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„Sie retten die Sprache.“

Unbedeutendes Detail oder biografischer Wendepunkt? Paul Celan war im Sommer 1948 für zwei Tage in Innsbruck. Von Peter C. Pohl

Gewiss, Paul Celans kurzer Aufenthalt in Innsbruck im Sommer 1948 findet in der Celan-Forschung Erwähnung. Zumeist werden einige der folgenden Daten referiert. Der siebenundzwanzigjährige Dichter befand sich, aus Wien kommend, auf dem Weg nach Paris. Er kam am 4. Juli in der Tiroler Hauptstadt an und blieb eine Nacht. Am Vormittag des ersten Tages ging er in das Institut Français d’Innsbruck in der Karl-Kapferer-Straße, wo die Tochter des Brenner-Herausgebers Ludwig von Ficker als Bibliothekarin arbeitete, und lieh sich einen Roman aus. Am nächsten Tag suchte er den betagten von Ficker in Mühlau auf. Gemeinsam spazierte man zum Grab Georg Trakls, Celan legte dort Blumen sowie eine kurz zuvor abgebrochene Weidenrute nieder. Zwei Mal trug er im privaten Kreis Gedichte vor, darunter die Todesfuge. Das Gedicht, das die Grundlage seines späteren Ruhms bildete, war schon in Celans erstem Gedichtband Der Sand aus den Urnen (1948) erschienen. Jedoch ließ der Autor den in Wien, bei A. Sexl, gedruckten Band wegen schwerwiegender Druckfehler makulieren; in Mohn und Gedächtnis (1952) wurde das Gedicht erneut publiziert. Ein überarbeitetes Maschinenmanuskript des Erstlings ließ Celan am 5. Februar 1951 von Ficker zukommen. Es befindet sich im Brenner-Archiv der Universität Innsbruck.* Celan schrieb aus Innsbruck nicht zuletzt zwei Briefe: Einer ging an seinen in Bukarest lebenden Landsmann aus der Bukowina, Alfred Margul-Sperber, Celans Unterstützer und Vermittler; ein anderer an Celans Czernowitzer Geliebte Ruth Lackner, mit der er „eine Beziehung von großer Nähe [geknüpft hatte], die freilich nicht eine erfüllte Liebesbeziehung genannt werden kann“1. In den Briefen berichtet er von den privaten Lesungen und dem Eindruck, den er und seine Texte auf die Anwesenden machten.
Über die Aufreihung dieser Informationen kommt man in der Forschung, aus scheinbar guten Gründen, kaum hinaus. Zu flüchtig erscheinen die Begegnungen in, erscheint die Begegnung mit Tirol. Zu unbedeutend, zu friedlich, möchte man sagen, verhält sich das Ganze im Vergleich zu Celans sonstigen Widerfahrnissen. Bekanntlich richtet sich der Fokus der breiteren Öffentlichkeit auf die tragische Liebesbeziehung, die Celan und Ingeborg Bachmann unterhielten. Sie erlag drei Jahre nach Celans Freitod – er ertränkte sich im April 1970 in der Seine – schweren Verbrennungen, die sie sich zuzog, weil sie mit einer brennenden Zigarette eingeschlafen war. Überdies beschäftigt man sich mit Celans Problemen im deutschen Literaturbetrieb der 1950er Jahre. Während der Nienburger Tagung der auch aus ehemaligen Flakhelfern und Hitlerjungen bestehenden Gruppe 47 im Jahr 1952 lachte man den Exilanten aus. Man verglich seinen Vorlesestil gar mit der Sprechweise Joseph Goebbels’. Zudem bezichtigte die Witwe Yvan Golls Celan ab 1953 des Plagiats – eine infame Lüge, die sich auf Text-Zeugen stützte, die Claire Goll eigens manipuliert hatte. Und selbst ein prinzipiell positives Ereignis, die Verleihung des Bremer Literaturpreises 1958 an Celan – damals immerhin der zweitwichtigste Preis deutschsprachiger Literatur –,
war von unschönen Umständen begleitet, die dem späteren Preisträger größtenteils verborgen blieben: Es dauerte vier Jahre, ehe man sich auf den Kandidaten Celan hatte einigen können. Gewählt wurde er auch, weil man derart die Wogen zu glätten trachtete, die die Verleihung des Preises 1956 geschlagen hatte. Der Preis ging an Ernst Jünger, dessen provokativ militaristischer Auftritt für Unmut sorgte. Intensiv diskutiert wird nicht zuletzt das Werk des Dichters deutscher Sprache der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Celan, an den Ausdrucksmöglichkeiten der klassischen Moderne und Avantgarden geschult, drängte darauf, die Bedeutung des Gedichts grundlegend zu verändern. Wie er anlässlich einer Umfrage der Librairie Flinker 1958 schrieb, sei die deutsche Sprache nach dem Krieg zur „grauen Sprache“ geworden: Deutsche Lyrik nach 1945, „Düsteres im Gedächtnis, Fragwürdigstes um sich her“, sei „nüchterner, faktischer geworden, sie mißtraut dem ‚Schönen‘, sie versucht, wahr zu sein“.2 Das vom Gedicht zu vermittelnde Faktische war Celan die jüngste Vergangenheit, der nationalsozialistische Massenmord an den Jüdinnen und Juden, dem seine Eltern zum Opfer gefallen waren. Es ist die Shoah, die Celans Gedichte in die deutsche Sprache – seine Muttersprache und
die Sprache der Mörder seiner Eltern – bringen.
