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Ein Amsellied und eine Kirschbaumblüte

Über Christine Lavant und verschiedenerlei Anfänge. Eine Nachforschung von Peter Clar

I
„Wie schreiben Sie einen Antworttext?“, zwischenüberschriftet oder quasiuntertitelt Markus Köhle seine Frischmuth-Respondenz Froschhut. Tierisches. Poetisches. Verdrehtes und fährt fort: „Sie haben mehrere Bücher der betreffenden Autorin gelesen? Sie haben sich einen Überblick über Leben und Werk verschafft? Sie wohnten einigen Lesungen der Autorin und einigen Vorträgen über die Autorin bei, notierten fleißig und dürfen nun endlich loswerden, was Sie zu sagen haben? Wissen Sie schon, wie Sie beginnen werden?“ Nein, weiß ich nicht, antworte ich, und nicht nur, weil ich die Autorin, um die es hier gehen wird, schon aus biographischen Gründen (sie starb 1973, ich wurde 1980 geboren) nicht lesen hätte hören können, oft, so steht es geschrieben, habe sie ohnehin nicht öffentlich gelesen (und doch, die wenigen Aufnahmen, diese halb leiernde, halb gehetzte, die Versenden ignorierende Stimme; Kindheitserinnerungen an rosenkranzbetende Frauen, an Oma und Uroma). Wüsste ich, wie, ich begänne nicht so ungeschickt (ich sage nur „zwischenüberschriftet“, ich sage nur „quasiuntertitelt“), sondern begänne wie Mayröcker („Bekenntnisse haben nichts mit der Wahrheit zu tun, nämlich die hingeweinten“) oder wie Lavant („Während ich, Betrübte, schreibe / funkelt in der Vollmondscheibe / jenes Wort, das ich betrachte / seit die Taube mich verlachte“). Die Anfänge Lavants, schreibt Ilma Rakusa, hätten es in sich und zitiert: „Kauf uns ein Körnchen Wirklichkeit!“ Womit ich endlich beim Thema wäre, womit ich endlich bei jenem Thema wäre, das mir zum einen angetragen wurde, das ich mir zum anderen ausgesucht habe, nein, nicht die Wirklichkeit (und ja, doch die Wirklichkeit, geht es im Schreiben immer auch um Wirklichkeit oder, besser, um das Verfehlen derselben). Gebeten wurde ich, einen Text zu verfassen, weniger über als vielmehr mit / entlang / um eine Autorin oder einen Autor mit Tirolbezug, der aber, so die Bitte, die Vorgabe, die Aufgabe – („Wenn es Gabe gibt, darf das Gegebene der Gabe […] nicht zum Geber zurückkehren […]. Die Gabe darf nicht zirkulieren, sie darf nicht getauscht werden“, schreibt Jacques Derrida.) – nicht zu offensichtlich sein solle. Der Tirolbezug solle also überraschen. Demnach wäre Markus Köhle ein schlechtes Beispiel, dieses Nassereither Urgestein, dieser mit Tiroler Literaturpreisen vielfach ausgezeichnete, dieser Papa-Slam nicht nur Österreichs, sondern Innsbrucks. Zu tirolerisch also, trotz Wienwohnsitzes und Weltgewandtheit, trotz (oder wegen) Dorfdefektmutantensatire. Demnach wäre aber ein gutes Beispiel Lavant, und ich meine damit nicht jene kleine Osttiroler Gemeinde mit ihren 331 Einwohnerinnen und Einwohnern und 333 Gästebetten, mit ihren 8 Gipfeln und 10 Wandertouren, mit ihrem 27-Loch-Golfplatz und ihren 13 Vereinen und Institutionen, der Freiwilligen Feuerwehr, der Sportunion Raiffeisen Lavant (natürlich Sportunion! natürlich Raiffeisen!), dem Union Reitsportverein, der Jungbauernschaft / Landjugend, dem Obst- und Gartenbauverein, der Ortsbauernschaft, dem Jagdverein, der Jagdhornbläsergruppe, dem Lauentna Blech, dem Pfarrgemeinderat, dem Ortsausschuss des Tourismusverbandes Lavant, der Gsellig’n und dem Golfclub. Und es geht auch weder um den River Lavant in West Sussex (obwohl ein Flussname wichtig sein wird) noch um den französischen Schauspieler Denis Lavant, bekannt vor allem als Alex aus Die Liebenden von Pont-Neuf (und wieder: ein Fluss). Auch der deutsche Autor Rudolf Lavant ist nicht Thema dieses Textes, für den mir, wie Sie vielleicht bemerkt haben, immer noch ein Anfang fehlt, auch wenn wir angeblichschon beim Thema sind oder diesem hier zumindest schon sehr nahe kommen. Denn Rudolf Lavant, der neben seinen kriegskritischen und sozialistisch geprägten Schriften zahlreiche Texte über diverse Bergtouren in Südtirol verfasste, verdankte seinen Künstlernamen, wie er selbst zu Protokoll gab, dem „grüne[n] Tal der Lavant“ und ebenfalls dem Lavanttal beziehungsweise dem dem Tal den Namen gebenden „weißglänzenden Fluß“, der Lavant, verdankt Christine Habernig, geborene Thonhauser, ihren Künstlerinnennamen. Und um Christine Lavant, jene 1915 geborene, 1973 gestorbene österreichische Schriftstellerin, soll es nun in weiterer Folge gehen, oder geht es eigentlich schon von der ersten Zeile an oder, richtiger noch, ging es im Grunde schon von vor dem Anfang dieses Textes an, wo dieser auch immer sein soll, als ich „mehrere Bücher der betreffenden Autorin gelesen [und] mir einen Überblick über Leben und Werk verschafft habe“ und dabei fleißig notierte, um „nun endlich loswerden“ zu dürfen, was ich zu sagen habe, um nun endlich anfangen zu dürfen. Die Anfänge Lavants, schreibt Ilma Rakusa, hätten es in sich und zitiert: „Stein, wann gehst du zum Abendmahl?“ und ich nicke und lege nach: „Sag mir ein Wort und ich stampfe dir / aus dem Zement eine Blume heraus / denn ich bin mächtig geworden vor Schwäche.“

