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Federn in der falschen Kammer

Von 1753 bis 1834 lebte in Waidring der Bauer Leonhard Millinger, der auf über tausend Seiten eine minutiöse „Weltbeschreibung“ verfasste, in der das gesamte ihm verfügbare Wissen nachzulesen ist. Er schrieb über Astronomie, Geografie, sogar ein kurioser Blick in die Hölle findet sich in seinen Aufzeichnungen, sich selbst erwähnt er aber so gut wie nie. Der Schriftsteller Christian Lorenz Müller wagt sich an den Versuch einer fiktiven Innenweltbeschreibung.

Als er den gerupften Ganter auf dem Kucheltisch liegen sieht, stürzt er nicht hinüber in die Stube, er stürzt nicht mitten hinein zwischen die Kinder und das Gesinde, er packt die Millingerin nicht am Handgelenk und reißt sie nicht heraus aus der Kachelofenwärme, stößt sie nicht vor das Haus und greift sich keinen Treibstecken, um sie grün und blau zu schlagen. Er rennt kopflos hinaus in den dämmernden Abend, hinaus in den Dreck, der so stark an seinen Schuhen zieht, dass er sich kaum um das Haus herumarbeiten kann. Als er endlich den Misthaufen erreicht, keucht er auf, vor Anstrengung und vor Enttäuschung, denn es ist nichts mehr zu retten: Die Federn klumpen schmutzig im Kot. Die Millingerin hat sie nicht einfach aus ihrem Kübel auf den dampfenden Haufen flocken lassen, sie hat sie tief in den Mist getreten, und nun wird er, Leonhard, hinübergehen müssen zu den Nachbarn und um Federkiele betteln. Zum Gespött wird er sich wieder einmal machen. Das Gesinde vom Prantner oder vom Gorgiser wird ihm einen Ganter zutreiben oder eine große Gans, und er wird den fauchenden Vogel packen, wird einen Schlag gegen den schnappenden Schnabel tun und den Kopf mit dem Fuß auf die Erde drücken, bevor er den flatternden linken Flügel zu fassen vermag, denn er kann nur die stärksten Außenfedern verwenden, nur die linken Außenfedern sind ihm gut genug. Die Magd oder der Knecht werden bloß so tun, als ob sie ihm dabei helfen, den Ganter niederzuhalten, einen Spaß werden sie sich mit ihm machen, bis er endlich seine fünf Federn zusammenhat.
Zurück auf dem Ponerhof, wird er sie sorgfältig präparieren: Zuerst muss er das Mark aus den Kielen drücken, dann muss er sie in Wasser einlegen, um sie anschließend in heißem Sand glasig schwitzen zu können. Als Letztes wird er die trocken gewordene Haut abziehen, wird er die Federn sorgfältig zuschneiden, ehe er sie endlich als Wintervorrat in seiner Schreiblade verschließen kann.
Statt schleunigst wieder ins Haus zu gehen, bleibt er stehen, bis er merkt, dass es regnet, dass ihm das Wasser über Stirn und Wangen rinnt. Er schaut hinauf in die Wolken, die grau vor dem Gebirge stehen. Bei guter Sicht kalkt die Kette scheinbar direkt hinter dem Hof in die Höhe; jetzt kann er nur einen Streifen Bergwald erkennen, in dem viele Buchen stehen: ein Abendrot, das traurig-nass zu ihm herüberleuchtet. Der geschlachtete Ganter ist für morgen Nachmittag, für die Taufpaten der Kinder. Nach der Allerheiligenandacht auf dem Gottesacker kommen sie samt ihren Frauen, samt ihren Männern auf den Ponerhof. Immer setzt ihnen die Millingerin das Feinste vor, was der Stall und die Speis hergeben. Das Haus wird voll sein, und wieder einmal wird er nicht einen Augenblick Zeit haben zum Schreiben.

Nass kommt er zurück in die Stube, wo sich die älteren Kinder an den Kachelofen drücken, eines neben dem anderen. Die gute Mari liegt auf dem Kanapee und hat Notburga auf dem Bauch, die Jüngste, die die Millingerin gerade zu entwöhnen versucht, weil sie ihr die Brustwarzen aufbeißt. Der Vater hat den besten Platz, er streckt sich neben der Mutter auf dem Ofen aus und bläst blauen Pfeifenrauch unter die Holzdecke, die fast so schwarz ist wie die im Stall.
