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Marginaltext (7): Es ist noch nicht Zeit.

Mit dem Wort Marginalie wird gewöhnlich Nebensächliches bezeichnet, etwas am Rande oder an der Grenze einer Sache Liegendes. In Quart werden unter diesem Titel zentrale Texte über das Leben an der Peripherie neu veröffentlicht, die längst vergriffen oder nur schwer zugänglich sind, an entlegenen Orten aufbewahrt oder gar in Archiven verschwunden. Folge 7: Ein Text von Kundeyt Surdum, geboren 1937 in Istanbul, verstorben 2016 in Feldkirch. S¸urdum war Journalist und Schriftsteller (seine Gedichte erschienen u. a. im Piper-Verlag), außerdem Übersetzer, Gerichtsdolmetscher und Lehrer für türkische Kinder in Vorarlberg, wo er 45 Jahre lang lebte. Der vorliegende Text erschien unter dem Titel „Siehst du nicht, mein Kind, wie sehr der Bodensee dem Marmarameer gleicht?“ erstmals 1994.

Ich muß die alte Dame im Krankenhaus besuchen. Ich mag sie. Sie ist eine gute alte Dame. Andererseits muß ich die Müllabfuhrfrage lösen, Übersetzungen machen, Geld verdienen. Und eine Nichte oder Base oder wie sie auch genannt werden mag, möchte ich sehen. Ich habe Sehnsucht nach ihr. Irgendwie weiß ich, daß der Müllabfuhrwagen am Montag morgens um 8 Uhr kommt.
Zu früh für mich. Und dann kommt er am Donnerstag Mittag so gegen halb eins. Die Zeit ist zwar günstig, so daß ich ihn am Donnerstag nicht verpasse, doch kann ich nicht immer auf den Donnerstag warten, nur damit ich den Abfall loswerde.
Obwohl ich allein lebe, sammelt sich ein Haufen Abfall in meinem Zimmer an: Bananenschalen, Konservendosen und Papiere, Zeitungen und wieder Papiere. Die Papiere vergilben, wenn sie lange irgendwo liegen, aber sie stinken nicht. Viele andere Dinge stinken regelrecht. Deshalb muß ich sie schnell loswerden. Zuerst versuche ich es mit Nylontaschen, die man hier im Lande in jedem Geschäft bekommen kann; manchmal sogar kostenlos, wenn die Verkäuferin Sie öfters gesehen hat oder wenn Sie viel eingekauft haben. Da ich aber selten einkaufen gehe und, was ich kaufe, nicht ausreichend ist, um eine Nylontasche geschenkt zu bekommen, muß ich sie extra bezahlen.
Da die Müllabfuhr solche Säcke nicht annimmt, ging ich eines Tages auf einen Parkplatz und warf sie, indem ich mich vorher vergewissert hatte, daß mich niemand beobachtete, in einen Abfallkorb. Es war ein Abenteuer, das mich beschämte, obwohl ich nicht sicher bin, daß ich gegen Vorschriften gehandelt habe. Deshalb hab ich an einem Donnerstag auf die Müllabfuhr gewartet und vom Fahrer 10 große, schwarze Säcke gekauft. Die waren auch aus Nylon, darauf stand aber „Müllabfuhr Feldkirch“, dreimal untereinander. Sie wurden schnell verbraucht.
Da ich nicht wie ein Ausländer aussehe, trotzdem in gebrochenem Deutsch spreche und deshalb ein Ausländer bin, empfahl mir der Fahrer, beim Müllabfuhrzentrum eine billige, gebrauchte Mülltonne zu kaufen. Ich bedankte mich bei ihm für den guten Tip. Zuerst fand ich es auch selbst eine gute Idee, nachher allerdings umständlich, erstens deshalb, weil ich nicht soviel Geld auf einmal ausgeben wollte, zweitens wollte ich nicht bis nach Gisingen gehen, damit ich zu einer Tonne komme, und außerdem, wer wußte, wie lange ich noch in diesem Haus wohnen würde? Dann würde ich dastehen mit einer Mülltonne, wüßte nicht wohin damit, wofür wäre ich bis nach Gisingen gegangen und hätte soviel Geld ausgegeben. Andererseits wäre es natürlich vorteilhafter, wenn ich eine Mülltonne hätte, aber wie gesagt, ich hatte auf einmal keine Lust dazu.
Wenn ich die Müllabfuhrfrage irgendwie gelöst hätte, würde ich meine Papiere nicht hergeben. Zwar sind sie genauso wie die Zigarettenstummel, Obstschalen, Brotkrusten oder Glasscherben einfach wegzuwerfen; ich hatte aber keine Kraft dazu.
Ich liebe die Papiere, auf denen ich, ohne zu denken, etwas geschrieben und gekritzelt und die ich mit dem Teeglas befleckt habe. Wie meine Nachbarin, die ihre Jugend in den Schubladen bewahrt und ab und zu darin wühlt, suche ich zwischen diesen Papieren einen Satz, der mich glücklich macht, der mich die Welt um mich für eine Zeitlang vergessen läßt.
Wenn ich die Müllabfuhrfrage irgendwie gelöst hätte, würde ich vielleicht heute die alte Dame besuchen. Lieber beobachte ich mit einem Hund die Welt durch einen Türspalt.
Ich tue, als ob ich den Satz mit dem Hund und dem Türspalt schriebe. Ich bemühe mich zu sehen, sehe, was verlogen ist, sehe nichts, ich träume.

