zurück zur Startseite

Das Lied, das nie gesungen wird

Aus dem Reisetagebuch des Musikethnologen Raymond Ammann

Die Hände vor die Augen gedrückt, saß die ältere Tschuktschen-Frau im kleinen Flugzeug mir gegenüber, als wir von Prowidenija auf der nordöstlichsten Halbinsel Asiens auf die St.-Lawrence-Insel im Beringmeer flogen. Meteorologen sagen, dass hier das Wetter des gesamten Planeten entsteht – auf diesem Flug konnten wir das fühlen. Das kleine Zweipropellerflugzeug wurde durchgeschüttelt, wie ich das noch nie erlebt hatte. Ich mag das gar nicht, doch was soll es nützen, die Augen mit den Händen zuzudecken, wenn das Rütteln und Schütteln am ganzen Körper gefühlt wird? Dennoch erkannte ich im Verhalten dieser älteren Dame eine Parallele zu den Lebensverläufen der Menschen. Ob wir die Augen offen oder geschlossen halten, wir sehen nicht, was auf uns zukommt und Erschütterungen fühlen wir erst, wenn sie da sind. Auch wenn wir mit offenen Augen unseren Lebensweg planen, kommt es vielfach anders, als wir denken.

Polarregion
Ich war damals in der Arktis unterwegs, um eine Feldforschung im Rahmen meines Dissertationsvorhabens durchzuführen. Nur wenige Musikethnologen führen Feldforschungen in dieser kalten Gegend durch. Mich hat es nach Alaska gezogen, da ich dort meine beiden Leidenschaften Schlittenhunde und Musik verbinden wollte. Vor dem Aufenthalt stellte ich mir vor, mit dem Aufnahmegerät auf dem Hundeschlitten zu den Musikveranstaltungen zu reisen und dort Film- und Audioaufnahmen zu tätigen. Nun, ich konnte in Alaska sehr interessante Tänze und Musik aufnehmen und hatte Schlittenhunde, mit denen ich unterwegs war. Meine musikethnologischen Untersuchungen hingegen fanden hauptsächlich in Sibirien statt. Auch wenn das Beringmeer dazwischen über mehrere Monate im Winter zugefroren ist, kann es nur schwerlich mit dem Hundeschlitten überquert werden.

Als eine Folge der Glasnost-Bewegung war es zu Beginn der 1990er Jahre für Westeuropäer und Amerikaner erstmals möglich, von Alaska – quasi durch die Hintertür – nach Sibirien zu reisen. Im ersten Flugzeug, das von Nome in Alaska nach Prowidenija auf der Tschuktschen-Halbinsel flog, saß eine Fotografin, die für eine Reportage im Auftrag des National-Geographic-Magazins unterwegs war. Auf ihrer Rückreise nach Alaska verbrachte sie ein paar Tage auf der St.-Lawrence-Insel, zwischen Asien und Amerika, wo sie mir über die besonderen Gesangsarten der Frauen auf der Tschuktschen-Halbinsel berichtete. Der Klang soll ganz tief in der Kehle gebildet werden und von sehr gutturalem Kolorit sein.
Ich war vertraut mit dem kattajaq (throat singing oder Kehlengesang) der Inuit in Kanada. Dass auf der Tschuktschen-Halbinsel solche oder ähnliche Gesangsarten existierten, wusste man im Westen nicht, da keine europäischen oder amerikanischen Forscher dorthin reisen konnten, und einen Austausch mit russischen Forschern gab es damals keinen. Ich wollte mir selbst ein Bild von diesen Gesängen auf der Tschuktschen-Halbinsel machen und kehrte zurück auf das alaskanische Festland, um von Nome nach Prowidenija, dem neu eröffneten und nun internationalen Flughafen zu fliegen. Von dort wollte ich nach Sireniki weiterreisen, dem Ort, wo die Sängerinnen zuhause waren. Nun, das hat alles mehr oder weniger gut geklappt und einige Wochen später gelangen mir verschiedene Aufnahmen dieses Gesangs, der pic-eine’rkin genannt wird. Der Name in der Tschuktschen-Sprache meint so viel wie „Klänge mit der Kehle bilden“. Pic-eine’rkin wird aber nicht nur von den Tschuktschen-, sondern auch von den Yupik-Frauen praktiziert und sehr oft auch gemeinsam. Die sibirischen Yupik und die Küstentschuktschen teilen sich nicht nur denselben Lebensraum, sondern auch ihre ursprüngliche Wirtschaftsform (Fischfang und Jagd auf Meeressäugetiere) und Teile ihrer Kultur – außer der Sprache. Die Sprachen der Yupik, Inuit und der Bewohner der Aleuten gehören zur eskimo-aleutischen Sprachfamilie und Menschen dieser Sprachfamilie wurden gemeinhin Eskimo genannt. Der Name Eskimo wird von den Inuit in Kanada und Grönland als Schimpfwort verstanden und entsprechend wird heute vielfach der Begriff Eskimo durch den politisch korrekten Begriff Inuit ersetzt. Die beiden Begriffe Inuit und Eskimo sind aber nicht deckungsgleich, da Inuit nur für die in Kanada und Grönland lebenden Menschen steht und die Yupik in Alaska und Sibirien, die zur selben Sprachfamilie gehören, ausschließt. Zudem ist mir öfters untergekommen, dass sich die Yupik mit Stolz Eskimo nannten.
Neben einigen Inuit in Kanada und den Tschuktschen /Yupik im äußersten Nordosten Asiens wurden ähnliche Gesangstechniken auch von den im Norden Japans und in angrenzenden russischen Gebieten angesiedelten Ainus praktiziert. Die letzten Sängerinnen dieser Gesangsart, die rekkukara genannt wird, starben zu Beginn der 1970er Jahre. Basierend auf den wenigen existierenden Aufnahmen wird versucht, diese besondere Gesangsart wiederzubeleben.
In den drei Regionen, die alle im „hohen“ Norden, aber tausende Kilometer auseinander liegen, wird diese Gesangstechnik nur von Frauen praktiziert und es handelt sich in allen drei Gebieten um ein Spiel oder einen Tanz. Lässt sich die Verteilung dieser einzigartigen Gesangstechnik durch die vor tausenden von Jahren stattgefundene Migration von Asien nach Amerika, Kanada, Grönland erklären, oder haben sich diese Gesangsarten jeweils unabhängig voneinander so entwickelt? Dieser Frage bin ich in meiner Dissertation nachgegangen, konnte sie aber nicht abschließend beantworten.

