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Morag Landvermessung No. 6, Sequenz 5, bei Schluderbach, Hotel am See

Geschichten kann man auch durch geometrische Operationen auf der Landkarte generieren: In Quart folgen unterschiedliche Autoren mit unterschiedlicher Kondition unterschiedlichen Linien (s. Übersichtskarte). Wir befinden uns derzeit auf der Geraden, die von Obermauern im Osttiroler Virgental Richtung Südtirol und weiter ins Trentino führt. Daniel Wisser wurde aufgehalten und wartet auf den Neumond.

Gerne gehe ich zu Fuß. Gerne gehe ich lange zu Fuß, tagelang, aber ich muss gestehen, die Route, die Landschaft, ja selbst die eindrucksvollste Kulisse ist an mir verschwendet. Ich blicke meist zu Boden. Das Gehen ist auch keine Inspiration, es bringt mir keine Einfälle, keine neuen Sätze, sondern ich bleibe dabei bei einer Geschichte hängen, die ich immer und immer wieder durchdenke. Diese Geschichte ist niemals von mir, ich habe sie entweder irgendwo gehört oder gelesen, oder ich weiß gar nicht mehr genau, woher sie stammt. Vielleicht denke ich kurz, dass die Geschichte doch von mir ist. Doch was heißt schon ich und von mir, wenn man mit jedem Schritt weiter in einer Landschaft verschwindet?

1

Zum Hotel gehören zwei Boote, zwei kleine gelbe Boote, für die man gegen Kaution einen elektrischen Außenbordmotor bekommt. Gestern ließ ich mir zeigen, wie man diesen Motor montiert. Gestört hat mich nicht, dass er klein ist und man damit nur sehr langsam vorankommt, sondern dass, um ihn zu betreiben, eine Autobatterie im Boot sein muss. Die Kombination aus Wasser und Elektrizität macht mich ängstlich. Ich nehme also die Holzruder. Damit ich vom Rudern keine Schwielen an den Fingern bekomme, habe ich mir in einem Sportgeschäft im Städtchen Radfahrerhandschuhe gekauft.
Am Dienstag rudere ich nach dem Mittagessen auf den See hinaus. Es ist mein vierter See. Die anderen drei habe ich bald wieder verlassen. Dieser hier scheint mir richtig. Schnell finde ich auch eine geeignete Stelle. Hier ist das Wasser tief. Ich hoffe, dass ich ohne Licht bei Neumond in der Nacht hierherfinde. Übermorgen, am Donnerstag, ist Neumond.
Beim Abendessen fällt mir eine junge Frau auf, die sich ganz alleine an den letzten Tisch gesetzt hat. Ich weiß nicht, warum ich diese junge Frau ständig anstarren muss. Ich versuche mich zu zwingen, nicht zu ihr hinüberzublicken. Zweimal erwischt sie mich, als ich sie betrachte, und lächelt mich an, bis ich wegschaue.
Wie immer bin ich mit dem Essen schnell fertig und bitte den Kellner, alles auf meine Zimmerrechnung zu schreiben. Dann gehe ich und fahre mit dem Lift hoch in den dritten Stock. Als ich aussteige und den Korridor entlang zu meinem Zimmer gehe, kommt die junge Frau, die ich soeben beim Abendessen nicht anstarren wollte, die Treppe hoch und geht ebenfalls auf ein Zimmer zu. Eines ihrer Augenlider hängt leicht herunter. Ihr Gesicht ist voller Sommersprossen und doch wirkt sie nicht fröhlich. Diesmal lächelt sie auch nicht. Als ich bei meiner Zimmertür ankomme, sehe ich, dass ihr Zimmer nur zwei Türen weiter ist.
„Sprechen Sie Deutsch?“
„Ja, akzentfrei.“
„Oh, entschuldigen Sie! Wie dumm von mir.“
Im Zimmer angekommen schreibe ich unseren Dialog wortwörtlich auf den kleinen Notizblock mit dem Hotellogo. Wie gut, denke ich, dass sie ihre Frage dumm fand. Ich fand meine Antwort dumm.

