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Spuren von Einsamkeit

Vor fast 40 Jahren erschien das legendäre Buch „Die Erben der Einsamkeit“, in dem Aldo Gorfer (Text) und Flavio Faganello (Bild) die abgelegensten Bergbauernhöfe Südtirols porträtierten. Quart unternimmt in einer Artikelserie den Versuch, an diesen Orten wieder einmal Nachschau zu halten. – Folge 1: Alle befinden sich in Quarantäne, selbst die Erben der Einsamkeit. Von Simone Mair / Lisa Mazza (Text) und Nicolò Degiorgis (Bild)

Wir schreiben diese Zeilen aus der Einsamkeit. Einer sozialen Einsamkeit, die wir seit Wochen erleben, denn genauso lange ist es her, dass wir uns nicht mehr mit unseren Freunden und unserer Familie ungezwungen treffen können, dass wir in ein Geschäft reingehen können wie und wann wir wollen, dass wir das Haus nie ohne Mundschutz verlassen und die Hände unzählige Male am Tag waschen, dass unser bisher bekannter Alltag auf den Kopf gestellt wurde.
Klar sind wir ständig in Kontakt mit den uns Lieben und der Welt, aber immer ist der Überbringer unserer Stimmen und Gesichter ein Bildschirm, ein technisches Gerät.

Der vorliegende Text stellt einen Versuch dar, eine Feld-
recherche zum Leben auf den Bergbauernhöfen zu machen, mit Menschen eine Beziehung aufzubauen, ihr Vertrauen zu gewinnen, ohne ins Feld zu gehen, ohne physisch mit irgendjemandem in Kontakt zu treten. Und ohne in der Vergangenheit verhaftet zu bleiben, nostalgisch zu werden und ins Romantisieren zu verfallen, ist dieser Beitrag ein Versuch, den Bewohnern dieser Bergbauernhöfe eine Stimme zu geben und ihre Beweggründe für das Leben am Berg zu schildern, von der Einsamkeit zu erzählen. Was bedeutet die Einsamkeit am Hof? Welchen Wert hat die Stille dort oben?

Der Plan war es, uns auf die Spuren der „Gli eredi della solitudine“ (Die Erben der Einsamkeit) zu begeben und einige der Bergbauernhöfe, die der Trentiner Aldo Gorfer als Journalist und Autor und der Fotograf Flavio Faganello Anfang der 1970er Jahre erwandert haben, nach knapp 40 Jahren erneut zu erkunden. „Die Erben der Einsamkeit“ kann wohl zum Kanon der Publikationen im Alpenraum gezählt werden. Unkonventionell und spannend wird über die Herausforderungen des Lebens am Berg erzählt. Wort und Bild gehen einen eingespielten, sich ergänzenden Dialog ein. Auf eine sehr persönliche Weise, jedoch auch mit einem gewissen anthropologischen und soziographischen Anspruch haben Gorfer und Faganello eine „Enquete“ unternommen, so definieren die Autoren selbst ihr Unterfangen, das zwischen „journalistischer Untersuchung, Erzählung und Reise-Tagebuch“ liegt. Ihr Anliegen war es, ein komplexes Bild aufzuzeichnen, das den Wohlstand und das bequeme Leben der Städte mit dem harten Leben am Berg kontrastiert. Bilder veranschaulichen die kargen Infrastrukturen und die logistische Unerreichbarkeit der abgelegenen Bergbauernhöfe. Extreme Lebensbedingungen in extremen Jahreszeiten werden sichtbar, von denen die portraitierten Bergbauernhöfe heutzutage größtenteils nicht mehr betroffen sind. Dreißig Jahre später, 2003, hat der Fotograf Flavio Faganello (Aldo Gorfer ist leider bereits 1996 verstorben), nochmals alle 21 Höfe besucht und aus demselbem Blickwinkel fotografisch festgehalten. Es entstand erneut eine Publikation und zusätzlich wurden die Bilder auch in einer Ausstellung in der Bozner Stadtgalerie ausgestellt. Im selben Jahr erschien auch der 60-minütige Dokumentarfilm „Bauern der Berge – Auf den Spuren der Erben der Einsamkeit“ der Filmemacherin und Autorin Astrid Kofler. Die letzte uns bekannte Wiederaufnahme der Recherche aus den 1970er Jahren liegt über zehn Jahre zurück und wurde 2009 von Francesco Bocchetti Gianni Zotta unternommen.
Die Erzählungen der 21 Erben der Einsamkeit haben also in Büchern und Filmen Spuren hinterlassen. Es ist spannend, diesen Spuren erneut zu folgen. Wohin führen sie uns? Welchen Menschen, Landschaften, Tieren werden wir auf diesem Weg begegnen?