Südsee
Nach meiner Zeit in der Polarregion ergab sich für mich die Gelegenheit einer musikethnologischen Forschung in der Südsee. Aus geplanten sechs Monaten wurden 15 Jahre. Zu den Forschungsgebieten zählten Neukaledonien, Vanuatu und Papua-Neuguinea. Der Schwerpunkt lag bei diesen von den lokalen Kulturzentren gewünschten Untersuchungen hauptsächlich auf einer Bestandsaufnahme der Tänze und der Musik auf diesen abgelegenen Südseeinseln. Mich interessierte bei diesen Untersuchungen speziell die Bedeutung der Musik in Ritualen und Zeremonien. Menschen einiger Regionen auf den Inseln widersetzten sich einer Missionierung und verzichten noch heute weitgehend auf „westliche“ Güter. Ihre Glaubensvorstellungen können grob als animistisch (Beseeltheit der Natur) mit Ahnenverehrung bezeichnet werden. Andere Inselbewohner gehören „offiziell“ einer christlichen Glaubensgemeinschaft (katholisch, presbyterianisch, Church of Christ u. a.) an, doch die Ahnenverehrung und der Glaube an Ahnengeister nehmen auch bei ihnen einen wichtigen Bestandteil im täglichen Leben ein.
Alle Bewohner dieser melanesischen Inseln erklären sich sowohl die mit den körperlichen Sinnen wahrnehmbare Welt als auch die „Welt im Geiste“ anhand von Mythen, in denen die verstorbenen Vorfahren als Protagonisten erscheinen. Diese Vorfahren können – auch wenn sie gemäß den Mythen verstorben sind – in anderen Daseinsformen weiterhin auf das Geschehen ihrer lebenden Nachfahren Einfluss nehmen. Die Verbindung der Menschen zu ihren Lebensgefährten reißt nach dem Tod nicht ab, vielmehr können die Lebenden durch bestimmte Rituale eine Verbindung zu den verstorbenen Ahnen aufbauen und dazu dient in den meisten Fällen Musik.
Gesänge mit der Funktion, Ahnengeister anzurufen, werden nicht in einer alltäglichen Sprache gesungen, sondern in der Sprache der Ahnengeister, die von der allgemeinen Bevölkerung nicht verstanden wird. Auf den Banks-Inseln, im Norden Vanuatus, besitzen einige Menschen die Fähigkeit, von den Ahnengeistern Gesänge zu empfangen, und nur diese Personen – in den meisten Fällen Männer – verstehen die Sprache der Ahnengeister. Alle anderen Inselbewohner kennen die Texte solcher Lieder nicht. Die Texte werden auch nicht in eine für alle verständliche Sprache übersetzt, dann die Notwendigkeit des Bewahrens von Geheimnissen spielt hier eine wichtige Rolle. Kennt jemand diese Sprache, so gibt er dieses Wissen nicht an andere weiter – er würde so seine besondere Stellung als Verbindungsglied zwischen den Lebenden und den Ahnengeistern aufgeben und sein Prestige in der Gesellschaft verringern. Geheimhaltung von esoterischen Erkenntnissen ist essentiell in Kulturen, in denen nicht geschrieben wird, denn speziell wenn das esoterische Erkenntnis in Verbindung mit den Ahnengeistern steht, bringt es dem Wissenden enormes Prestige. Um sich solches Prestige aufzubauen, werden teilweise große Anstrengungen in Kauf genommen. Auf vielen Inseln in Vanuatu gipfeln im Zentrum aktive Vulkane und Erdbeben sind keine Seltenheit. Als im Jahr 2000 die Insel Pentecost von einem starken Erdbeben erschüttert wurde, haben sich anschließend zwei ältere Herren von dieser Insel dazu bekannt, dieses Erdbeben verursacht zu haben und gingen dafür ein Jahr ins Gefängnis. Nach ihrer Freilassung war ihr Prestige und der Respekt, den die Inselbevölkerung ihnen entgegenbrachte, enorm gestiegen, denn wer ein Erdbeben verursachen kann, muss eine starke und tiefe Beziehung zu den Ahnengeistern haben.

