zurück zur Startseite

Marginaltext (8): „Neubeginn nach der großen Stille“

Mit dem Wort Marginalie wird gewöhnlich Nebensächliches bezeichnet, etwas am Rande oder an der Grenze einer Sache Liegendes. In Quart werden unter diesem Titel zentrale Texte über das Leben an der Peripherie neu veröffentlicht, die längst vergriffen oder nur schwer zugänglich sind, an entlegenen Orten aufbewahrt oder gar in Archiven verschwunden. Folge 8: Auszüge aus Texten und Reden von Josef Lackner, 2003 in einer längst vergriffenen Werkmonographie publiziert. Die Äußerungen des vor genau 20 Jahren verstorbenen, bedeutenden Tiroler Architekten sind bis heute lesenswert.

Die Erziehung zum Architekten erfolgt, wie Sie alle wissen, durch des Werden des Menschen überhaupt. Es beginnt schon im Pränatalen, sollte man sogar sagen, es hängt davon ab, ob man auf Erden willkommen ist und damit das Leben bejahend auch den schönen Beruf des Gestalters eben für das Leben ergreift. Das Kind mit seinem sinnlichen Weltbezug trifft schon Entscheidungen, welche sich später erklären.

Wird die Welt akzeptiert oder kritisiert? Wird der spontane Weltverbesserer doch im Laufe der Zeit wenigstens zum Umweltverbesserer. Allerdings begegnen dem Suchenden die verschiedensten Erziehungsprinzipien und damit erst die Irritation. Das familiäre Milieu, die sozialen Räume, die Schule, Stadt, etc. mit ihren Unzulänglichkeiten lösen frühen Zorn oder gar Resignation aus. Der schöpferische Mensch kultiviert sein Unbehagen, seinen Zorn, um Platz für sein Schaffen zu haben. Das Bisherige scheint ihm schal und grau und mit Pseudoänderungen durchsetzt, also unmöglich. Die Begegnung mit dem Freiraum Kunst und der dahinter oder davor befindlichen Humanität kann hier Halt und Trost spenden. Die Pragmatik wird mit Zweifeln besetzt, der Wille zu eigenen Innovationen aber gestärkt. Die Schulen, gedacht zum Aufbau einer Bildungs- und Leistungsgesellschaft, fördern dagegen eher den Chorgeist, weniger das Individuelle. Das Ergebnis ist ein Bildungsstand, in dem die alten Lieder wieder gesungen werden.

Diese Zeiten sind vorüber. Längst müssen wir überregionale Ansprüche erfüllen und auch mit diesen leben. Die Welt ist winzig geworden. Japan ist um die Ecke, die Westküste der USA ein geistiger Vorgarten Europas und die Ringstraße in Wien ist auch nicht das Maß aller Dinge. Man muss überall hinschauen und trotz der angeborenen Kurzsichtigkeit Perspektiven erkennen. Der Studierende weiß sich zwar in dieser Welt der optischen Überreizung zu Hause und schnappt trotzdem nach geistigem Sauerstoff, woher er ihn gerade bekommt, um dann durchzuatmen.

Da werden die Gesetze der Schwerkraft neu interpretiert, eine neue Monumentalität propagiert, technische und formale Naivität entdeckt, Theatralisches und Dekoratives hochgelobt.
Eines ist klar, eine Bemühung in Richtung Konsens wäre fatal. Dies würde wieder zu suspekten Ordnungen führen und das wünscht sich niemand. Es gilt die Gesetze der Vielfältigkeit und Toleranz zur Weltanschauung zu machen. Das Eigenverantwortbare sollte vor den Ordnungen aller Art stehen. Wie heißt es so richtig: Man sieht nur, was man weiß.
(Rede an der Akademie der Bildenden Künste Wien 1996)

***

In diesem Land wurde, das bezeugen die immer weniger sichtbaren Beispiele bäuerlicher Baukultur, immer anständig gebaut. Anständig, d. h., eine Gesellschaft war durch die ideellen und materiellen Bedingungen dem Selbstverständlichen nahe, und dies hat sich in baulicher Richtigkeit manifestiert. In diesem Land weht längst ein anderer Wind. Auf neue Bedingungen und Zwänge wird fragwürdig reagiert.

Tirol ist gesellschaftlich schon lange ein integrierter Bestandteil Europas und intellektuell einer der Welt –
von Windstille also keine Rede! Die Politik erkennt, wie ich meine, erstmalig, doch reichlich spät, die doch selbstverständlichen Zusammenhänge von Zivilisation und Kultur.
Nie war es das Programm einer Partei, neues Lebensgefühl in kreativen Bereichen zu fördern. Eher waren der reaktionäre Zugang und ein oberflächliches Denkmodell gefragt.
Die Bequemlichkeit verdrängte in den meisten Fällen die Auseinandersetzung im Sinne des Beispielhaften.

