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Brenner-Gespräch (19): „Man braucht ein bisschen Verblödung.“

So viele Leute fahren über die Alpen. Quart bittet herausragende Persönlichkeiten an den Straßenrand zu einer Jause mit Gespräch. Folge 19: Der deutsche Filmregisseur, Drehbuchautor und Fußballfan Christian Petzold, unter anderem ausgezeichnet mit dem deutschen Bundesfilmpreis, ist bekannt für seine menschlichen Geschichten. Mit Georg Cadeggianini redet er über die Notwendigkeit von Pilzfreunden, Zeitverschwendung beim Autofahren und die Sockenabteilung von Karstadt.

Georg Cadeggianini: Herr Petzold, bei Ihren Filmen sind Sie überall dabei, Idee, Drehbuch, Set, Schnitt, überall reden Sie mit. Wie gut sind Sie eigentlich im Schweigen?

Christian Petzold: Das ist gar nicht so leicht. Wenn hier neben uns im Café jetzt ein Paar säße, das sich einfach anschweigen würde, würde jeder denken: Sagt mal, habt ihr Probleme?

G. C.: Man würde ihnen einen Therapeuten empfehlen.

C. P.: Dabei kann gemeinsam schweigen wahnsinnig guttun. Schweigend durch den Wald zu gehen zum Beispiel. Das ist etwas ganz Anderes, als alleine unterwegs zu sein. Alleine ist man mit sich beschäftigt. Zu zweit nicht. Peter Handke zum Beispiel geht immer alleine Pilze suchen. Das würde bei mir nicht funktionieren. Ich hatte das große Glück, mit Harun einen Pilzfreund zu haben.

G. C.: Harun Farocki, der Essayfilmer, mit dem Sie bis zu seinem Tod 2014 fast 20 Jahre lang zusammengearbeitet haben.

C. P.: Mit Harun habe ich viel geschwiegen. Wir waren viel unterwegs, spazieren und auf Irrwegen. Wir steckten in Sackgassen fest, auch monatelang. Und dann kamen wieder große euphorische Momente. Und da gehört dann schon das Gespräch dazu. Im Gespräch stießen wir oft auf etwas völlig Neues …

G. C.: … was vorher keiner von beiden überhaupt gewusst hat.

C. P.: Genau. Der falsche Zeuge. So nannte Harun mich immer. Ich habe etwas erzählt, was ich gesehen oder gelesen habe. Später hat er es nachgelesen. Das stimmt ja alles gar nicht, meinte er dann. Aber weil es nicht stimmt, ist es gut. Und weil es nicht stimmt, hat er auch mitmachen können. Gerade bereite ich ein neues Drehbuch nach einem Roman vor. Es steht noch nicht mal ein Treatment, aber es fängt in meinem Kopf an zu arbeiten. Gestern habe ich der Casterin davon erzählt. Weil das Stück so traurig ist, weinte sie sogar. Und dann bin ich nach Hause, habe das Buch noch mal aus dem Schrank geholt und die letzten Seiten gelesen, die ich ihr beschrieben hatte. Aber die existieren überhaupt nicht. Ich brauche das Erzählen. Während des Erzählens merke ich, ob die Geschichte einen Kern hat, ob es gut wird. Anders geht es bei mir nicht. Ich finde, jeder sollte einen Pilzfreund haben.

G. C.: Ein Ort, in dem viele Leute miteinander schweigen, ist das Auto.

C. P.: Ja, das ist schön. Dieses Somnambule im Auto, diese Trance, da wieder einen überholen, Umfahrung, dazu Musik, Stau, sich überholen lassen. Beim Autofahren wird man zum Gespenst, ist anwesend und abwesend im selben Moment. Ich hätte nichts gegen eine Geschwindigkeitsbegrenzung. Dieses Dahintreiben, das ist es, was ich suche. Das ist ein bisschen so, wie zu lange aufs Wasser zu gucken. Etwas, was mein protestantischer Vater uns immer verboten hat.