Um Prestige zu erlangen und zu halten, müssen Personen die Gelegenheit haben, ihre Mitmenschen zu überzeugen, dass sie über Wissen und Macht – zum Beispiel in Form von Gesängen – verfügen. Gleichzeitig sind sie gezwungen, ihr geheimes Wissen zu behüten, so dass es nicht von anderen übernommen werden kann – zum Beispiel durch das Nachsingen dieser Gesänge. Solche rituellen Gesänge könnte jeder Zuhörer und jede Zuhörerin nachsingen und so ebenfalls eine Beziehung zu den Ahnengeistern aufbauen. Damit dieser „geheime“ Inhalt durch das Singen nicht an die Öffentlichkeit gelangt und die Gesänge ihren esoterischen Status verlieren würden, werden sie in einer nicht alltäglichen und für die Inselbewohner unverständlichen Sprache gesungen, wie zum Beispiel die Gesänge in der Sprache der Ahnengeister. Kraftvolle Gesänge, mit denen der Sänger oder die Sängerin Einfluss auf das Handeln der Menschen nehmen kann, können auch durch andere Regelungen „geschützt“ sein.
Auf den Inseln Vanuatus wird der Zauber, der bewirkt, dass sich eine gewünschte Person in einen verliebt, als massing bezeichnet. Liebeszauber gehört in Melanesien zum täglichen Leben, so auch auf der Insel Ambrym, die allgemein den Ruf hat, dass deren Bewohner sehr wirksam mit solchen Kräften umgehen können. Von dort stammt das Lied mit dem Titel rembeng (Körper), in dessen Liedinhalt davon ausgegangen wird, dass der Sänger bei einer Menschenversammlung (Markt, Feier) singt. Der Inhalt lässt sich in folgenden Worten zusammenfassen: Mein Körper ist der beste und der schönste – schau, die beiden Mädchen da drüben, wenn ich sie anlächle und singe, werden sie zu mir kommen.
Dieses Lied wird in einer der alltäglichen Sprachen der Insel gesungen und kann von jeder Person dieser Sprachregion verstanden und nachgesungen werden, und somit könnte jeder Mann und auch jede Frau in den Besitz dieses Liebeszaubers kommen, wenn die Kraft in den Worten oder der Melodie liegen würde. Das ist aber nicht der Fall, das Lied kann von allen gesungen werden, sein Liebeszauber wird sich aber nur entfalten, wenn der Sänger oder die Sängerin ein bestimmtes Baumblatt im Mund hält. Die Melodie kann ebenso auf der Bambus-Kerbflöte pao-bleeblabo nachgespielt werden und auch hier wird die Kraft erst dadurch ausgelöst, dass der Flötenspieler oder die Flötenspielerin dieses Blatt im Mund hält. Das Geheimnis, welcher Baum dieses Blatt liefert, muss von einem Geheimnisträger durch eine bestimmte Anzahl von Schweinen erkauft werden.
Das Demonstrieren vor versammelter Menschenmenge, dass man ein Geheimnis kennt, es aber nicht verraten will oder kann, wird an einem Lied auf der Insel Vanua Lava im Norden von Vanuatu so weit gesteigert, dass es gar nie gesungen wird. Wie kann der Sänger, der ein Lied kennt, das er nicht singen kann, seiner Gemeinschaft trotzdem zeigen, dass er ein solches Lied kennt?
Auf der Insel Vanua Lava besitzt eine Familie den Tanz, der kurz Quat genannt wird, wie der Hauptprotagonist des lokalen Mythenschatzes. Der Tanz wird bei Zeremonien aufgeführt, wenn viele Menschen versammelt sind. Der wichtigste Bestandteil des Tanzes ist ein Lied, das aber nicht gesungen, sondern vom Besitzer des Tanzes – und einzigem Kenner des Liedes – nur gedacht wird. Vor dem Tanz instruiert er den Trommler darüber, wie dieser sein Instrument schlagen soll. Danach läuft der Besitzer des Tanzes um den Trommler und denkt sich das Lied, er summt es nicht, sondern denkt es nur. Wenn er seinem Lied in Gedanken nachgeht, kann er den Tänzern, die in zwei Kreisen um ihn und den