabei nicht zurückzuschauen; freihändig draufloszulegen, ohne zu korrigieren; die Buchstaben zu Papier zu bringen und bedenkenlos aus der Hand zu geben.

 

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