Keine Partei hat je Beispielhaftes gewollt oder gar gezeigt, und so das Grundklima für ein allzu opportunes Verhalten gelegt. An die ethische Kraft intelligenter baulicher Äußerungen wurde und wird nicht geglaubt. Jedes gelungene Gebäude wäre aber ein Beleg für das wirkliche Potential dieses Landes. In der Realität strotzt dieses Land aber vor Zeugnissen baulicher Hilflosigkeit – Belege einer erbärmlichen Haltung gegenüber den eigenen Bedürfnissen und oft genug auch der der Gäste.

Auf dem Land ist die bauliche Jodlerei wohl nicht zu ersticken, die legitime Liebe zum Land sollte trotzdem anders interpretiert werden. Gelingt dies nicht, so werden die monströsen Hotelbauten sich weiter formal am Bauernhaus orientieren und dieses beleidigen. In der Stadt belegen allzu wenige Beispiele einen Aufbruch, doch müssen die Ansprüche noch steigen.

Die permanente Unterschätzung des Konsumenten ist ein moralischer Defekt ersten Ranges – allerdings wird dieser, so glaube ich, jetzt auch als solcher erkannt. In jüngster Zeit glaubt man, aus diesem Dilemma zu finden, indem man an die damals schon fragwürdige Architektur der dreißiger Jahre anknüpft. Tirol hat schon damals eher im Anachronismus gebadet, und die wenigen Ausnahmen – zu nennen ist hier Welzenbacher – waren ohne Akzeptanz und wurden deshalb wieder eliminiert.
Eine neue Fragwürdigkeit stellt der inzwischen populäre „Neue-Heimat-Stil“ mit ökologischer Verbrämung dar. Hier wird eine Trivialarchitektur propagiert, darüber hinaus orientiert man sich anhand von Architektur-Zeitschriften daran, was einige postmoderne Gurus in die Welt setzen.
Die Bauszene wird von Moden und nicht von spezifisch unverwechselbaren Zugängen bestimmt.

Bilanziert man, was die öffentliche Hand, d. h. mit Steuergeldern, in den letzten Jahrzehnten baulich artikuliert hat, so ist dies negativ. Daran orientiert sich naturgemäß das Private, wenngleich es hier an Ansätzen echter Lichtblicke nicht fehlt. Es ist an der Zeit, den Begriff „Architektur“ nicht mit allem gleichzusetzen, was gebaut wird.

ARCHITEKTUR ist positiv belegt und deshalb nur im Zusammenhang mit den besten baulichen Zeugnissen in Verbindung zu bringen.
ARCHITEKTUR ist eben nicht nett, gemütlich, modisch, gefällig, gewohnt oder mit sonstigen Billigkeiten verknüpft.
ARCHITEKTUR ist auch nicht unverbindlich, auch nicht vordergründig anpassend oder fragwürdig landschaftsgebunden.
ARCHITEKTUR ist eine Form künstlerischen Schaffens, welche von Inhalten und lebensnahen Bedingungen sowie von konstruktiver Intelligenz lebt.
ARCHITEKTUR ist risikofreudig und erfinderisch.
ARCHITEKTUR ist neuerdings verstärkt ökologisch und ökonomisch verantwortlich zu artikulieren.
ARCHITEKTUR ist Sache der Lebenden – die Toten haben ebenso gedacht.
ARCHITEKTUR ist Sache der Lebensfreude und nicht der Lebenslüge – des Kitsches.

Die Gesellschaft muss die selbst auferlegten Schwerfälligkeiten erkennen und beseitigen, d. h. schon bei den Ansätzen große Freiräume zulassen, also der Kunstgattung „Architektur“ keine Auflagen in geschmacklicher Richtung geben.

Alte vermeintliche Ordnungen sind zu hinterfragen und durch neue Erkenntnisse zu ersetzen.
Die Schaffenskraft und der Anspruch aller Befassten sind deshalb zu reaktivieren, das Potential der Jungen zu nützen.
(„Wer sucht, wer findet die Architektur in Tirol?“, 1993)

***

Die Architektur wird in unserer Zeit mehr und mehr zur „Schönen Abwesenden“, zur kaum erfüllten Sehnsucht nach Freudvollem, Großem und Gültigem im Bauen.
Wir sind auf der Suche nach ihr, nur suchen wir sie allzu intensiv in der näheren und weiteren Vergangenheit, in der Erinnerung, in den Archiven.