II
„Sag mir ein Wort und ich stampfe dir / aus dem Zement eine Blume heraus / denn ich bin mächtig geworden vor Schwäche“, liest du mir oder lese ich dir oder liest Christine Lavant uns vor (diese halb leiernde, halb gehetzte, Versenden ignorierende Stimme, denke ich, diese Kindheitserinnerungen, denke ich, das Flammen der Kerzen, die Kälte der Mauern, die Wärme der Mutter und Weihrauchgeruch), und wir sitzen und schweigen (was sollen wir auch sagen) und starren ins Leere oder hinauf, zu „verheimlichten Sternen“.

III
1954 erhält Christine Lavant gemeinsam mit Christine Busta, Michael Guttenbrunner und Wilhelm Szabo den erst zum zweiten Mal vergebenen Georg-Trakl-Lyrikpreis. 1964 erhält sie ihn erneut – sie ist bis heute die einzige zwei Mal mit diesem Preis gewürdigte Lyrikerin. Georg Trakl lebte zeitweise in Innsbruck und ist dort auch begraben. Ob das als Querverbindung reicht? Ich glaube nicht. Aus Trakls Innsbrucker Zeit stammt übrigens sein Text Hohenburg („Es ist niemand im Haus. Herbst in Zimmern; / Mondeshelle Sonate / Und das Erwachen am Saum des dämmernden Wald“ undsoweiter). Die Hohenburg steht in Igls, und in Igls nahm Christine Lavant im September 1955 am 1. Internationalen deutschsprachigen Schriftstellerkongress über Dichtung der Gegenwart. Gehalt und Erscheinung teil, eine ihrer wenigen Reisen, die weiteste führte sie 1957, auf Einladung des dortigen St. Georg-Klosters, nach Istanbul. Das gerne gezeichnete Bild der Provinzdichterin stimmt also (stimmt trotzdem) nicht, war ein gutes Stück weit Inszenierung – „Kopftuch auf und Gebiss raus, das Fernsehen kommt“, so Theo Schneider über Christine Lavant. Zudem: Kann man nicht auch mit Worten reisen? „Nie hab ich dich gesehen nur geträumt / Durch kleine Verse oder zarte Bilder / erstandest du, so wie von Gott gesäumt …“, beginnt der Text Fujiyama, die Anfänge Lavants, schreibt Ilma Rakusa, hätten es in sich und zitiert: „Wach dann nicht auf, schick jeden Alptraum her!“, und ich nicke und lege nach: „An so weißen Nachmittagen / trippeln pflaumenblaue Tauben …“.