2

Am Mittwoch sitze ich schon viel zu früh beim Abendessen. Die junge Frau mit dem Hängelid, die ich am Vortag angestarrt habe, kommt erst spät, als ich schon beim Dessert bin. Es tut mir leid, dass ich keinen anderen Namen für sie habe. Sie ist schön. Und ich freue mich, sie zu sehen. Beides ist nicht gut. Sie trägt ein elegantes bodenlanges Kleid. Als sie an meinem Tisch vorbeigeht, bleibt sie kurz stehen.
„Guten Morgen!“
„Guten Morgen!“
„Waren Sie morgens im Frühstücksraum? Ich habe Sie vermisst.“
Um nicht wieder etwas Dummes zu sagen, antworte ich nicht. Habe ich sie vermisst? Ich vermisse nicht mehr, niemand mehr. Aber das muss ich nicht aussprechen. Ich versuche nicht, in ihre Richtung zu blicken. Ich spreche sehr leise:
„Bitte entschuldigen Sie, aber ich habe es aufgegeben, jemand zu vermissen.“
„Das verstehe ich. Es wird härter bei jedem Tag, nicht wahr?“
Sie geht weiter zu ihrem Tisch. Ich stehe auf, gehe auf mein Zimmer und schreibe sofort den Dialog auf. Vor allem der seltsame Ausdruck bei jedem Tag geht mir nicht aus dem Kopf. War das ein ungewollter Anglizismus? It’s getting harder by the day, isn’t it? Ich überlege lange und bin nicht sicher, ob ich ihre Worte nicht falsch verstanden habe. Später bin ich überzeugt, dass ich sie falsch verstanden habe.

3

Am Donnerstag sitzt sie bereits am Tisch, als ich in den Speisesaal komme. Bevor ich mich setzen kann, winkt sie mich zu sich. Ich habe noch immer keinen Namen für sie. Sie winkt noch einmal. Erst bin ich unsicher, ob sie mich meint, dann gehe ich zu ihrem Tisch. Wieder trägt sie den wollenen Umhang, bestimmt feinstes Kaschmir, denke ich.
„Ich möchte Sie bitten, sich an meinen Tisch zu setzen.“
Noch ehe ich sitze, streckt sie mir die Hand entgegen.
„Ich bin Morag. Nur damit ich einen Namen habe und nicht die Frau mit der Ptosis bin.“
Ich schüttle den Kopf. Sie zeigt auf ihr rechtes Auge.
„Das Hängelid. Angeboren.“
„Sie sind wunderschön.“
„Damit haben Sie sich schon den Champagner verdient, den ich bestellt habe.“
Als der Kellner mit der Flasche kommt, bedeutet Morag ihm, ein zweites Glas zu bringen. Morag lächelt manchmal und rückt ihren eleganten wollenen Umhang zurecht. Aus Verlegenheit spreche ich ihren Namen aus: „Morag.“
„Ja, Morag, wie das schottische Lake-Monster.“
Bei diesem Wort hört man ihren britischen Akzent. Oder höre ich ihn jetzt nur, weil sie mir ihren Namen gesagt hat und weil sie Schottland erwähnt hat?
„Und wie heißen Sie?“
Zögerlich sage ich meinen Namen. Dann sprechen wir viel während des Essens. Ich merke mir nichts davon. Der Champagner hat mich aufgekratzt. Der Rotwein danach müde gemacht. Morag hat bezahlt. Das ließ sie sich nicht nehmen. Ich sage, dass ich sehr müde bin. Als ich mich verabschiede, möchte ich sie auf die Wange küssen, aber sie weicht zurück.
Später im Zimmer sitze ich vor dem Hotelblock und versuche alles aufzuschreiben. Aber ich schreibe nur ein Wort: PTOSIS.

5

Kurz nach Mitternacht gehe ich los. Ich habe eine kleine Taschenlampe mit und gehe zum Steg. In meinem kleinen Rucksack ist alles bereit. Am Steg angekommen, bemerke ich, dass nur eines der beiden gelben Boote da ist. Ich ziehe die Fahrradhandschuhe an und rudere auf den See hinaus.
Es ist nicht schwer, die Stelle wiederzufinden, die ich mir gemerkt habe, nur sehe ich schon aus einiger Entfernung, dass dort ein Boot steht. Als ich näherkomme, sehe ich, dass es das zweite gelbe Boot des Hotels ist. Vielleicht liegt jemand im Boot und schläft, denke ich und rudere ganz in die Nähe. Doch im Boot befindet sich nur ein schöner wollener Umhang, den ich schon zweimal gesehen habe in den letzten beiden Tagen.

 

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