Stehen wir dem Gegenwärtigen zu nahe? Stehen wir zu sehr in der bedrückenden Mitte?
Spüren und sehen wir deshalb nichts? Schielen wir deshalb nach dem Vertrauten, eher Verjährten oder gar Toten?
Jedenfalls die Gegenwart ist mit ihren Aussagen zu undurchsichtig, unüberschaubar mit Fehleinschätzungen und Tagessorgen besetzt. Längst haben wir das Einfache und Lapidare, das Direkte und Selbstverständliche dem Komplizierten und vor allem der permanenten Unsicherheit geopfert. Das uns umgebende Tradierte ist Jahrtausende dick und wohl auch im wahrsten Sinne des Wortes deshalb folgenschwer.

Das gegenwärtige Baugeschehen leidet unter einer gigantischen Frustration, um nicht zu sagen Lähmung. Die vergangenen Jahrzehnte mit ihrer oberflächlichen Bedarfsdeckung sind unerlaubter Anlass für Schuldgefühl und Resignation. Dabei muss man gerade dieser Epoche elementare Kraft und Vitalität, wenn auch eher materiell besetzt, bescheinigen. Die Reaktion darauf führte zu einer Rührseligkeit und einer überdimensionalen Vorsicht in Bezug auf jede neue Artikulierung – die Sackgasse in die Vergangenheit wurde beschritten.Die Unendlichkeit des Zukünftigen wird also gegen die Endlichkeit des Vergangenen getauscht – die Mottenkiste geöffnet.
Kein Haus ohne sentimentale Details, sprich Zitate, kein Haus ohne nostalgischen Alibibogen, kein Haus ohne vordergründige Spekulation mit Vertrautem. Keine Stadt ohne Altstadtbewusstsein, ja Altstadtstolz. Keine Stadt, kein Ort weit und breit ohne eben entdeckte Patina und immer öfter keine Stadt und kein Ort mehr ohne neu erstellte Patina. Die Häuser werden, egal wie alt, egal wie neu, am liebsten zurückgestaltet und zurückdatiert. Nicht umgehbare Funktionalität wird getarnt bis verleugnet. Die Realitätsfeindlichkeit ist unübersehbar. Der Umgang mit allem Neuen ist suspekt, macht neuerdings sogar krank.

Die Architektur von heute tritt als Greisin mit geliftetem Antlitz ins Bild, als geschminkte Mumie. Die sogenannten alten Werte dominieren uns, verhindern den Blick auf das wohl noch gänzlich unvorstellbare Neue. Die Phantasie ist gefesselt, die Zuversicht gelähmt.

Die Architektur ist und war wohl immer eine fesche Dame. Ein geistvolles, lebensbejahendes Phänomen. Sie ist stolz und frei, überzeugend und unübersehbar! Sie lebt nicht in Büchern und Journalen, flieht nicht in windstille Museen und Sammlungen, scheut Sarkophage und Dunkelheit! Sei liebt den Mut, das Risiko, die Phantasie, die Auseinandersetzung und den Esprit des Neuen! Sie greift nach den gegebenen Möglichkeiten in Material und Produktion, nach neuen sozialen und humanitären Anliegen und produziert so neue Identität und Begeisterung.

Die Architektur manifestiert Zuversicht für den Einzelnen, für die Gesellschaft, sie ist Träger der Wahrhaftigkeit. Mit der Architektur suchen wir also auch die Überwindung des allzu Materiellen – deshalb der berechtigte Wunsch, ihr wieder zu begegnen, sie hereinzubitten in unsere Zeit, in unser Jahrhundert. Die Begegnung mit ihr ließe uns unsere Möglichkeiten, unsere ästhetischen Kategorien erleben.

Die kleine österreichisch-europäische Welt soll nicht zum Puppenhaus werden, nicht vergreisen und nicht verbröseln.
(„Sollten Sie der Architektur begegnen, lassen Sie sie grüßen …“, 1984)

***

Wir sind die Gegenwart. Alle Bereiche unseres Lebens werden von den Faktoren Vergangenheit, Gegenwart und erträumter Zukunft bestimmt.