Meine Hände greifen nach den Wörtern
Die Wörter weichen aus
Ich suche sie in den alten Kleidern
Zwischen vergilbten Papieren
Finde nur, was verlogen ist
Was funkelt pechschwarz
Reime Klage mit Plage
Ruhm mit Rum

Du aber schläfst
Weit wie die Sterne
Den Schlaf der Kinder
Aus Kinderzorn ist dein Erwachen
Am Rande der Träume
Wenn du einschläfst
Schläfst du lächelnd

Sicherlich sind jene Schiffe im Hafen
Wie deine Träume schlicht und schön
Gib mir deine Träume mein Kind
Für eine einzige Nacht
Gib mir deine junge Stimme
Für einen einzigen Schrei

Gegen Meere mit Möven möchte ich
schreien
An die Hoffnung und Freude

Immer hatte ich vor, die Geschichte meiner Kindheit zu schreiben.
Ich bringe sie nie zu Ende. Nicht deshalb, weil ich wenig geschrieben habe, im Gegenteil. Ich habe viel geschrieben. Ich habe sogar das, was ich geschrieben habe, einem Verleger gezeigt. Er will es bald drucken. Er ruft mich an und fragt, wann ich endlich damit fertig werde. Er ist ein junger Verleger. Der kann natürlich nicht viel bezahlen. Ich bin aber auch kein Solschenizyn. Ah, ich muß etwas unternehmen. Ich muß einkaufen gehen. Ich muß die alte Dame im Krankenhaus besuchen. Ich warte auf meine Base. Sie kommt nicht. Ich höre stundenlang Tschaikowsky. Sag mir von der Rückkehr.
Wenn ich nicht an das Geld denke, das heißt, an den Lebensunterhalt, dann träume ich weiter. Ich bin alt, vielleicht deshalb träumte ich neulich von einer ganz jungen Frau.
Ich sah sie in den engen Gassen zwischen Mülltonnen. Sie hatte ein weißes Kleid, hatte keine Strümpfe, war barfuß. Sie kam mit gestreckten Armen, lächelnd, in meine Arme. Ich wurde angesteckt mit Liebe.
Wir fanden uns in einem Zimmer, das mein war. Die Fenster mit dicken Vorhängen, die sie zumachte. Dadurch war es halbdunkel, die Atmosphäre in schwarzweiß, nur in manchen kleinen Flecken leuchtete etwas Rotes, mehr braun als rot.
Ihr Haar zerschmolzen, ihr weißes Kleid. Ich wußte, daß wir uns liebten und bekamen zwei Kinder. Sie fragte mich manchmal, ob ich wüßte, wo ihre Strümpfe seien. Wir suchten zusammen ihre Strümpfe. Manchmal fragte sie nach ihrem weißen Kleid, wir suchten zusammen ihr weißes Kleid.
Einmal sagte ich: „Du warst barfuß und hattest keine Strümpfe.“
„Ja“, sagte sie, „damals, damals ging es, damals war es so. Aber wie kann ich jetzt auf die Straße ohne Schuhe, ohne Strümpfe, ohne weißes Kleid.“ Und doch gingen wir am Morgen durch die gleiche Gasse, wo unsere Kinder zwischen den Mülltonnen spielten, zum Strand. Und schauten ins Wasser, als ob wir vor einem Schaufenster voller Strümpfe, voller weißer Kleider stünden. Ich küßte sie, küßte das Meer, die müde Sonne, küßte meine Kindheit, meine Zukunft, küßte an ihren jungen Lippen den Abschied und wachte auf, der Abschied, der blieb in mir.
Merkwürdig, wie lange dauert so ein Traum, und doch erlebt man die ganze Armut, das ganze Eheleben in einem einzigen Traum.
Während ich so sitze oder von einem Fenster zum anderen gehe, liegt meine alte Nachbarin im Krankenhaus.
Ihre Wohnung ist in dem gleichen Stockwerk wie meine. Weil sie keine Verwandten hatte, und ich auch allein war, besuchte sie mich öfters. Ich kochte für sie Tee, wir rauchten zusammen. Und eines Tages bekam sie einen Hirnschlag.
Jetzt liegt sie im Krankenhaus.
Sie erzählte mir oft von ihrem seligen Mann, der einmal nach dem Krieg sehr gut verdient hatte, aber mit seinem frühen Tod meine alte Freundin in ihrem besten Alter allein ließ. Von all den Wohnungen, die er gebaut hatte, blieb der Frau nichts. Was sie hatte, ging rasch unter den Händen weg.
Nein, ich muß sie bald besuchen.
Und meine junge Freundin, sie kommt seit einer Ewigkeit nicht zu mir. Von welcher Seite ich auch auf sie schaue, meine Nichte trägt Ohrringe; sie trägt Ohrringe, wenn ich sie nackt sehe, schöne, große Ohrringe. Ich glaube, sie küßt sie, wenn sie schlafen geht. Sie küßt sie und legt sie in einen Kasten voller Ohrringe.
Ihre Ohrringe zeichnen ihr Alter auf die Rechnungen. Die Rechnungen wiederum zeichnen den Namen eines bestimmten Mannes, der als Dritter meine Träume zeichnet, fürchterlich.