In Anbetracht dieser in mehreren Gedichtbänden umgesetzten poetischen Bestrebungen einerseits, des tragischen Lebensschicksals mitsamt seiner besonderen Feind-, Freund- und Liebschaften andererseits erscheint es naheliegend, die Innsbrucker Anekdote als eine Marginalie und Ausnahme aufzufassen. Als einen unbedeutenden Moment während einer mit großen Hoffnungen, aber auch Ängsten verbundenen Übersiedlung, der sich ein ernüchterndes, gleichwohl produktives Exil anschloss. Unterzieht man die Informationen über den Innsbrucker Zwischenstopp jedoch einer idiosynkratischen Lektüre, finden sich hier bereits feinste Haarrisse. Es sind, wohlverstanden, Geringfügigkeiten, die die hier favorisierte – nicht empfindsame oder einfühlende, sondern empfindliche – Leseweise fokussiert. Ihr Ziel ist es, dem Aufenthalt Celans in Innsbruck eine andere, womöglich „grauere“, Bedeutung abzugewinnen – was ihrem Gehalt keinen Abbruch leisten muss. Im Gegenteil. Wichtige Dokumente hierfür sind die Briefe von Fickers und Celans sowie die Erinnerungen von Birgit von Schowingen-Ficker, der damaligen Bibliothekarin. Mehrfach sah die später in Deutschland Wohnende Celan, zuerst an jenen Sommertagen 1948 in Innsbruck, sodann bei einem Trakl-Vortrag ihres Vaters in Paris 1953 und schließlich in Freiburg im Breisgau. Dort begegnete sie Celan sowohl anlässlich einer Lesung seiner Übertragungen aus dem Russischen 1967 als auch am 26. März 1970.
Letzteres war ein Ereignis, von dem Celan seinem Freund Franz Wurm ausführlich in einem Brief berichtet. Er spricht dort von einer „Lesung im kleinen Kreise. Heidegger war da, die Tochter Ludwig von Fickers, zwei Assistenten von Prof. Baumann, der eine von ihnen, er stammt aus Brünn, hatte schon vorher meine Gedichte ins ‚Absolut-Metaphorische‘ verrückt.“3 Der in Celans Brief erwähnte Assistent ist Gerhard Neumann. Er arbeitete hernach als ordentlicher Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an mehreren deutschen Hochschulen, zuletzt an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, und machte sich als Kafka-Interpret einen Namen. Zudem war er der Fahrer, der Celan und Heidegger 1967 zu Heid-
eggers Hütte in Todtnauberg und dann weiter „zum 35 Kilometer südöstlich von Todtnauberg gelegene Horbacher Moor“4 brachte. (Dazu weiter unten mehr.) Was Neumann 1970 in dem in Poetics publizierten Aufsatz Die ‚absolute‘ Metapher. Ein Abgrenzungsversuch am Beispiel Stéphane Mallarmés und Paul Celans schrieb, bezeichnet Celan als Ärgernis. In dem Aufsatz erklärt Neumann, dass der „Eigentlichkeitsgrund“ der Celan’schen Metaphern im Dunkel liege: „Ihr Bezug bleibt apokryph.“5 Das war, auf hohem Niveau gesprochen, eine gängige Umgangsweise mit Celans Gedichten. In der Laudatio, die der Wolfenbütteler Bibliotheksdirektor Erhart Kästner bei der Verleihung des Bremer Literaturpreises auf Celan hielt, bezieht er sich auf dasselbe titellose Gedicht der unmittelbaren Nachkriegszeit wie Neumann. Alles sei dort
„bloß aus Anklängen, Bilderketten und wörtlichen Wahlverwandtschaften gemacht, eine Sache der Worte unter sich sozusagen, eine Angelegenheit, die die Worte unter sich ausmachen sollen. Ich brauche hier nicht davon zu sprechen, daß dies alles seine lange Überlieferung und Begründung seit dem großen Mallarmé hat, ich brauche Ihnen die Namen, in deren Fluß so ein Dichten steht, die Namen Gerard de Nervals, Rimbauds, des großen Paul Valéry, Lautréamonts, Eluards, der Golls nicht oder nur eben zu nennen.“6