Die bauliche Umwelt ist einer dieser Bereiche. In allen kulturhistorischen Abschnitten gab es den kausalen Zusammenhang zwischen geistig-religiöser und sozial-
materieller Situation und der daraus resultierenden Realität, d. h. der zeitbezogenen Lebensart und Lebensform. Unsere tägliche Gegenwart, aber auch die Jahrzehnte unseres Lebens sind bestimmt von unserem Wollen und Können. Die Summe aller Einstellungen führt zur Summe der Lebensäußerungen und damit zu dem, was wir imstande sind, für uns zu erreichen, bzw. zu dem, was wir in der Lage sind, an die Zukunft weiterzugeben.

Wohl noch in keinem Zeitabschnitt der Weltgeschichte wurde der Mensch so unmittelbar mit seinen negativen Tätigkeiten konfrontiert. Die weltweite Kommunikation ermöglicht erstmalig den Überblick und damit die Zusammenschau über Sinn und Unsinn seines Tuns. Unserer Generation war und ist es vorbehalten, die ernsthaftesten Schockerlebnisse der Menschheitsgeschichte zu ertragen. Die jahrhundertealten Ängste der Menschheit könnten für uns oder für unsere Kinder zur bitteren Realität werden. Arbeiten wir und unsere Nachkommen daran, die Welt in ein Chaos zu stürzen? Ein Chaos, dessen Konsequenz der Neubeginn nach der großen Stille ist? Die Schöpfung ist zu gewaltig, an ihr versagt selbst der massive Ungeist, doch sind wir imstande, ihre schillernde Vielfalt zu zerstören.

Eine Menschheit mit gegensätzlichen Interessen und geteilt in viele Machtblöcke, bedroht sich nach wie vor mit dem vielfachen Atomtod.
Der Vergiftungsgrad unserer Umwelt erreicht in absehbarer Zeit den kritischen Punkt und die Erbanlagen des Menschen sind gefährdet.
Von vielen Tier- und Pflanzengattungen haben wir unbekümmerten Herzens Abschied genommen.
Die Luft und das Wasser, d. h., die Atmosphäre und die Meere, werden wir bald für gewaltige Zeiträume vernichtet haben.
Die Verbrennung der in Millionen von Jahren angehäuften Energie wird von uns blitzschnell durchgeführt.
Die wertvollsten Rohstoffe landen durch unsere Unvernunft auf der Abfallhalde.

Über alle diese Tatsachen muss der Bauschaffende als einer der agilsten Verschwender früher oder später stolpern. Die Chaotik des Bauens ist bald perfekt. Noch haben wir das ungewollte Ziel nicht erreicht. Vielleicht sollten wir es anstreben, um uns dann endlich selbst zu erkennen.
Erst die bauliche Selbstzerstörung, der totale Verkehr und die perfekte Ausbeutung jeder naturgegebenen Möglichkeit werden uns daran glauben lassen, dass es neben dem materiellen Dasein auch den Weg der Genügsamkeit und der innerlichen Freuden gibt. Vorerst wird aus naturgegebener Bequemlichkeit das Rezept „PLANUNG“ angewandt. Die Planungstotalität ist imstande, schlechtes Gewissen zu verdrängen. Der Glaube, „alles in den Griff zu bekommen“, ist der verbreitetste Irrtum der Gegenwart. Diese große Ausrede macht von sich reden. Ist Planung wirklich irgendwo geglückt? Planer sind doch INTERPRETEN und nicht wie so oft angenommen PROPHETEN. – Sie sind Ordnungsinstanz, aber nicht die Ordnung selbst. Ordnung und Harmonie sind Resultate einer inneren Einsicht, eines Bekenntnisses. Wer soll sie uns heute oder morgen geben? Die Erzieher – selbst ein Produkt 2000-jähriger sogenannter Humanerziehung – haben uns in unsere Position gebracht – sie können es nicht. Die Propheten sind entweder noch nicht geboren oder sie werden permanent überhört. Die Kriterien der Nächstenliebe, des Zusammenlebens sind weitestgehend vergessen oder werden nicht geübt.

Bleibt uns, eigene Erfahrungen zu machen – wird man aus Erfahrung klug? Ich meine ja, wenn sie groß genug ist. Wir arbeiten derzeit daran, uns eine große, unvermeidbare Erfahrung zu bereiten.
Wir bereiten das Chaos vor, nach dessen fürchterlicher Konsequenz uns die Chance geboten wird, mit einem gewaltigen Erkenntnissprung neu zu beginnen.
(„Ist das Chaos noch unsere Chance? Ein Alibi für manches Unvermögen“; 1974, 1995 überarbeitet)

 

im Heft weiterblättern


Email

registrieren

Ihre Email-Adresse wurde bei uns registriert und zur Liste der Newsletter-Abonnenten hinzugefügt.
Sie erhalten in Kürze ein Bestätigung per Email.