Die Menschen, fährt es dem Millinger durch das Hirn, sind die Menschen nicht auch so etwas wie Tiere, dunsten sie nicht auch Tag um Tag diese Schwärze, diese Schwere hinauf zur Decke, die in den Wintern so herunterdrückt, dass es fast nicht auszuhalten ist?
Er setzt sich wieder auf seinen Sessel am Stubentisch. Direkt unter der Öllampe, deren Licht durch die Stube flackert, liegt aufgeschlagen sein Buch, und davor stehen die drei Tinten, eine schwarz, eine rot, eine grün. Das grüne Glasfässchen ist noch ganz neu, er hat es noch nicht geöffnet. Für seine Frau gibt es nur das Schwarz; das Rot und das Grün sind für die Millingerin sündhafte Verschwendung, das weiß er gewiss, obwohl sie es noch nie gesagt hat, kein Wort hat sie jemals gesagt über seine Schreiberei, seit er anno 1790 damit begonnen hat. Auch jetzt sagt sie nichts, aber sie sitzt neben ihm am Tisch und lässt ihre Stricknadeln vorwurfsvoll klappern. Die Schafwolljanker, die Socken, die Unterhosen der Millingerin werden alle grau oder braun, nie kommt es ihr in den Sinn, einmal eine Farbe dazu zu verwenden, etwas Schönes für das Auge einzusticken. Der Vater wird nicht müde, sie für ihre umsichtige Wirtschaft zu loben und dafür, dass die Kinder immer so sauber daherkommen, alle sechs sind immer gewaschen und geputzt; die drei größeren gehen zur Schule und lernen Rechnen, und für alle ist Tinte da, aber bloß schwarze. Auch die Mutter ist mit der Schwiegertochter sehr zufrieden, sie weiß nichts von dem Kummer ihres Sohnes. Nur die Mari spürt ihn und streicht ihm manchmal, wenn niemand zuschaut, kurz mit dem Handrücken über die Wange und schüttelt den Kopf, und dann wird es besser, dann kann er es wieder aushalten für ein paar Tage.
Auf der Eckbank, die sich um den Tisch zieht, liegt der alte Hans und lässt es gutmütig zu, dass ihm Stefan frech an den Ohrlappen zupft. Eigentlich noch ein Kind, ist der Älteste bereits recht kräftig und kann schon gut mithelfen in der Wirtschaft – muss mithelfen, weil es die Knechte nicht mehr ausgehalten haben. Das ganze Gesinde, bis auf Mari und den alten Hans, ist vor zwei Wochen fort, sie haben nicht bis Lichtmess warten wollen. Der Millingerin ist es egal gewesen. „Drei, vier Jahre noch, und wir brauchen die Knechte nicht mehr“, hat sie gesagt und dabei auf den Stefan gedeutet. Er ist blond wie seine Mutter, und ganz wie sie wird er sehr rot im Gesicht, wenn er arbeitet. Letztes Jahr hat er einen steilen Berghang das erste Mal ganz alleine mit der Sense heruntergemäht, er kann sich anstrengen wie ein Pferd und schwitzt dabei sehr stark. Auch seine Mutter schwitzt viel. Nicht selten riecht sie sauer und stallschwer zugleich.