IV
„An so weißen Nachmittagen / trippeln pflaumenblaue Tauben“, lese ich, eine Amsel durchwühlt die Blumenerde am Balkon, Wein und Rosen ranken sich / hanteln sich („Meine Hände nehmen sich vor, nimmer Hände zu sein“) das Geländer entlang, weißblühend der Apfelbaum im Nachbarhof, weiß fallend Schnee, in diesem Märzenfrühling, diesem Märzenwinter.

V
Von Lavants Innsbruck-Igls-Aufenthalt im September 1954 erfahren wir unter anderem aus dem Notizbuch Ingeborg Teuffenbachs, die am 9. September notiert: „[M]it Prof. Ficker am Bahnhof Christine Lavant abholen. Christl bei mir zum Abendessen.“ Teuffenbach, ebenfalls gebürtige Lavanttalerin, schon früh eine glühende Nationalsozialistin und eine der wichtigsten jungen Dichterinnen der „Ostmark“, verheiratet mit SS-Hauptsturmführer Heinz Capra, die Trauzeugen waren mit Friedrich Rainer und Odilo Globocnik zwei der größten Kärntner NS-Kriegsverbrecher, und ein Paradebeispiel für den österreichischen (Nicht-)Umgang mit der eigenen Vergangenheit nach 1945, lebte seit den 1950er Jahren in Innsbruck und wurde dort zu einer der führenden (no pun intended) Figuren nicht nur der Tiroler Literaturszene. Dies nicht zuletzt durch ihren Einsatz für die Österreichischen Jugendkulturwochen in Innsbruck (1950–1969), im Rahmen derer Autorinnen und Autoren wie Ilse Aichinger, Ingeborg Bachmann, Thomas Bernhard, Elfriede Gerstl, Eugen Gomringer, Marlen Haushofer, Ernst Jandl, Elfriede Jelinek, Gert Jonke, Friederike Mayröcker, Barbara Frischmuth oder Gerhard Rühm zum Teil ihre ersten großen Auftritte hatten: „nach einer durchzechten nacht / mit barbara f. animiert / in den innsbrucker hofgarten geschlendert / auf frisch bepflanzte blumenbeete gesunken / und sich froh darin umhergewälzt als schwebe man in flockigen wolken // für die stadtverwaltung eine infame schandtat / für uns gelebte poesie“ (Gerhard Rühm).
Ludwig von Ficker, ebenfalls eine weit über Innsbruck hinaus wichtige Figur der österreichischen Gegenwartsliteratur, Schriftsteller, Gründer der Zeitschrift Der Brenner (1910–1954), Freund und Förderer Trakls und Initiator des Trakl-Lyrik-Preises, und Lavant hatten einander bei der Preisverleihung zum Trakl-Preis 1954 kennengelernt. Sowohl mit Teuffenbach als auch mit Ficker stand Lavant im regen Briefkontakt. Und mehr noch: Die so gerne als einsam, ungebildet, zurückgezogen beschriebene Lavant kommunizierte mit zahlreichen Persönlichkeiten des literarisch-philosophischen Lebens der Zeit, mit Martin Buber und Nelly Sachs, mit Hilde Domin und Thomas Bernhard und vor allem mit Werner Berg, mit dem sie noch weit mehr verband als der intellektuell-künstlerische Austausch: Über 520 Gedichte schickt Lavant während ihrer vierjährigen Liebesbeziehung an Berg, er fertigt 15 Portraits von ihr an. 180 dieser Gedichte wurden bisher allein in Bergs Nachlass gefunden, darunter, datiert mit 9.1.51 und dem Zusatz „Christine f. Werner“, ein, wie fast alle, titelloses, mit folgenden Zeilen beginnendes: „Fröstelnd im Nebel steigt aus den Zweigen / allerlei Schweigen / hilflos empor.“ Die Anfänge Lavants, schreibt Ilma Rakusa, hätten es in sich und zitiert: „Ich will vom Leiden endlich alles wissen!“ und ich nicke und lege nach: „Ein Amsellied und eine Kirschbaumblüte / und eines Frühlingshimmels stilles Blau / möchte ich noch einmal, innig und genau / zutiefst erleben …“

