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Fließtext*
Von Irene Dische

Als wir in New York ankamen, wollten wir eigentlich nur ein paar Tage bleiben. Aber dann fing das gute alte Europa an, in den Covid-Fluten zu ertrinken. Unsere Rückflüge wurden gestrichen. Also blieben wir in New York, wo der Covid-Pegel bald ebenfalls bedrohlich stieg. Unsere Arche Noah ist ein großer Heuschober auf einer Farm, 90 Meilen von NYC entfernt. Das erste Mal seit über 30 Jahren lebe ich wieder in einer Kleinfamilie mit einem Baby. Es gibt kein Entkommen vor meiner Tochter, die vor Jahrzehnten mein erstes Baby war, vor ihrem libanesischen Mann, vor ihrem gemeinsamen Kind, das bei unserer Ankunft gerade mal elf Monate alt war. Ebenso wenig können die drei vor mir, einer leicht reizbaren Großmutter, fliehen. Als uns alle Fluchtwege gesperrt wurden, ergänzten wir unsere Kompaktgruppe um ein gesundes Kindermädchen, also um jemanden, der so gut wie keine sozialen Beziehungen hatte: eine 180 Kilo wiegende israelische Buchhalterin. Covid-19 hatte ihr Büro geschlossen. Sie hatte noch nie eine Windel aus der Nähe gesehen, aber erwies sich als gutmütig, liebevoll und lernfähig. Das Kind mag ihren weitläufigen Körper. Es wird eng hier. Wenn ein kleines Kind einzieht, schrumpft ein Haus. Ein hübsches Lesekabinett wurde zur Wickelstube, der Salon zum Krabbelzimmer. Die Arsenale der Kinderpflege liegen überall offen herum. In diesem abgeschotteten Raum sprechen die Einwohner Arabisch, Englisch, Hebräisch, Deutsch und Babysprech. Von jeglicher Körperform gibt es hier etwas. Man liest über den enormen Anstieg an häuslicher Gewalt, aber wir sind bisher nicht betroffen, weil wir uns alle an der kurzen Leine der Toleranz halten. Schimpfen und Keiffen ist total verboten, obwohl es Angriffsflächen noch und noch gibt. Zwei von uns halten auf Ordnung, zwei teilen dieses Interesse nicht und eine bemüht sich, Ameisen und Mäuse mit ihrem Essen zu versorgen, indem sie es zu ihnen auf den Boden schleudert oder ihnen in kleinen Spritzern hier und dort zuspuckt. Einer von uns raucht noch – in dem Wort „noch“ kann man das laute Rasseln gebrochener Versprechungen hören. Eine von uns ist betagt und benutzt ihren schlechten Rücken als Vorwand, niemals und zwar wirklich niemals das Kind zu wickeln. Das wird geduldet, obwohl es orthopädisch keinen Sinn macht. Eine von uns wird kurz extrem wütend, zwei von uns schmollen lange, eine von uns kreischt so, wenn sie ihren Kopf nicht durchsetzen kann, dass es einem durch Mark und Bein geht, eine von uns bleibt einfach im Bett, weil sie deprimiert ist, was wiederum die anderen drei in Chaos und Bedrückung versetzt, weil ohne sie die Arche abzusaufen droht. Wenn das geschieht, kämpft der junge Mann feurig und witzig mit der jungen Frau, die ihm, was Feuer und Witz anlangt, in nichts nachsteht, um die Anerkennung seines unveräußerlichen Männerrechts, nicht für die Kinderpflege verantwortlich zu sein; die Alte versteckt sich hinter ihrem Laptop mit der Behauptung, ihre Arbeit sei wichtiger als die der anderen; ein Warnsignal für schlechte Laune schrillt, und wir besinnen uns. Aber an guten Tagen, und das sind die meisten, funktioniert die Gelassenheit. Mein starker Schwiegersohn trägt schwere Lasten, ohne zu klagen, ich wische den Boden auf allen vieren, meine Tochter zieht furchtlos ihr Kind an, das jeden Kleiderwechsel zum Nahkampf ausarten lässt. Nur einmal in der Woche, früh am Morgen, verlasse ich unseren Zufluchtsort, um nach meinem Bruder zu sehen, der im Zentrum der Virusexplosion direkt am Rande von Manhattan lebt. Maske tragen, Abstand halten, ermahnen die anderen beim Abschied. Sie geben sich besorgt, sind aber eher neidisch auf die vier Stunden, die ich alleine auf der Autobahn verbringen darf. Gleichzeitig wissen sie, dass meine Reise nötig ist. Mein Bruder ist ein viel größerer Geist als ich, er versteht die Sprachen der höheren Mathematik und der Philosophie, aber er hat Asperger und kommt mit den einfachsten Problemen des täglichen Lebens nicht zurecht. Er lebt alleine in einem großen Haus. Das Haus ist für ihn nicht nur seine Freundin, sondern auch sein Feind, mit anderen Worten: Es ist wie ein Ehepartner. Vor Covid-19 pflegte einer von uns alle zwei Monate mal nach ihm zu sehen und alles in Ordnung zu bringen, was in der Zwischenzeit in seinen Lebensverhältnissen schiefgegangen war. Nicht selten entdeckte man einen ernsten Notfall, knietiefes Wasser im Keller, oder jüngst Eichhörnchen, die im Gästezimmer im dritten Stock eine Niederlassung gegründet hatten. Einmal, an einem schönen Frühlingstag, besuchte ich ihn und bemerkte, dass die rückwärtige Eingangstür verschwunden war. Der Türrahmen stand einfach offen zum Hof. Ich fragte ihn, was los sei. Er erwiderte: „Die Tür fiel aus den Angeln.