G. C.: Weil es Zeitverschwendung ist?

C. P.: Man kann dann ja nicht mehr arbeiten, ist zu nichts mehr fähig. Aber ich glaube: Man braucht ein bisschen Verblödung. Und das Auto ist natürlich totale Verblödung, aber eine schöne. Es gibt so viele Möglichkeiten der Zweisamkeit im Auto. Es gibt nicht nur Konflikte, es gibt auch so etwas wie behütet sein. Dann ist das Auto faradayscher Käfig. Mein Sohn saß immer rechts hinten. Und ich hatte das Gefühl, dass der von hinten so geguckt hat, mich gesehen hat, und langsam einschlafen konnte: ah, alles okay, der fährt, der ist selber blöd. Es ist schön, gemeinsam zu verblöden.

G. C.: In vielen Ihrer Filme, vor allem Ihrer früheren, wird verdammt viel Auto gefahren. Warum?

C. P.: Autofahren im Film hat etwas vom Theater. Die Schauspieler sitzen nebeneinander, sprechen beide Richtung Kamera – das ist ein Theater-Setting. Etwa so wie heute im Fernsehen gern Küchenszenen gezeigt werden: Da stehen ständig Leute an einer Kochinsel, beide Richtung Kamera, und schnibbeln Paprika. Aber das Auto ist kein Ort zum Dialoge-Aufsagen. Das ist ein Ort, an dem Leute in Somnambulität geraten, wenn sie Fahrer sind. Wo sie in den Krieg geraten auf der Autobahn. Wo sie nebeneinander schweigen, manchmal belastend und furchtbar, etwa, wenn sich ein Paar gestritten hat und dann trotzdem noch miteinander nach Hause fahren muss. Das Ganze ist dann kein Kammerspiel, sondern ein Druckkammerspiel. Das hatte ich für mich entdeckt: dass da etwas drunter ist, was das Kino entdecken kann.

G. C.: Vor allem hier in Deutschland.

C. P.: Wolfsburg, Stuttgart, Zuffenhausen – wir leben doch in einem Land, das vom Auto lebt. Die Gewerkschaft, der Käfer, die Beteiligung des Staates an VW, Hitler, Blitzkrieg. Verdammt, was ist das für ein Land? Ein Land der Mobilität. Ein Land, das mit dem Auto den Blitzkrieg privatisiert hat? Vielleicht … Solche Gedanken hat man dann plötzlich. Und das ist ja produktiv, man merkt dadurch etwas, man sieht etwas.

G. C.: Was heißt hier sehen?

C. P.: Das ist genau das, worum es mir ging. Ich wollte zuerst überhaupt keine Filme drehen. Ich wollte eigentlich nur Filme gucken. Ich wollte sehen lernen. Durch den Nationalsozialismus und die anschließende Rezivilisation leben wir in einem Land, in dem die Bilder immer eine Bedeutung haben müssen. Sie sind immer propagandistisch in die eine oder die andere Richtung. Aber es geht nicht um Handlungsanweisungen, sondern ums Entdecken. Dieser Infektion, die ganz tief in den Menschen hier drinsteckt, musste künstlerisch etwas entgegengesetzt werden. Bei Fassbinder etwa konnte man plötzlich ein Bild sehen: Bei ihm wurden all die Gemeinheiten, diese Kränkungen, das Unterdrückte sichtbar. Der filmte Orte, als ob er Tatorte betreten würde. Man weiß gar nicht, was für ein Verbrechen hier stattgefunden hat, aber irgendetwas stimmt nicht. Wie widerlich zum Beispiel diese Gesellschaft zu Brigitte Mira in Angst essen Seele auf ist, wenn sie ihren marokkanischen Freund vorstellt und Fassbinder Portraits der Familie macht – das ist unfassbar gefilmt. Und ich war total begeistert, dass ich dieses Druckkammerspiel, das Auto, für mich entdeckt habe.

G. C.: In den Städten hat das Auto viel kaputt gemacht.

C. P.: Unglaublich. Ich war jetzt bei den Dreharbeiten für Undine in der Gegend, wo ich groß geworden bin. Remscheid, Solingen, Wuppertal. Da sieht man, was diese Wahnsinnigen dort angerichtet haben. Es kommt immer wieder die Autolobby durch. Das sind ja Verbrecher. Zum Beispiel Remscheid: Da haben die achtspurige Straßen durchgelegt, die Eisenbahn abgeschafft, Busbahnhöfe gebaut. Das kennt man zum Beispiel aus der Türkei. Da haben sie auch die Eisenbahn mit dem US-Greyhound-System ersetzt. Weil da einfach die Privatwirtschaft Geld verdienen kann. Jetzt haben wir diese Flix-Bus-Scheiße. Man kann das nicht der Privatwirtschaft überlassen. Städtebau und Infrastruktur müssen vom Staat konzeptioniert werden. Das geht nicht anders. Mit Harun habe ich beim Spazierengehen oft rumgeschaut: Was hier sind die Ruinen des Krieges und was die Ruinen des Friedens? Und die Ruinen des Friedens – auf denen fahren meistens Autos. Das Auto hat die Städte kaputt gemacht. Ich liebe Autos, aber wir müssen damit aufhören. Auch wenn das bedeutet, dass wir alle nur noch Halbtagsjobs haben.