Celan wandte sich nach der Verleihung an Kästner und bat, den ihn peinigenden und für den Laudator peinlichen Vergleich mit dem Ehepaar Goll – dessen bessere und lebende Hälfte Celan ja des Plagiats bezichtigte – aus dem zu veröffentlichenden Text zu entfernen. Dies gelang Kästner nur halb. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung druckte am 31. Januar 1958 den Passus, die von Celans Verlag (DVA) erstellte Broschüre zur Preisverleihung weist den Vergleich dann, wie nachfolgende Drucke, nicht mehr auf. Wie Neumann schätzte Kästner Celans Lyrik wegen ihres ästhetischen Anspruchs auf Fortsetzung der Moderne. Doch Celan, es wurde angedeutet, war es dabei nicht ums Apokryphe oder um Bilderketten bestellt. Seine Gedichte hatten Wirklichkeit – ihre Daten waren, wenn man sie denn verstehen wollte, unmissverständlich.
Birgit von Schowingen-Ficker nun ist nicht nur Zeitzeugin dieser denkwürdigen Konstellationen, sondern vielmehr selbst Akteurin. Auch sie erinnert sich „nach Heideggers Tod, wohl 1976“, an die Lesung bei Prof. Baumann:
„Celan las aus Sprachgitter (?)[.] Schweigen, Beklommenheit, sein unaussprechlich selbstzweiflerischer, fast kindlicher, unvergeßlicher Ausdruck. Ich sagte ihm: ‚Vous sauvez la langue[.]‘ [Sie retten die Sprache.]
Wohl hat er Sprache an äußersten Grenzen hörbar, fühlbar gemacht, feinste Sprachregungen zum Schwingen gebracht, aber ihn selbst konnte die Sprache nicht retten … Seine Leiche wurde am 5. Mai 1970 aus der Seine geborgen.“7
Die Freifrau verortet Celans dichterische Befähigung in einer Art synästhetisch-haptischen Erweiterung des sprachlich Möglichen durch Konzentration aufs ästhetische (Klang-)Material. Dass auch ihr das von Celan Angestrebte entgangen zu sein scheint, macht ihr Umgang mit jenem Gedicht deutlich, das sie der Erinnerung an Martin Heidegger (!) handschriftlich hinzufügt. Todtnauberg enthält Zeilen, die Celan nach dem Besuch von Heideggers Hütte 1967 in deren Gästebuch eingetragen hatte. Das Gedicht nimmt sie auf und spricht
„von
einer Hoffnung, heute,
auf eines Denkenden
kommendes
Wort
im Herzen,
[…].“8

Die Annahme, die angesprochene Hoffnung hätte darin bestanden, Heidegger würde sich zum Nationalsozialismus und seinem Wirken während dieser Zeit äußern, ist naheliegend. Ein Brief Celans an seine Frau, Gisèle Celan-Lestrange, vom 2. August 1967 bestärkt die Vermutung:
„Heidegger war auf mich zugekommen – Am Tag nach meiner Lesung bin ich mit Herrn Neumann […] in Heid-
eggers Hütte im Schwarzwald gewesen. Dann kam es im Auto zu einem ernsten Gespräch, bei dem ich klare Worte gebraucht habe. Herr Neumann, der Zeuge war, hat mir hinterher gesagt, daß dieses Gespräch eine epochale Bedeutung hatte. Ich hoffe, daß Heidegger zur Feder greifen und einige Seiten schreiben wird, die sich auf das Gespräch beziehen und angesichts des wieder aufkommenden Nazismus auch eine Warnung sein werden.“9
Die Hoffnung, die nicht allein Celan hatte, trog bekanntlich. Heideggers Äußerungen über die NS-Zeit im Rückblick stehen in puncto Verbindlichkeit denkbar weit hinter den Aussagen während der NS-Zeit zurück.