VI
„Ein Amsellied und eine Kirschbaumblüte / und eines Frühlingshimmels stilles Blau / möchte ich noch einmal, innig und genau / zutiefst erleben“, zitierst du und siehst mich an und ich nicke bloß, stumm. Das geht mir nach und nah, fährst du fort, das geht mir an die Substanz, fährst du fort, du hättest deine Energie verloren, als du dich mit ihrem Leben, ihrer Dichtung näher befasstest, du glaubst, sagst du (und ich dir aufs Wort / und ich dir die Worte), dass damals der Krebs begonnen habe um sich zu greifen, der Krebs, der dir an die Gurgel wollte, dessen Behandlung deinen Kehlkopfraum habe wund werden lassen, die den Sitz deiner Kreativität habe wund werden lassen. Der Krebs habe, sagst du, einen Anschlag verübt, habe einen Anschlag verübt auf deine Kreativität, das Leben Lavants, sagst du, wie jenes von Bachmann, der Schmerz im Leben Lavants wie in jenem Bachmanns, der Schmerz in den Texten Lavants wie in jenen Bachmanns, habe den Krebs zwar nicht entstehen, habe ihn bestimmt aber anwachsen lassen, habe deine Abwehrkräfte so geschwächt, dass sich das Plattenepithelkarzinom habe einnisten können, dass es sich habe vergrößern, es sich in der rechten Tonsillarloge, es sich zwischen der Ohrspeicheldrüse und Halsschlagader habe gemütlich machen können, sagst du, deine Kreativität habe bedrohen können, und ich sehe dich an und du weinst, oder ich? „Erlaube mir traurig zu sein / unter deinen Augen, den Sternen / […] erlaube mir, gänzlich verloren zu gehen / in den Büschen der Schwermut.“

VII
In der Tiroler Tageszeitung vom 20.11.1956 findet man die Besprechung eines Abends des Innsbrucker Turmbunds. Nina Bacher vom Radio Tirol habe, so der Artikel, in Anwesenheit der Autorin Gedichte von Christine Lavant gelesen. Allein, weder der Rezensent noch die Dichterin waren am 14.11., dem Tag der Veranstaltung, anwesend. Lavant wusste zwar bereits im Juli, dass diese Veranstaltung geplant war, ging aber vom 21.11. als Termin aus, die Einladung für den 14.11. erreichte sie zu spät (auf keinen Fall vor dem 10.11.), wie sie in einem Brief an Ingeborg Teuffenbach schreibt. Ob es ein simples Missverständnis war, ob der Fehler bei Lavant selbst oder bei Rolf Hauser-Hauzwicka lag, der damals für die Organisation der Turmbund-Veranstaltungen zuständig war, oder bei einer dritten Partei, kann heute nicht mehr nachvollzogen werden, da der Briefwechsel zwischen den beiden verschollen ist. Ebenso als verschollen galt lange Zeit Lavants erster Gedichtband Die Nacht an den Tag, Lavant macht ebenfalls Hauser-Hauzwicka dafür verantwortlich: „Er hat immer noch den Bürstenabzugband ‚Die Nacht an den Tag‘ und es existiert nur das eine Exemplar und der schickt es mir nicht und nicht zurück, obwohl ich ihm [sic!] schon zweimal darum gebeten habe. […] Hoffentlich hat er mir den Gedichtband nicht verwurschtelt. Dann reiß ich ihm die Haar einzeln aus! Glatzig wird er etwa doch nicht sein? Na, eine Nase hat er bestimmt. Muß halt die dran glauben.“ Viele Jahrzehnte später, werden die Texte im Besitz der Familie Purtscher, engen Freunden Christine Lavants, aufgefunden. 2017 wird Die Nacht an den Tag in Christine Lavant. Gedichte aus dem Nachlass schließlich erstmals veröffentlicht, über 70 Jahre nach der Entstehung. Die Sammlung beinhaltet 102 in den Jahren 1945 und 1946 entstandene Gedichte. Sie beginnt mit einem gleichnamigen Text und dieser wiederum mit den Zeilen: „Heute sah ich ihn wieder! Früh schon harrte / mein mondenes Auge / in seinem Gezelt.“ Die Anfänge Lavants, schreibt Ilma Rakusa, hätten es in sich und zitiert: „Ich danke dir für dieses Gift“ und ich nicke und lege nach: „Die Mondestropfen fallen durch den Raum / zwei setzen sich auf meine Augenlider …“

VIII
„Die Mondestropfen fallen durch den Raum / zwei setzen sich auf meine Augenlider“, sagst du und ich sehe dich an oder an dir vorbei, in sternenlose Nacht („Sie fiel – wie Sterne fallen – jäh aus unseren Tagen“). Die Stimmen der Nachbarn, das Flackern der Kerzen in den Windlichtern, den Grablichtern (so kalt im Nebelnovember), das Zittern der Zweige im Spätsommerwind, Ende August, „ein Duft noch, von Rosen, den späten“.

für Claudia Rosenwirth

 

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