Kurz zurück zum aktuellen Kontext und zum Wir: Derzeit scheint vieles in die Zeit davor – vor Covid-19, der Pandemie, der absoluten Einschränkung der Bewegungsfreiheit – und in die Zeit der ungewissen Gegenwart unterteilt zu sein. So auch die Arbeit an diesem Beitrag, an dem wir sechshändig aus Meran, Wien und Bozen gearbeitet haben. Wir sind Simone Mair und Lisa Mazza, Kuratorinnen und Kulturvermittlerinnen der Kunstinitiative BAU und der Künstler und Fotograf Nicolò Degiorgis. Eingeschlossen in unseren Home-Offices haben wir uns über E-Mail und Skype ausgetauscht, um eine Form für unsere Recherche zu finden, welche die Einschränkungen der Quarantäne einzubeziehen versucht und nicht dagegen ankämpft.
In seiner fotografischen Arbeit tritt Nicolò Degiorgis meist über einen längeren Zeitraum als wiederkehrender Beobachter auf und schafft Bilder, die die Orte und die Menschen, die sie (be-)leben, beobachten und erzählen. Nun, da ein Fotograf diese Orte nicht aufsuchen und seinen Blick nur imaginär auf das noch nicht Erkundete richten kann, haben wir ihn für diesen Artikel, der der erste Teil einer Serie von Beiträgen werden soll, eingeladen, mit uns auf eine virtuelle Reise zu gehen und visuelle Antworten auf die gegebenen Einschränkungen zu finden. Es schien uns naheliegend, beim Portraitieren der Landschaft, beim topographischen Raum, in den die Höfe eingebettet sind, anzufangen. Das Wirtschaften am Hof, die daraus folgenden Lebensbedingungen, sind von der Landschaft abhängig. Der steile Berghang definiert die Anzahl des Viehes, das man am Hof halten kann. Die Meereshöhe und die klimatischen Verhältnisse bestimmen den Ernteertrag. Nicolò Degiorgis hat sich aus der Ferne mit Satellitenbildern den Berghöfen angenähert und hat eine abstrahierte Idee von Landschaft entstehen lassen. Eine konkrete Verortung des Hofes bleibt der Ausgangspunkt. Durch die serielle Wiederholung schreibt sich über die existierende Landschaft eine neue ein, aus der Einsamkeit und Stille, aber auch Bewegung zu entstehen scheint.

Im Folgenden Auszüge aus der E-Mail-Korrespondenz mit zwei Bergbauernhöfen aus Gorfers / Faganellos Buch. Einer befindet sich im Schnalstal, einer im Ultental.
Der Finailhof, einstmals der höchstgelegene Kornhof in Europa, liegt auf knapp 2.000 Metern in „Unser Frau“ der Gemeinde Schnals, ein Seitental des Vinschgaus. Veronika, Mutter von (demnächst) fünf Kindern, beschreibt mittels Computerbildschirm das Leben am Finailhof.

Subject: Re: Finailhof
Date: Fri, 1 May 2020 at 14:51

Hallo Simone!