Auch von Schowingen-Ficker bekümmert sich in ihren Reminiszenzen wenig um das Celan Bedrängende: den aufkommenden Antisemitismus, die Goll-Affäre – und die auf seinem dichterischen Medium lastende Vergangenheit. Vielmehr firmiert Celan als Retter einer Sprache, die – nicht die der ermordeten Mütter und ihrer Mörder – die Sprache einer fernen Vergangenheit ist. Es könnte nun wohlfeil erscheinen, das in einfühlsamer Rhetorik verpackte Unverständnis einer Lyrik gegenüber zu monieren, die wahr und unschön sein will, aber kompliziert ist und oft hermetisch wirkt. Ist es nicht kleinlich, der literarisch überaus Gebildeten fehlendes Gespür für Subtiles und Schwieriges vorzuwerfen, das sich historisch und literarisch vermeintlich noch besser Informierten nicht erschlossen hat? Ja, aber gerade die kleinen Missverständnisse in dem Celan zweifelsohne wohlgesonnenen Umfeld ergänzen das Wissen über dessen Schwierigkeiten, künstlerisch und menschlich Fuß zu fassen. Man kann derlei Probleme aus unterschiedlichen Sozialisierungen, divergenten kulturellen Positionen und abweichenden Ansprüchen erklären –
allesamt Aspekte, die es für eine historisch fundierte Annäherung an Celans Leben, Werk und Wirkung zu bedenken gilt. Ihre Relevanz bestätigt auch von
Schowingen-Fickers Erinnerung an das erste Treffen:
„Als Paul Celan auf der Reise von Wien nach Paris 1948 in die Bibliothek des Institut Français in Innsbruck, die ich damals führte, eintrat – an jenem Vormittag kannte ich noch nicht seine Bedeutung als Dichter –, wurde mir ein starkes Erlebnis zuteil: Freudig wurde mir bewußt, daß es die Welt noch gibt, die zu meiner Kindheit und Jugend und später immer wieder zu meinem Leben gehörte, die der sensitiven, feinen jüdischen Erscheinungen, die das geistige Leben in Österreich bereicherten.“10
Allein, diese Welt von gestern war nicht mehr vorhanden – wohl aber das Bedürfnis, Celan zum Repräsentanten einer Vergangenheit zu stilisieren, deren Untergang Grundlage seiner Dichtung war. Solcherlei Vereinnahmungsstrategie ist anderen Zuschnitts als die von den westdeutschen Vertretern des literarischen Feldes gewählte Taktik. Positionierten sie Celans Lyrik in der Kontinuitätslinie der ästhetischen Moderne, sahen die von Fickers ihn die jüdische Tradition fortsetzen. Aus Celans Gedichten hörte Ludwig von Ficker eine „ergreifende Rückverbundenheit […], die aus der Weise der Lasker-Schüler sprach und nun in ihnen elegisch nachklingt“.11 In blumigen Worten beklagt er die Zerstreuung der Juden, die scheinbar aus der absteigenden okzidentalen Moderne resultierte, gegen die der Brenner bereits in der Zwischenkriegszeit ein programmatisches katholisches Gegengewicht zu formieren suchte. Die heilsgeschichtliche Vorstellung eines christlichen Europa vor Augen, begann man das Bild vom Judentum zu differenzieren.12 Es wurde nun weniger als Symptom einer verpönten Zivilisation denn als monotheistisches Gegenmodell aufgefasst. Wenn von Ficker Celan mit der ihm hochgeschätzten, kurz zuvor im Heiligen Land verstorbenen Lasker-Schüler verglich, dann weil er Celan in erster Linie als jüdischen Dichter verstand.
Celan habe die Bezugnahme auf Lasker-Schüler anfangs irritiert, wie er Alfred Margul-Sperber mitteilt. Er war zum Brenner-Herausgeber gekommen und hatte ihm Gedichte vorgelesen.
„Es war nicht leicht für mich, dem Freund Trakls Gedichte vorzulesen, Ludwig von Ficker gehört auch nicht mehr zu den Jüngsten […], bei solchen Menschen darf man auch vermuten, daß sie die Freundschaft eines Dichters wie Trakl anderen Dichtern gegenüber verschließt […] und so war ich eigentlich darauf gefaßt, nicht die Aufnahme zu finden, die ich mir erhoffte.“13
Und doch kam es anders; denn man habe ihm gesagt, er sei
„dazu berufen, das Erbe von Else Lasker-Schüler anzutreten. Zu diesen Worten wußte ich mir anfangs nichts genaues zu denken, weil ich – zu meiner Schande sei es gestanden – zu Else Lasker-Schülers Gedichten eine viel weniger starke Beziehung habe als etwa zu Trakl und Eluard, und auch deshalb, weil ich nicht wußte, was diese Gedichte Ludwig von Ficker bedeuteten.“14
Es habe ihn, Celan, besonders gefreut, dass von Ficker dann „ganz auf das Jüdische meiner Gedichte einging – Sie wissen ja, daß mir viel daran liegt.“15 Dennoch kann man vermuten, dass Celans primäres Anliegen die Suche nach ästhetischen Gewährsmännern und -frauen war. In Wien hatte er im Kreis um die Zeitschrift Plan surrealistische Unterstützer wie Edgar Jené gefunden. Das Buch, das er sich im Institut Français auslieh, Au château d’Argol (1938) von Julien Gracq, enthält eine Dreiecksgeschichte. In ihrem Verlauf nimmt sich eine von zwei Männern begehrte Frau das Leben, ehe der eine Liebhaber den anderen tötet. Aber von Handlung kann in diesem surrealistischen Text kaum gesprochen werden: Gracq stand im Banne André Bretons.