Das schwarze Tintenfass aufschraubend, schnuppert er in Richtung seiner Frau und findet erleichtert, dass sie schon ihren Festtagsgeruch an sich hat, einen Kernseifengeruch, der so frisch ist, dass er heute Nacht nicht in Versuchung geraten wird. Versuchung, warum eigentlich in Versuchung? Ist er denn nicht berechtigt, die Ehe zu vollziehen, wann er das will, ist er nicht der Mann im Haus? Er tunkt eine Feder, die vom vielen Nachschärfen eigentlich zu kurz ist, in die Tinte und setzt seine vorhin unterbrochene Eintragung fort: Schon seit zwei Wochen listet er die Häretiker auf, alle, die von der katholischen Religion abgefallen sind: die Arianer, Waldenser, Albigenser, die Hussiten. Und nun ist er bei den wichtigsten Falschgläubigen angelangt, bei den Lutheranern. Über den abtrünnigen Mönch Martin Luther hat er schon oft etwas gelesen, über seine Heimsuchung durch den Teufel und seine schändliche Auslegung der Heiligen Schrift. Nun schreibt er auf, dass sich der Ketzer anno 1523 mit Katharina von Bora verehelicht hat, einer entlaufenen Nonne, die ihm sechs Kinder zur Welt gebracht hat, und es geht ihm durch den Kopf, dass auch die Millingerin mit Vornamen Katharina heißt und dass sie erst vor vier Monaten mit der Notburga niedergekommen ist. Wenn er Stefan anschaut, der gerade dem alten Hans die Socken auszieht, um ihn an den krummen Zehen zu kitzeln, muss er sich sagen, dass sechs Kinder genug sind, denn der Älteste wird, wenn er den Hof übernimmt, die Geschwister auszahlen müssen. Bleibt es so, wie es ist, bekommen alle fünf einen ordentlichen Batzen Geld mit auf den Weg, haben alle fünf Aussichten auf eine gute Partie – aber wenn es mehr werden, zehn oder elf, bleibt für den Einzelnen nicht mehr so viel übrig, dann werden sie Kleinhäusler heiraten müssen. Insbesondere für Katharina wünscht er sich etwas Besseres, wünscht er sich eine gute Stube, in der sie sich wärmen kann. Die Älteste ist ganz anders geraten als ihr Bruder Stefan, dunkelhaarig, blass und kränklich hockt sie mit angezogenen Beinen auf dem Rand des Kanapees und drückt ihren verfrorenen Rücken an den Ofen. Katharina hat in der Schule schnell Lesen und Schreiben gelernt. Wenn er, Leonhard Millinger, einen längeren Eintrag fertiggestellt hat, gibt er ihr sein Buch und bittet sich Stille aus. Katharina muss dann eine Stelle vorlesen, und Stefan hört für ein paar Minuten auf, seinen Schabernack zu treiben, die Millingerin lässt das Stricken sein und der alte Hans richtet sich auf seiner Bank auf aus Respekt vor dem Bauern. Aber alle tun nur so, als ob sie zuhören, sie müssen so tun, weil er der Hausherr ist. Wenn er sie fragen würde, was sie gehört haben, könnten sie ihm überhaupt nichts antworten – außer Mari, die für alles, was sie hört, eigene Gedanken hat.
Der Katharina ist der Luther lieber als das Kloster, schreibt er mit schönem Schwung in sein Buch. Die Feder ist besser, als sie aussieht, sie kratzt kaum über das Papier. Überschriften und Wortanfänge rot zu markieren, hat er bei seinem Onkel Simon, Viertelschreiber von Fieberbrunn, bei dem er seine jungen Jahre verbracht hat, gelernt. Er steckt die Feder ins schwarze Glas, dann schraubt er vorsichtig das grüne auf. Die Millingerin soll sehen, dass er grünfarbig schreiben kann, wann immer er das will! Wenn sie auch nur einen abfälligen Blick tut, hier vor den Kindern und dem Gesinde, dann zieht er sie wirklich hinaus in den Regen und haut ihr den Hintern mit dem Treibstecken schwielig – ihren Hintern, den sie ihm so bereitwillig hinstreckt, wenn er sich wieder einmal nicht beherrschen kann. Er wird ihr diesen Hintern zerhauen und dann endlich seine Ruhe haben vor ihr. Er wird nicht wieder diese ekelhafte Gier auf sie entwickeln, wenn sie sich am Abend auszieht, wenn sie durch die Schlafkammer schweißelt, wenn sie sich die Röcke hochschiebt und wenn ihn der Bocksgeruch, der darunter hervorkommt, ganz von Sinnen macht.