Ich schaue auf sie am Tisch beim Essen, im Auto schaue ich auf sie, ich schaue auf sie, wenn wir Musik hören, wenn wir über die Möglichkeiten einer Stimme reden, die unter schweren Bedingungen, wie beim Erdbeben, beim Autorennen, beim Ertrinken, beim Stillschweigen, nachdem man eine Nachricht gehört hat vom Radio, bei der Liebe den Notruf heult: z. B. Hilfe! Helft doch! sagt, sehe ich immer mindestens einen ihrer Ohrringe und werde traurig.
Gerade in solchen Augenblicken wird meine Stimme wie die eines Kindes. Meine Nichte rückt näher, sagt, sei nicht so, ja nicht so. Was sie damit sagen will, weiß ich nicht. So sagt sie, wenn ich auch nichts gesagt habe, ich meine, wenn ich nicht mit meiner Kinderstimme gesprochen habe, wenn ich seit geraumer Zeit geschwiegen habe. Mütterlich wird sie. Beugt sich über mich und sagt: „Das ist ja nicht so schlimm, alles geht vorbei. Mach dir keine Sorgen. Du machst es dir wirklich sehr schwer.“
Öfters treten Wände zwischen uns, Papiere, Übersetzungen der Leumundszeugnisse, der Ausweise, die immer den gleichen Text haben.
Vor einigen Tagen kam sie zu mir, als ich gerade aufhörte, auf sie zu warten. Ich wollte unter die Menschen gehen und mir ein Brot kaufen. Da kam sie. Mir schien, daß es draußen kalt war, daß sie fror.
Ich fragte sie, ob ich den Ofen heizen sollte, ob sie etwas Warmes trinken wollte; sie sagte: „Nein.“
Sie saß auf meinem Bett; ich stand vor ihr. Sie saß, ihre Hände zwischen den Knien, ihre Tasche hing lose zwischen den Beinen, fast den Boden berührend.
Auf ihrer Stirn waren kleine Schweißperlen. Ich fragte sie, ob es draußen regne. Sie sagte nein. In solchen Momenten, die leider zu oft vorkamen, wünschte ich mir, daß ich mehr davon in Erfahrung brächte, was draußen vor sich geht. Man sollte den Vorhang dann und wann öffnen, die Ohrwatte herausnehmen, den Kopf zum Fenster hinausstrecken. Dies alles hilft; man fragt dann nicht sehr viel. Man hört dann nicht oft nein als Antwort. Man kann Gespräche führen.
Aber wenn ich in meinem Zimmer bin, tue ich nichts anderes, als auf sie zu warten. Ich hüte mich, etwas zu tun, was mich daran hindern könnte. Man darf sich aber nicht vorstellen, daß ich nichts tue, wenn ich warte. Ich öffne ein Buch und zähle die Akkusative auf der Seite 5 und lese einen Satz: Es ist noch nicht Zeit. Ich sage für mich hin, und das zum ersten Mal, daß ich kurze Sätze liebe, weil sie zu verschiedenen Gedanken passen, weil sie vollständig und leicht verständlich und vielleicht gerade deshalb unglaublich beweglich sind. Aber dieser Satz: Es ist noch nicht Zeit. Was bedeutet dieser Satz? Handelt es sich dabei um die Zeit, in der es eine Revolution geben wird; oder geht es um die Zeit, in der man etwas unterschreibt? Ist es die Zeit des Krankenbesuches?
Es ist auch gleichgültig.
Ich weiß, diese schöne junge Frau, die mich besucht, ist eine heimliche Freundin, jung und schön.
Wohin ich auch gehe, bin ich in meine Base verliebt, oder in meine Nichte, oder in meine Freundin?
Ich nehme sie auf meinen Schoß, ich streichle ihre schönen Haare und spreche mit ihr über alles, ohne mich zu schämen. Die Geschichte ist überall die gleiche. In einem neuen Land glaubt man, ein neuer Mensch zu sein, man hat vor, ein besserer Mensch zu werden. So glaube ich in einem neuen Land, daß ich endlich meine Base überrede. Nirgendwo gelang es mir. Weil sie eine ganz junge Frau ist, ziehe ich es vor, sie mein Kind zu nennen. Mein Kind, sage ich ihr, mein Kind, in diesem Land, dessen Sprache mir fremd ist, fühle ich mich sehr einsam. Es ist langweilig hier, siehst du nicht, mein Kind, wie sehr der Bodensee dem Marmarameer gleicht?

Erstveröffentlichung in: Kein Innen. Kein Außen. Texte über Leben in Vorarlberg. Hg. v. Wolfgang Hermann. Bregenz: Russ-Verlag [1994].
Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Erbengemeinschaft Kundeyt Surdum.

 

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