G. C.: Und zurück zur Eisenbahn?

C. P.: Warum nicht? Wie toll ist es, in eine Stadt mit dem Zug einzufahren? Auf dieser einen Achse, die durch die Stadt führt. Man sieht die Häuser von hinten, man sieht in die Vorgärten, in die Kaninchenställe. Und dann fährt man in den Bahnhof ein und geht durchs Portal mitten in die Stadt. Das ist doch großartig! Man lernt eine Stadt von hinten kennen und dann erst kommt man in den repräsentativen Teil. Die erdabgewandte Seite der Geschichte heißt das bei dem Schriftsteller Nicolas Born.

G. C.: Herr Petzold, was tun Sie, um sich zu erden?

C. P.: Ganz ehrlich: Ich gehe bei Karstadt am Hermannplatz in die Sockenabteilung.

G. C.: Bitte?

C. P.: Ja, das hat mit meiner Kindheit zu tun. Meine Eltern waren arm, mein Vater lange arbeitslos, bei uns wurde alles weggepfändet. Wir mussten schon als Jugendliche arbeiten, um uns Kleidung zu kaufen. Die Kleidung, die ich mir selber gekauft habe, war natürlich das Billigste vom Billigen. Zumindest das, was ich direkt am Körper trug, das, was die anderen nicht sehen konnten. Unterhosen, vor allem aber Socken: Polyacryl-Polyester-Frottee-Nachbau, das allerschlimmste Zeug. Das Geld musste ja für die Levis 501 herhalten. Der letzte Anstrich musste stimmen.

G. C.: Und seitdem Sie es sich leisten können …

C. P.: … kaufe ich nur noch die teuersten Socken. Etwa die Socke Milano von Falke, da kostet das Paar 22 Euro. Aber wahrscheinlich ist das weniger Erdung, sondern vor allem Freude und ein bisschen Entschuldigung beim Körper für das ganze Polyester. Wenn man selbst Kinder hat, ist man ein Stück weit immer geerdet. Zwischen Schulsportfest und der ersten unglücklichen Liebe der Kinder. Und plötzlich hat man ganz viel mit den anderen Eltern aus dem Kiez zu tun. Man wird regionalisiert. Das ist ja auch eine Erdung.

G. C.: Das erste Kind nehmen die Eltern ja oft als Projekt an. Im Fußball würde man vielleicht sagen: Die Eltern spielen Manndeckung. Mit dem zweiten wechseln dann viele in die Raumdeckung. Wo stehen Sie als Vater?

C. P.: In der Viererabwehrkette … Meine Kinder sind inzwischen erwachsen. Das Gefühl, dass sie das sind, habe ich trotzdem noch nicht. Die Raumdeckung ist der Manndeckung total überlegen, selbst bei Standards. Das gilt für uns als Eltern. Vor allem aber für die Kinder. Es ist schwierig, aus der Manndeckung gesund und unverletzt raus zu kommen.

G. C.: Kinder zu haben, bedeutet ja auch, sich einer großen Verletzlichkeit auszuliefern. Was macht das mit einem, wenn das eigene Kind keine Lust am Leben findet, keine eigenen Talente, keine Freunde?

C. P.: Hannah Arendt ist in Königsberg aufgewachsen. Antisemitismus gab es da immer: Die anderen in der Klasse mobben mich, werfen Steine nach mir. Und Hannah Arendt erzählt dann, wie ihre Mutter antwortet: Das ist mir doch scheißegal, da musst du durch. Aber wenn die Lehrer antisemitisch wurden, dann kam die Mutter sofort in die Schule und hat die zur Schnecke gemacht. Ich glaube, da kann man was draus lernen: Die Kinder müssen da durch. Die Kinder müssen wissen, dass die Eltern immer auf ihrer Seite sind, sie immer lieben. Ob sie nun schwach, stark oder blöd sind, sie werden immer geliebt. Meine Eltern haben überhaupt nicht gewusst, was Schule ist. Die waren auf keinem Elternabend, nicht mal auf der Abiturfeier. Später habe ich Germanistik studiert. Mein Vater wusste bis zum Schluss nicht, was das ist.