Trommler tanzen, die Schrittwechsel nicht anzeigen, die natürlich auch nur er kennt. Die Tänzer kennen weder das Lied noch dessen Inhalt, sie wurden nur darüber informiert, wie die Tanzschritte auszuführen sind. Um den Tänzern den Moment des Schrittwechsels kommunizieren zu können, läuft der Sohn des Tanzbesitzers hinter ihm her. Mit einem Kopfnicken zu seinem Sohn zeigt er ihm an, dass dieser nun durch einen Pfiff das Zeichen für den Schrittwechsel an die Tänzer geben soll. Der Tanz dauert etwa eine Stunde und Besucher, die nicht wissen, um was es sich hier handelt, werden die Choreographie wahrscheinlich sehr monoton finden. Versteht man aber die Art und den Sinn der Behandlung von Geheimnissen, gewinnt der Tanz an Bedeutung. Durch diese Art der Vorführung kann der Besitzer des Tanzes sein Wissen behalten, in Verbindung zu den Ahnengeistern treten, und er hat dabei die Gelegenheit, der Gemeinschaft seine besondere Stellung als Wissensbewahrer zu bestätigen. Nur der Besitzer des Tanzes kennt das Lied und er wird es an seinen Sohn weitergeben. Dieser Akt der Vermittlung findet an einem abgelegenen Ort im Wald statt, wo niemand mithören kann.
Nicht nur Lieder können Geheimnisse in Bezug zu den Ahnengeistern beinhalten, sondern auch instrumentale Musik, die bei Ritualen als Stimmen der Ahnengeister wahrgenommen werden. Diese Stimmen der Ahnengeister können so kraftvoll sein, dass sie den Zuhörern schaden können. Diese Stimmen werden auf verborgenen Instrumenten hervorgebracht, die nur Eingeweihte – erfahrene ältere Männer – kennen und spielen können. Bei einer „Tanzvorführung“ im Südosten der Insel Malakula wird vor der Aufführung eines Tanzes mit großen dichten Kokosnusspalmblättern ein kleiner Raum gebildet, in den man nicht hineinsehen kann. Vor der Tanzvorführung begeben sich zwei Männer mit kleinen Paketen in diesen Raum, der vielleicht 2 × 2 Meter misst. Für die Vorführung tanzen oder laufen Männer mit Kopfbedeckungen, die Ahnengeister darstellen, und mit aus großen Kernen hergestellten Rasseln an den Füßen singend um diesen kleinen Raum. Nach einer Weile lässt sich ein sonderbarer Klang hören, der sanft durch die laute Musik der Rasseln und den Gesang der Tänzer dringt. Dieser Klang „ist“ für die Inselbewohner die Stimme eines Ahnengeistes, die so kraftvoll ist, dass sie für Nichteingeweihte schädlich sein kann. Deswegen wird dieser Klang durch den Gesang und die Rasselgeräusche der Tänzer so „verwässert“, dass er für die Zuhörer nicht mehr schädlich sein kann. Der Tanz selbst steht nicht in Bezug zu diesem Ahnengeist, er hat ausschließlich die Funktion, die Stimme des Ahnengeistes zu „verdünnen“.
Durch Ritualmusik und rituelle Gesänge in Melanesien können Ahnengeister herbeigerufen werden und gleichzeitig stellen sie Stimmen der Ahnengeister dar. Einerseits wird durch diese Möglichkeit der Verbindung zu den Ahnengeistern die Bevölkerung in ihren Glaubensvorstellungen und Weltanschauungen bestätigt, andererseits dienen solche Gesänge dazu, der Gemeinschaft zu zeigen, dass der Sänger oder die Familie des Sängers in einem besonderen Verhältnis zu den Ahnengeistern steht oder esoterisches Wissen kennt. Dass mich meine Forschungen in Melanesien zu dieser Erkenntnis führen würden, war nicht vorauszusehen, eröffnete mir aber ganz andere Sichtweisen auf Musik, die sich von der Wahrnehmung und Auffassung von europäischer „Kunstmusik“ gänzlich unterscheiden. In Melanesien muss die Ritualmusik ihre Funktion als Verbindung zu den Ahnengeistern erfüllen, eine Klang-ästhetik ist Nebensache.