“ Ich fragte ihn, ob er das so lassen wolle. Immerhin lebe er in einer ziemlich kriminalitätsbelasteten Gegend. Nun sei es zwar Mai und warm, es würde aber auch irgendwann Winter und dann werde der Schnee ins Haus wehen. Mein Vorhalt ärgerte ihn. Er fauchte zurück, er habe ja versucht, einen Zimmermann anzurufen. „Na und?“, fragte ich. „Es war besetzt“, antwortete er. Schließlich wurde eine neue Tür angebracht. Alles, was neu ist, findet er problematisch. Auch Covid-19 ist neu. Seine Situation hat sich geändert. 30 Jahre lang arbeitete die gleiche Putzfrau bei ihm. Sie war zuletzt 80 geworden, seit zehn Jahren konnte sie sich nicht mehr bücken. Ihre Putzresultate waren entsprechend. Er weigerte sich trotzdem, jemand anderen zu engagieren; er sei an sie gewöhnt. Als sie infolge Covids endlich nicht mehr erschien, besorgte ich ihm online drei Staubsauger, für jedes Stockwerk einen, und drei Schrubber. Ich fertigte ihm Anleitungen an, wie man putzen solle und übte mit ihm. Und ich nahm ihn mit zum Einkaufen, weil er die kniffligen Mechanismen des Maskeanlegens – die Schlaufen gehören hinter die Ohren, um das Stoffteil vor Mund und Nase zu halten – ebenso wenig begreift wie das fachgerechte Aufbringen von Handdesinfektionsmitteln. Schon seit 50 Jahren praktiziert er soziales Abstandhalten, aber am Tag, als die Geschäfte das letzte Mal offen hatten vor dem Closedown, fuhr er während der Rushhour per Bus und U-Bahn nach Midtown Manhattan, um sich noch sechs Zitronentorten zu kaufen, von denen er glaubte, sie würden ihn über den kommenden Monat bringen. Sie reichten dann doch nicht, also fingen meine Besuche an. Es ist gar nicht so leicht. Der Lebensmittelladen in einer Gegend der vielen Kranken und der vielen Sterbenden hat die ermunternde Atmosphäre eines Grenzübergangs. Wachtmeister schnarren einen an, das Publikum ist nervös, exakter Abstand muss eingehalten werden und das Sortiment erinnert an den alten Ostblock – leere Regale, wenig Obst und Gemüse. Letzte Woche habe ich den letzten Kohlkopf erstanden, für mehr als sechs Dollar. Mein Bruder kauft vorsichtig nur das Nötigste für sich, aber teure Luxusdelikatessen für die Wildtiere, die er durchfüttert. Neuerdings kommt auch ein Stinktier als regelmäßiger Gast. Aber es stehen auch lauter geschniegelte Katzen mit Halsband vor seiner Tür, und ihre Besitzer im Ort wundern sich, wieso ihre Tiere so dick geworden sind, obwohl sie zu Hause an Appetitlosigkeit leiden. Die Tierschar wartet schon, als ich ihn nachmittags mit seinen Einkäufen absetze und ich mein Auto wieder gen Norden lenke. Wenn ich abends nach einem Tag Abwesenheit zu Hause eintreffe, stelle ich unweigerlich große Veränderungen in unserer Arche fest – das Kind macht seinen ersten Schritt oder fügt ein neues Wort seinem Vokabular hinzu. Ich gleite zufrieden zurück in das Leben der Kleinfamilie, bin glücklicherweise auch rechtzeitig angekommen: Um 6 Uhr abends – und das ist eine eiserne Regel – halten wir die Familienzeit in demselben Raum ab, in dem vor 20 Jahren noch Lämmer zur Welt kamen. Als wir dort einzogen, rissen wir die Ställe heraus und bauten eine Küche ein, stellten einen großen Esstisch hin. Aber man fühlt sich noch geborgen wie im Stall. Jetzt hören wir dort arabische und klassische europäische Musik. Wir singen und tanzen. Wir werden laut. Wir essen ganz schön viel. Wir haben keine Angst vor der Krankheit, sondern nur vor Trump, der in den Bäumen heult. Aber wir vergessen ihn, weil wir aufräumen müssen. Um 19.30 Uhr wird das Baby von beiden Eltern gebadet. Um 20 Uhr wird es in den Schlaf gelockt. Die Lichter gehen langsam aus. Wir segeln leise durch die Nacht. Man schläft gut in der Sicherheit, dass die einen brauchen, die man liebt und wenn man weiß, dass es vorläufig keinen Sinn macht, Pläne zu schmieden. (Aus dem Englischen übersetzt von Annette von Tümpling)

— * Text, der in einem Stück und ohne Unterbrechungen durch Absätze, Überschriften, Abbildungen, Fußnoten u. Ä. gesetzt wird.
— Aufforderung, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen und dabei nicht zurückzuschauen; freihändig draufloszulegen, ohne zu korrigieren; die Buchstaben zu Papier zu bringen und bedenkenlos aus der Hand zu geben.

 

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