G. C.: Dieses Desinteresse Ihrer Eltern, war das ein Problem?

C. P.: Im Gegenteil: Das war befreiend. Ich bin mir ganz sicher: Wenn meine Mutter Cineastin gewesen wäre, hätte ich nie Filme gemacht. Das war absolut toll, dass die nicht wussten, was das ist.

G. C.: Ihre Eltern sind in den Fünfzigerjahren aus der DDR geflohen. Sie haben die Verwandten dort regelmäßig besucht und auch viel vom Alltag dort mitbekommen. Im Westen kennt man von der DDR oft nur ein politisiertes Bild. Im aktuellen Projekt Open Memory Box werden private Schmalfilme aus der DDR online gezeigt, teilweise kommentiert. Kann so etwas diese Lücke schließen?

C. P.: Ich glaube nicht, dass der private Hobbyfilm viel von der Welt erzählt. Was wird denn da gedreht? Das war damals nicht anders als heute. Selfies. Ich bin da, ich bin hier, ich bin dort. Die montieren ja nicht. Kino ist Montage. Zwei Bilder werden aneinandergeschnitten und dann entsteht ein drittes. Und dazwischen fehlt etwas, oder es reibt sich etwas oder es passt nicht zusammen. Oder es tut so, als ob es zusammenpasst. Aber der Superachtfilm ist der Weihnachtsbaum, der Geburtstag, dann Ostern. Es ist im Grunde genommen immer nur eine Einstellung. Man kann aus einem nostalgischen Gefühl heraus das anschauen: was die für Klamotten anhaben, wie die lachen, dann die kräftigen Farben von Agfa oder Kodak. Aber die Welt wird dort nicht verarbeitet, sondern die eigene Anwesenheit in der Welt dokumentiert.

G. C.: Haben Sie das nahende Ende der DDR bemerkt?

C. P.: Retrospektiv zeichnete sich der Untergang schon seit Jahren ab. Veränderungen bemerkt man ja oft besser, wenn die Eindrücke unterbrochen sind. Ich war einmal im Jahr bei der Verwandtschaft in der DDR, immer für ein paar Wochen im Sommer. Und Jahr für Jahr zeigte sich deutlicher: Die sind fertig. Schrecklich ist ja, dass Apparate, die im Sterben sind, noch wahnsinnig lange durchhalten. Beim Weißen Hai gibt es diese Geschichte, da zeigt einer seinen vernarbten Körper und erzählt: Torpedotreffer mitten im Pazifik, auf einmal hängen 3000 Matrosen in ihren Schwimmwesten und warten auf Hilfe. Aber erstmal kommen die Haie. Die holen sich einen nach dem anderen. Er erzählt dann, wie sie einen Kreis bilden und mit den Füßen strampeln, um den Haien Größe vorzutäuschen. Als das Rettungsschiff kommt, ist die Hälfte der Leute tot. Das Schlimmste aber sind die letzten Minuten.

G. C.: Man sieht die Rettung schon …

C. P.: … aber gestorben wird trotzdem noch. Und so empfand ich die DDR zum Schluss: Das letzte Jahr war eine unglaubliche Depression unter den Leuten, die Läden waren leer, die Kraft weg, rundherum erodierte alles.

G. C.: Wie haben Sie den 9. November erlebt?

C. P.: Westberlin war ja sofort überflutet. Als ob wir, der Westen, ein Museum wäre und nicht die DDR. Es war alles voll von Neugierde und Euphorie. Nachdem wir den Schabowski in den Nachrichten gesehen haben, sind wir sofort zum Grenzübergang Bornholmer Straße. Ich war wirklich sehr gerührt. Abends waren wir auf einer Party eingeladen. Da standen wir auf dem Balkon und winkten einer Gruppe von DDR-Jugendlichen zu, ob sie nicht hochkommen wollten. Sie kamen wirklich, fanden die Musik geil, das kleine Buffet. Dann sagte der eine – meine Frau ist Türkin – halblaut in ihre Richtung: Zu viele Ausländer hier. Und da war mir klar: Nur schön wird’s nicht die nächsten Jahre. Für uns ist die Mauer aufgegangen. Aber das sind ja auch 17 Millionen Flüchtlinge.