Alpen
Seit mehreren Jahren lebe ich wieder in Europa und reise so oft es geht in die Südsee, um meine Freunde zu besuchen und teilweise auch, um kleinere Forschungsprojekte durchzuführen. Einige Umstände haben mich vor einigen Jahren dazu geführt, über das Jodeln und das Alphorn zu forschen – Musik, die ich in meinen Jugendjahren eher abgelehnt und belächelt habe. Das Jodeln hat sich aber als sehr spannendes Untersuchungsgebiet herausgestellt, speziell in einer Gegenüberstellung zu den erwähnten Gesängen der Polarregion und den rituellen Gesängen auf den melanesischen Inseln. Wie bei diesen Gesangsarten fällt auch beim Jodeln dem Text nicht die Rolle zu, einen Inhalt direkt zu erklären, sondern er unterstützt die Funktion des Gesangs. Durch die Textlosigkeit erhält der Jodler eine offenere emotionale Bandbreite. Ganz unterschiedliche Emotionen werden beim Jodeln oder dem Hören eines Jodlers geweckt, die individuell erlebt werden und sich nach der Lebenserfahrung und Emotionalität des Zuhörers respektive des Jodlers oder der Jodlerin ausrichten. Heute wird das Jodeln in seiner gegenwärtigen Popularität als kulturverbindend auf horizontaler (über Länder und Regionen hinweg) als auch vertikaler (über Gesellschaftsgruppen hinweg) Ebene eingesetzt. Dem war nicht immer so, denn speziell in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in den Zeiten der Weltkriege, sollte das Jodeln als Identitätsmarker für „germanisches Kulturgut“ herhalten und wurde instrumentalisiert, um damit einen kulturellen Abstand zu den Kulturen nicht jodelnder Alpenbewohner aufzuzeigen. Diese Instrumentalisierung für politische und ideologische Zwecke hat dem Ansehen des Jodelns in der Folge massiv geschadet. In der Nachkriegszeit und bis in die 1980er Jahre galt es als patriotisch, kitschig und wurde vom Großteil der urbanen Bevölkerung sogar belächelt. Das hat sich seit den 1990er Jahren vielleicht durch das Aufkommen der world music und der Neuen Volksmusik geändert. Jodlerinnen und Jodler sind gerne bereit, ihr Können und Wissen in Workshops und Seminaren weiterzugeben – auch über die Landesgrenzen hinweg. Jodeln nimmt heute eher eine Stellung als kulturelle Bastion gegen ein erneut aufkommendes nationalistisches Denken ein und da es ganz vielfältige Emotionen auslösen kann, stehen die Jodler und Jodlerinnen mit Kopf und Herz hinter ihrem Gesang.

Wie die ältere Tschuktschen-Frau im Flugzeug über dem Beringmeer die Augen verdeckte, um nicht sehen zu müssen, was kommen wird, so können wir nicht in die Zukunft sehen. Unsere Zukunft bleibt ein Geheimnis und wir wissen nicht, wohin sie uns führen wird, doch was dieser kurze Text hier hervorheben soll, ist die Tatsache, dass überall interessante Fragestellungen und Aufgaben entdeckt werden können. Wenn wir sie erkennen und ihnen nachgehen, können sie unser Leben und unseren Geist bereichern.

 

im Heft weiterblättern


Email

registrieren

Ihre Email-Adresse wurde bei uns registriert und zur Liste der Newsletter-Abonnenten hinzugefügt.
Sie erhalten in Kürze ein Bestätigung per Email.