Warum lebt man heute auf einem Bergbauernhof?
Der Bauernhof ist für uns das Zuhause. Durch die Übernahme des Hofes möchten wir unseren Beitrag leisten und den Hof ein Stückchen weiterbringen. Es ist schön, wenn ein 5-jähriges Kind sagt, dass es gerne den Hof übernehmen möchte und dies auch heute noch mit 12 so sieht. Wir leben gerne mit und von der Natur und wenn man auf einem Bergbauernhof lebt, dann kann man sagen, dass man sein eigener Chef ist und wer kann das heute von sich sagen?
Um auf einem Bauernhof leben zu können, sollte man am besten naturverbunden sein und vor allem nicht die Arbeit scheuen. Der Tag beginnt sehr früh mit dem Melken der Kühe – somit gibt es das lange Ausschlafen leider nicht. Nach dem Melken werden die Kühe auf die Weide getrieben. Anschließend beginnt die Arbeit auf dem Feld: Im Frühling werden die Wiesen gesäubert von Steinen, Holz und einige kaputte Teile des Weidezaunes werden erneuert. Der Finailhof liegt auf der Sonnenseite des Schnalstales und deswegen muss auch ordentlich bewässert werden, damit genug Heu wachsen kann. Im Sommer werden die Wiesen gemäht und das Heu wird eingebracht. Gleichzeitig muss immer wieder nach den Tieren geschaut werden, die den Sommer auf höheren Weiden verbringen.
Auf dem Finailhof gibt es einen Hofschank. Auch in diesem beginnt die Arbeit recht früh, da alles in der Küche und in den Gasträumen hergerichtet werden muss, bevor die Gäste kommen. Der Tag auf einem Bergbauernhof beginnt früh und endet meistens spät am Abend.

Welche Rolle erfüllt die Mutter, Frau, Schwester, Tochter am Hof?
Frauen halten alles zusammen, sie füllen Lücken und behalten die Übersicht. Sie sorgen für die Kinder und sehr oft kümmern sie sich um pflegebedürftige Familienmitglieder. Auf den Höfen herrschen oft noch die traditionellen Rollenverteilungen: Der Mann ist für die Landwirtschaft zuständig und die Frau hilft ihm und kümmert sich um Haus, Garten und Kinder.
In der heutigen Zeit findet man oft Abweichungen von den traditionelleren Rollen: Bäuerinnen treten selbstbewusster und stärker auf, sie fordern ihre Rechte ein und es kommt zu einem Austausch auf Augenhöhe. Auch mein Ehemann geht mir sehr oft zur Hand, man findet ihn beim Mithelfen im Hofschank oder beim Schulaufgabenmachen mit unseren Kindern.
Frauen in der heutigen Zeit sind besser ausgebildet als früher. Öfters findet man auf den Höfen nun ein ganz anderes Bild: Der Mann geht zum Arbeiten außer Haus und die Frau ist nun für Haus und Hof zuständig. Ob nun eine Kuh kalbt oder ein Lämmchen oder ein Ziegenkitz geboren wird, bringt eine Bäuerin nicht aus der Ruhe, es ist Alltag. Eine Bäuerin heute kommt überall zum Einsatz und macht ihre Arbeit mit Leib und Seele.Bäuerinnen werden heutzutage mehr wertgeschätzt.

Wie wertvoll ist Stille heutzutage?
Stille in der heutigen Zeit ist ein wichtiges Gut. Stille heißt für uns Zeit haben, um zu sich selbst finden zu können und, was uns auch sehr wichtig ist, dass wir Familienzeit haben. Stille ist notwendig und jeder von uns braucht seine Zeit, um Stille erleben zu können. Wobei sicherlich auch gesagt werden muss, dass bei unseren 4 (fast 5 Kindern) und auch mit der ganzen Arbeit recht selten Stille herrscht.
Stille sind meistens die Momente, in denen man Kraft und Energie für sich selbst tanken kann. Ein kleiner Luxus, den man sich hie und da leistet: an einem verschneiten Wintertag am warmen Ofen in der Stube sitzen und ein Buch lesen.

Der Wiesfleck-Hof liegt oberhalb vom Dorf St. Nikolaus im Ultental auf 1620 Metern. Der E-Mail-Austausch fand mit der Lebensgefährtin des Hoferben statt.