Eine gute Zeit hat er eigentlich nur noch im Frühsommer, dann, wenn er mit der Mari hinaufzieht auf die Alm. Eine ganze Woche bleiben sie oben, sie klauben Steinbrocken aus den Wiesen und richten die Knüppelzäune, und am Abend sitzen sie in der Hütte und es ist nichts zu hören als das Brunnenwasser, das draußen in den Holztrog plätschert. Dort kann er in Ruhe
schreiben, denn dort ist kein Hans, der sich das Lachen nicht mehr verbeißen kann, weil ihn Stefan unbarmherzig kitzelt; dort gibt es nicht die mittleren Töchter Barbara und Maria, die auf der Ofenbank um einen Packen bunte Spielkarten zu zanken beginnen, und das Stricknadelklappern der Millingerin gibt es schon gar nicht. Wenn Mari strickt, ist das kaum zu hören. Immer bevor sie auf der Alm zu Bett gehen, will sie wissen, was er gerade geschrieben hat. Dann liest er ihr alles vor, und meistens nickt sie dazu. Manchmal aber fragt sie nach, und dann reden sie für eine halbe Stunde in schönster Eintracht miteinander, es ist ganz anders als hier unten im Tal, wo sie für Tage oder Wochen kaum einmal mehr als zwei Sätze miteinander wechseln. Es ist, als sparten sie sich alle Wörter für diese eine Woche in den Bergen auf. Dort reden sie dann über die Märkte und Städte in der näheren und ferneren Umgebung von Waidring, deren Namen, Größe und Bedeutung er aufschreibt; sie mutmaßen über entlegene Länder in Asien und Europa, deren Bevölkerungen, Hauptstädte und Handelsgüter er in seine Bücher eingetragen hat. Ganz besonders gerne bringt Mari aber das Gespräch auf die verschiedenen Abschnitte der Heiligen Schrift, deren Inhalt er bereits gänzlich zusammengefasst hat. Nur über die Kriegsbeschreibung, die er vor zwei Jahren begonnen hat, will sie nicht reden. Sie ist der Meinung, dass niemand diese Sachen lesen soll, schon gar kein junger Mann, der noch nicht weiß, wie schnell er seine Kraft und seine Gesundheit an die Schwerter und die Kanonen verlieren kann.
Sieben Monate wird es noch dauern, bis er wieder mit der Mari auf die Alm kann, sieben Monate, in denen er abends hier in der Stube hocken wird, ohne mehr als einen Eintrag von wenigen Zeilen zu machen. Wenn, wie jetzt, die Unruhe zu groß wird, wenn Notburga zu raunzen beginnt und Barbara zu jammern, weil Maria die Spielkarten auf dem Bretterboden verstreut hat, denkt er an das Kabinett seines Onkels Simon, in dem ein Tischchen steht mit Tintenfässern darauf und eine große Truhe mit Büchern darin. Wenn der Onkel mit dem Schreiben fertig ist, lässt er sein Buch einfach liegen, und wenn er aus dem Kabinett geht, knarzt er die Türe hinter sich zu und schließt sie ab.
Im Ponerhof gibt es nur vier echte Kammern: Eine für den Bauern und seine Frau, eine für die Eltern und zwei für die Kinder. Die beiden falschen Kammern, die auf die Rehm hinausgehen, stehen jetzt, wo das junge Gesinde weg ist, beinahe leer. Aber er kann ja nicht die Mari und den alten Hans zusammenlegen, denn der Hans ist so gutmütig nicht, wie er immer tut. Er hat die Mari schon als junges Mädchen immerzu gezwickt und ist ihr auch manchmal nachgestiegen ins Heu, und es heißt, dass er einer anderen Magd, die lange beim Gorgiser gewesen ist, ein Kind gemacht hat. Wirklich getraut hat sich Hans bei der Mari aber nie. Mit sieben Jahren ist sie als Kostkind auf den Hof gekommen, und mit ihr ist alles viel leichter, selbstverständlicher gewesen als mit Leonhards eigenen Schwestern, die immer nur im Haus und in der Küche haben arbeiten wollen, aber nie draußen oder auch nur im Stall. Mari hingegen hat gleich ähnlich gut mit dem Vieh umgehen können wie er selbst, und so ist es kein Wunder gewesen, dass sie mit zehn Jahren Almkinder geworden sind, dass sie im Juli mit einer unverheirateten Tante und den Kühen auf den Berg gezogen sind und dort den Sommer verbracht haben, jeden Sommer, bis er siebzehn und die Mari fünfzehn Jahre alt geworden sind.