G. C.: Menschen, deren Staat aufgelöst wurde, abgestorben ist.

C. P.: Und die Leute dort haben sofort gesehen: Huch, da sind ja noch andere Flüchtlinge, hoffentlich werden die nicht bevorzugt.

G. C.: Finden Sie das Leben lang?

C. P.: Es wird immer kürzer. Das merke ich schon. Aber es gibt Längen, schöne Längen: Es gibt die Samstagvormittag-Länge. Um 15:30 Uhr spielt Gladbach. Um 10 Uhr hat man gefrühstückt und alles erledigt. Die fünfeinhalb Stunden bis zum Anpfiff sind die schönste Länge der Woche. Es gibt auch grauenvolle Längen, zum Beispiel die, nachdem sie verloren haben: Was mache ich jetzt mit dem Rest des Tages? Fast in jedem Film lasse ich einen Gladbach-Spieler-Namen auftauchen. Eine Kommissarin etwa heißt Constanze Hermann – wie der Stürmer Patrick Herrmann. Le Fevre oder Vogts waren auch schon dabei. Jetzt durch meine Freundschaft zu Matthias Brandt, der Werderfan ist, schleichen sich auch andere Namen ein: Beim letzten Polizeiruf zum Beispiel heißt die Kommissarin, die an der Seite von Matthias Brandt ermittelt: Nadja Micoud. Micoud war ein Spieler von Werder Bremen, ein Genie, der jetzt ein Weingut besitzt. Matthias hat gegrinst.

G. C.: Ein Film ist wie ein Haus, haben Sie mal gesagt. Was hat Kino mit Architektur zu tun?

C. P.: Architektur ist manchmal selbst Kino. Mies van der Rohe etwa hat seine Häuser wie Filme beschrieben: Eine Wendeltreppe schleudert einen in einen Raum, von rechts kommt das Tageslicht, links oben ist noch eine Luke für Nordlicht. Oder die Beschreibung des Parks in den Wahlverwandtschaften. Wo ist eine Bank, was für einen Blick hat man, dann geht es plötzlich um eine Steintreppe – das ist wie ein Schnitt. Da entdeckt Goethe Kino vor dem Kino.

G. C.: Gilt das auch umgekehrt: Inwiefern heißt Filmemachen Häuserbauen?

C. P.: Mit jedem Film baue ich ein Haus. Ich schreibe ein Drehbuch, konzipiere alles, baue eine Logistik auf, und das gemeinsam mit rund 80 Leuten. Und dann kommen aber irgendwann die Menschen, die darin leben sollen, die Schauspieler. Manchmal benutzen sie das Haus vollkommen gegen die Konzeption. Die nehmen einen anderen Weg zum Parkplatz, stehen nicht an dem Fenster mit dem Südlicht, sondern lassen dort plötzlich das Rollo runter und setzen sich lieber in die Küche. Da muss man dann den Mund halten und staunen. All das ist ja weniger ein Protest gegen die Konzeption, sondern vor allem Aneignung. Und dieses Aneignen stellt im Grunde erst den Film her.

G. C.: Was heißt das konkret?

C. P.: Wir haben für Undine gerade eine erotische Szene gedreht zwischen Paula Beer und Franz Rogowski, in der sie miteinander schlafen. Und zwar ohne Brüste, ohne Pimmel, ohne Arsch. Das spielt sich alles unterm Bettlaken ab. Man hörte nur das Atmen und die Lust. Man sieht nur Paula Beers Gesicht und ihre Hände, die unters Laken greifen, dorthin, wo er ist. Beim Drehen hat sie sich plötzlich – und damit habe ich absolut nicht gerechnet, das stand nicht im Skript – einfach das Laken übers Gesicht gezogen: Der Rest ist privat.

G. C.: Sie hat einen anderen Weg zum Parkplatz genommen.

C. P.: Das war ein Riesenmoment. Ich war vollkommen fertig. Aber genau deswegen mache ich Kino.

 

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