Subject: Re: Wiesfleck Anfrage
Date: 2 May 2020 at 20:49:40 CEST

Schönen guten Abend Lisa,
mein Name ist Paller Tamara und ich bin seit 5 Jahren die Lebensgefährtin von Ulrich Gamper, gerne antworte ich in seinem Auftrag auf Ihre Fragen!

Warum lebt man heute auf einem Bauernhof?
Nicht nur heute, sondern bereits ein ganzes Leben wohnen und arbeiten wir auf unserem kleinen Hof (auch ich komme von einem Hof, dem Baumannhof unter der idyllischen Burg Eschenlohe in St. Pankraz), es ist kein Muss oder nur Tradition, sondern ein Lebensgefühl. Ein Gefühl der Freiheit und der gewissen Unabhängigkeit. Nicht die Einsamkeit und Abgeschiedenheit bestimmten unser Leben, wir sind beide Vollzeit berufstätig, langjährige freiwillige Sanitäter beim Weißen Kreuz und bilden uns stetig weiter, kommen somit mit vielen Menschen in Kontakt, doch unser kleiner Hof gibt uns ein Gefühl der Sicherheit und ist unser Rückzugsort. Besonders in diesen schweren Zeiten, in denen Covid-19 die Welt in Atem hält, sind wir mehr denn je froh um unser DRHOAM mitten in der Natur. Wald und Wiesen, Berge und frische Luft geben uns wenigstens ein bisschen Hoffnung, dass die Welt wieder in Ordnung kommt.

Welche Rolle spielen die Bewohner des Hofes?
Ulrich ist mit seinen 54 Jahren der aktuelle Hofbesitzer und bearbeitet diesen tagtäglich nach seiner Hauptarbeit als Motorsägeninstruktor und Forstarbeiter. Ich als seine Partnerin unterstütze ihn dabei vor allem im Haus und Garten. Seine 3 mittlerweile volljährigen, in der Gastronomie berufstätigen Kinder leben außerhalb und kommen ab und zu auf Besuch. Die 85-jährige Mutter von Ulrich genießt ihren Lebensabend ebenfalls auf dem Hof.

Wie wertvoll ist Stille heutzutage?
Stille von anhaltendem Verkehr, Stille von Baulärm und Industrie, ja, aber die Geräusche des Windes, der durch die Bäume fährt, des Vogelgezwitschers, des Summens der Bienen, der Kuhschellen und Tiere sind unbezahlbar …

Beim Nachdenken über Einsamkeit in der gegenwärtigen Situation drängen sich Fragen auf, losgelöst von der jeweiligen geografischen Verortung. Eine strikte Trennung von Berg und Tal, Natur und Kultur, Mensch und Tier – wie sie noch in den 1970ern beschrieben wurde – scheint ohnedies im Heute nicht mehr zu greifen. Es ist produktiver, ein großes Gemeinsames zu denken, das miteinander in Beziehung steht und sich gegenseitig beeinflusst. Das Nachdenken über Stille, die Entscheidung für bestimmte Lebensmodelle und -entwürfe scheinen universeller zu werden. Im Austausch mit der engsten Familie beim Essen oder mit Freunden über einen der vielen virtuellen Chats bemerken wir, dass Lebensmodelle vermehrt hinterfragt werden und gelernte Muster und Begriffe plötzlich morgen – oder besser in der ungewissen Gegenwart – nicht mehr funktionieren werden. Die Folgen von Covid-19 bringen uns wieder zu den 21 Erben. Wer sind diese Erben? Warum haben sie den Hof übernommen – aus Verantwortung, aus Überzeugung? Bald wird uns die Lockerung der Quarantäne hoffentlich erlauben, Wiesen- und Almwege zu bewandern und die obigen Bergbauernhöfe und noch andere persönlich zu besuchen. Inspiriert von den Erben der Einsamkeit, möchten wir uns dann entlang der Lebenslinien bewegen und jene jungen Menschen besuchen, die sich bewusst für die Stille am Berg entschieden haben und es wagen, Lebensweisen zu erproben, die der bäuerlichen Tradition mit Respekt begegnen und Gegenmodelle aufzeigen.

 

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