In sieben Monaten dürfen sie wieder gemeinsam hinauf, schön wird es sein, wenn sie hintereinander her durch den frühjahrslichten Bergwald steigen werden. Es wird alles so leicht sein, trotz der vollen Kraxen, die auf ihre Schultern drücken werden, denn dort drinnen werden nicht nur Brot und Speck sein, sondern auch zwei oder drei von seinen Büchern. Sie werden die Ersten sein, die den Almboden wiedersehen nach dem langen Winter, tintenfassblau der Enzian, versalienrot der blühende Almrausch. Sie werden ihre Last vor der vernagelten Hütte abstellen, und, nebeneinander auf der Türschwelle sitzend, tief verschnaufen und hinunterschauen ins Tal, das sie eine ganze Woche lang nicht zu kümmern braucht.
Die Millingerin steht auf und nimmt Mari die raunzende Notburga aus der Hand, dann setzt sie sich wieder auf ihren Platz und knöpft ihr Mieder auf. Als sie ihren Busen hervorholt, brennt ihm für einen Augenblick ihre Brustwarze rot entgegen, dann verschwindet sie im gierigen Mund des Kindes.
Leonhard versucht sich zu konzentrieren, versucht aufzulisten, was Luther in die Welt hinausgeketzert hat: Dass es keinen Papst geben soll, keinen Stellvertreter Christi auf Erden. Und der Herr Jesus soll nicht anwesend sein während der heiligen Wandlung und das Fegefeuer soll nichts anderes sein als eine Erfindung der Menschen. Nur den Himmel soll es geben und die Hölle, dazwischen soll rein gar nichts sein, aber dass sich der abgefallene Mönch das nur ausgedacht hat mit seinem Hirn, ist keine Frage. Denn Himmel und Hölle hat Gott nicht für das Gehirn gemacht, sondern für die Seele, und wenn sie für die Seele sind, kann man sie spüren. Eine Ahnung vom Himmel ist in Leonhard, wenn er mit Mari hinaufsteigt auf die Alm, eine Vorstellung von der Hölle ist in ihm, wenn er wieder hinuntermuss. Dazwischen ist das Fegefeuer, immer spürt er den brennenden, aufzehrenden Schmerz – nur nicht, wenn er schreibt, denn dann denkt er über fremde Städte und Länder nach, dann merkt er seine Seele nicht, sondern bloß sein Hirn.
All das hat mit dem roten Rock angefangen, mit einer Fahne, die am Ast einer Erle geflattert ist. An jenem unseligen Sonntag vor nunmehr zehn Jahren ist er am Millauer Mühlbach entlanggewandert, er hat den Rock gesehen und ist sofort näher herangepirscht, weil er schon gewusst hat, was ihn erwartet. Vor ein paar Tagen erst hat ihm der alte Hans hinter vorgehaltener Hand von der Müllerstochter erzählt, die so gerne badet. Nun schleicht er sich hinter einen Felsbrocken, der einen Riss hat, und durch diesen Riss kann er hinunterschauen ins Bachbett. Dort schwallt das Wasser weiß in eine Gumpe, es dreht sich in dem steinernen Becken im Kreis, es strudelt um die nackten Beine der jungen Frau, die bis zu den Knien darin steht und zittert. Der Bach rauscht über die Ufer, rauscht zu Leonhard herauf und rauscht durch ihn hindurch, schwemmt ihn so weit weg von sich selbst, dass er nicht aufhören kann, die Frau anzustarren. Über der Gumpe steht die Sonne, ihre Strahlen blonden auf dem Kopf der Frau, blonden zwischen ihren Beinen, und ihre Brustwarzen sind spitz vor Kälte. Jetzt holt sie tief Luft, jetzt sinkt sie bis zum Hals in den Strudel und schnellt gleich wieder daraus hervor, und das Wasser auf ihrer Haut glitzert Leonhards Augen blind. Als er wieder sehen kann, steht sie bereits am Rand der Gumpe, sie will hinauf zu ihrem Gewand, will sich trocknen und anziehen, aber da ist wieder ein lautes Brausen und Rauschen in Leonhard. Es schwemmt ihn aus seinem Versteck, es spritzt ihn hinüber zu dem Erlenbaum und wäscht ihm den Rock in die Hände. Noch ehe er weiß, was er tut, schwenkt er ihn in rotem Triumph über seinem Kopf, er sieht, wie der Müllerstochter das kalte Erschrecken in die Glieder fährt und sie sich ihre Hände vor die Scham schlägt, aber er erbarmt sich nicht, er wirft ihr die Fahne nicht einfach zu und läuft dann nicht mit einem Scherz auf die Wiese hinaus und wartet dort nicht auf sie, bis sie, sittsam angezogen, herauskommt und mit gesenktem Blick an ihm vorbeigeht. Er folgt ihr nicht den Bach entlang und fragt sie nicht, ob er ihr am kommenden Sonntag ein Handtuch vorbeibringen darf und ein Stück Seife, sagt ihr nicht, dass er immer dann, wenn sie sich baden will, zu ihrer Verfügung stehen und scharf aufpassen wird, dass ihr auch ja kein anderer Bursche zu nahe kommt. Und sie lacht nicht verschämt und die Röte erwärmt nicht ihre Wangen. Sie gehen nicht zusammen zurück zur Mühle, und als es Zeit ist, sich zu verabschieden, sagt er nicht, dass er am nächsten Sonntag wiederkommen wird, er sagt nicht, dass er bei der Gumpe auf sie warten wird, ein, zwei Stunden warten, und das bei jedem Wetter.