Celan sah sich mithin nach avantgardistischen Netzwerken um. Und er unterstrich dies auch mit dem Versuch, von Ficker um Hilfe bei der Suche nach einem Verlag für seine Gedichte zu bitten – Gedichte, in denen mit Kritik am Christentum nicht gespart wird. Wie von Ficker ihn in seinen ästhetischen Bestrebungen missverstand und theologisch einnahm, hatte er die Lage in Innsbruck womöglich falsch eingeschätzt. Mit dem einstigen Förderer des Expressionismus über das Judentum zu sprechen, war so eine ambivalente Angelegenheit: Einerseits dürfte sie Celan in seinem Unternehmen bestärkt haben, als Jude modernistische Lyrik in deutscher Sprache nach Auschwitz zu schreiben, andererseits dürfte sie ihm die Komplexität des Unterfangens neuerlich bewusst gemacht haben. Innsbruck war daher weder eine biografische Marginalie noch ein Wendepunkt, weder ein Detail noch ein zentrales Ereignis, sondern vielmehr eine symptomatische Konstellation. An ihr lassen sich im Kleinen größere Lebens- und Werkzusammenhänge studieren.

* Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Brenner-Archivs waren mir bei der Recherche behilflich und ich bin ihnen zu größtem Dank verpflichtet, allen voran Dr. Ursula A. Schneider.


1  Wolfgang Emmerich: Paul Celan (= rowohlts monographien). Reinbek bei Hamburg 1999, S. 41.
2    Paul Celan: Antwort auf eine Umfrage der Librairie Flinker, Paris, in: Paul Celan. Gesammelte Werke Bd. 1. Frankfurt am Main 2000, S. 167f.
3    Paul Celan/Franz Wurm: Briefwechsel, hg. von Barbara Wiedemann. Frankfurt am Main 2003, S. 239f.
4    Paul Celan: Sämtliche Gedichte, kommentierte Ausgabe, hg. von Barbara Wiedemann. Berlin 2018, S. 994.
5    Gerhard Neumann: Die ‚absolute‘ Metapher. Ein Abgrenzungsversuch am Beispiel Stéphane Mallarmés und Paul Celans, in: Poetics, 3 (1970), S. 188–225, hier S. 210.
6    Erhart Kästner: Wo Verschlüsselung ist, da ist Aufschluß. Aus Erhart Kästners Rede zur Verleihung des Bremer Literaturpreises an Paul Celan. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (31. Januar 1958), S. 8. So auch im maschinengeschriebenen Manuskript, das im Bremer Staatsarchiv unter: Staatsarchiv Bremen, Bestand 7,5284, lagert. Verändert dagegen schon in: Paul Celan: Ansprachen bei der Verleihung des Bremer Literaturpreises an Paul Celan. Stuttgart 1958, S. 3–9.
7    Nachlass Birgit von Schowingen-Ficker, M05 (Erinnerungen an Martin Heidegger), handschriftliche Notiz (62-01-14), Brenner Archiv Innsbruck.
8    Celan: Sämtliche Gedichte (s. Anm. 4), S. 286.
12    Sigurd Paul Scheichl: Aspekte des Judentums im Brenner (1910–1937), in: Walter Methlagl u. a. (Hg.): Untersuchungen zum Brenner. Festschrift für Ignaz Zangerle zum 75. Geburtstag. Salzburg 1981, S. 70–121.
13    Paul Celan: Brief an Alfred Margul-Sperber (6. Juli 1948), in: Neue Literatur. Zeitschrift des Schriftstellerverbandes der Sozialistischen Republik Rumäniens (H. 7, 26. Jg., 1975), S. 52.
14    Ebd.
15    Ebd.

 

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