Als der nächste Sonntag kommt, ist er krank, er fiebert und kann nicht zum Gottesdienst. Erst Wochen danach wagt er sich zur Beichte. Es würgt ihn, als er vor dem Fensterchen kniet, hinter dem nicht der Herr Pfarrer sitzt, sondern der Herrgott selbst, es würgt ihn, weil er so voll ist von seiner Verdorbenheit, und in seinem Kopf fängt es an zu rauschen und zu schäumen und er sieht alles wieder vor sich, aber er kann nichts sagen, er sagt, was er schon beim letzten Mal gesagt hat, nämlich, dass er ungehorsam gegen den Vater gewesen ist und dass er seine Schwestern nicht wirklich liebt.
Nach zwei, drei Monaten wird es ihm etwas leichter, aber dann sitzt der Müller plötzlich mit dem Vater bei Speck und Brot in der Stube. Eineinhalb Wochen später verkündet der Herr Pfarrer in der Kirche das Aufgebot. An die Hochzeit kurz vor Allerheiligen erinnert er sich nicht, nicht an den Gottesdienst und nicht an den Tanz im Wirtshaus, er weiß nur noch, dass er verzweifelt Schnaps geschluckt hat, ohne auch nur im Mindesten betrunken zu werden. Dafür sieht er die falsche Kammer, die eilig umgeräumt worden ist, vor sich, sieht die zusammengeschobenen Betten der Mägde, die knistersteifen Federbetten, auf denen ein Strauß weißer Blumen liegt. Es sind Maris Herbstastern. So vernarrt ist sie in diese Pflanzen, dass sie sie mit einer Decke vor den ersten Frösten schützt, damit sie länger blühen.

„Kinder, es ist Zeit!“ Die Millingerin legt ihr Strickzeug auf den Tisch, das Schafwollknäuel rollt über Leonhards Buch. Gut, dass die Tinte schon trocken ist. Sie steht auf und scheucht Barbara und Maria von der Ofenbank. Der Vater brummt zustimmend vom Ofen herunter, er ist sehr dafür, dass die Kinder früh in die Betten kommen. Der Wollfaden liegt diagonal über dem Luther-Eintrag, streicht alles durch, was Leonhard an diesem Abend geschrieben hat. Es wird noch dauern, bis Stefan, den die Millingerin gerade von der Bank zieht, weit genug ist. Dann erst wird vielleicht eine der falschen Kammern frei, dann kann er sich dort ein Kabinett einrichten, dann erst wird ihn niemand mehr beim Schreiben stören. Niemand bis auf Mari, die ihm manchmal einen Krug Bier hinüberbringen wird im Sommer oder einen im Kachelofen warm gemachten Stein für die kalten Füße im Winter.

Die Texte des Bauern sind im Orginal online nachzulesen unter: https://millinger-archive.acdh.oeaw.ac.at/pages/toc.html?collection=editions. Außerdem gibt es eine Dissertation aus dem Jahr 2015 von Peter Andorfer, Universität Innsbruck: https://diglib.uibk.ac.at/ulbtirolhs/content/pageview/747718

 

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