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Brenner-Gespräch (21): „Mit einem leeren Blatt nochmal anfangen“

So viele Leute fahren über die Alpen. Quart bittet herausragende Persönlichkeiten an den Straßenrand zu einer Jause mit Gespräch. Folge 21: die in Berlin lebende britische Komponistin Rebecca Saunders, die 2019 den Ernst von Siemens Musikpreis – oft auch „der Nobelpreis der Musik“ genannt – erhielt. Manos Tsangaris, Professor für Komposition und selbst ebenfalls ein vielgefragter Komponist und Kurator, hat sie interviewt. Ein Werkstattgespräch über das Eintauchen in die Nacht, labile Klänge, die Gefahren zu großer Aufmerksamkeit und das Komponieren als Akt der Hoffnung – das allerdings auf Grund der Corona-Krise nicht neben der Brenner-Autobahn, sondern via Zoom stattgefunden hat.

Manos Tsangaris: Ich wollte mit dem Beginnen beginnen. Wenn ich eine neue Idee verfolge oder ein neues Stück beginne oder Skizzen dazu mache, bereitet es mir den größten Spaß, weil alles wirklich neu und offen ist. Dagegen sind die Tage, an denen ich weiß, ich muss jetzt anfangen, die Partitur zu machen, mit die schwärzesten Tage in meinem Leben. Wie ist das bei dir?

Rebecca Saunders: Wir kennen das alle. Bis zu dem Moment, in dem ich anfange, die Partitur zu schreiben, gibt es wie bei dir einen langen Prozess der Vorbereitung – Klangpaletten festlegen, experimentieren, Austausch mit Musikern, eine Notation entwerfen; vielleicht werden daraus auch die ersten Skizzen. Und in dem Moment, in dem ich die Partitur beginne, da spüre ich oft einen enormen Widerstand und der ist total energiegeladen. Dieser Moment des Wartens interessiert mich ungeheuer. Das Warten ist eine Art „operational silence“. Und wenn ich an den Punkt komme, dass ich die Spur finde, die ich verfolgen muss, und das Komponieren beginnen kann, dann bin ich wie in die Musik hineingeschleudert. Die Stille, das Warten vor dem Komponieren ist sehr wichtig.

M. T.: Du bist ja eine Komponistin, die extrem intensiv recherchiert und mit Musikern zusammenarbeitet, bevor du ein Stück schreibst. Das Verhältnis von Induktion und Deduktion ist ja auch ein heikles. Man kann sich in Möglichkeiten verlieren. Wie schaffst du hier die Balance?

R. S.: Ja, ich arbeite sehr intensiv mit Musikern, aber das sind kleine, sehr intensive Zeitfenster. Sie sind von großer Bedeutung im kompositorischen Konzept. Wenn man wiederholt mit den gleichen Musikern arbeitet, entsteht über die Jahre ein großes Vertrauen. Das Experimentieren, das Musikmachen, der Prozess selbst steht im Vordergrund. Es ist für mich sehr befruchtend und inspirierend, dass diese jahrzehntelangen Beziehungen eigentlich immer weiter wachsen und dass ich immer mehr in bestimmte Ideen und Klangwelten eintauchen kann. Vielleicht neige ich deshalb dazu, immer wieder mit den gleichen Musikern zu arbeiten, weil das Leben so wahnsinnig kurz ist. Man kann nicht alles machen. Ich finde einen Klang, eine Geste, einen Kern und dann möchte ich da drei, vier Jahre drinbleiben. Das Filtern, den Klang oder die Geste zu identifizieren, den entscheidenden Moment zu erfassen, ist auch ein wichtiger Teil der Kompositionsarbeit, nicht wahr? Das hier ist der Klang. Warum das der Klang ist, weiß ich erstmal nicht. Tatsächlich, es gibt oft eine Reihe von Stücken, die aus nur einem Klangfragment oder Baustein entwickelt ist. Ein solcher Klang ist zum Beispiel ein doppeltrillerndes Flageolett mit glissando auf einem Abstrich sul ponticello*. Es ist ein Klang, der unheimlich labil und fragil ist. Wenn er laut ist, ist er brutal und direkt, und wenn er leise ist, zerbrechlich und unberechenbar. Und jedes Mal, wenn er gespielt wird, klingt er anders. Der gleiche Spieler, der gleiche Raum, die gleiche Akustik, das gleiche Gewicht der Hände – es wird immer anders klingen.

M. T.: Also je präziser du versuchst, dich dem Klang zu nähern, auch zu notieren – desto mehr entzieht sich dieser Klang gleichzeitig – darin liegt die Dialektik. Du versuchst so genau und letztlich auch so liebevoll wie möglich damit zu arbeiten und dich dem Phänomen anzunähern, und im selben Moment lässt es sich nicht wirklich beherrschen.

R. S.: Das ist genau richtig. Und ja, eine Art Liebe ist dabei; Achtsamkeit, Fokussiertheit – das sind wichtige Begriffe. Mir geht es darum, einem Klang auf Augenhöhe zu begegnen; dass man in dem Moment umfassend nur ein Ding betrachtet, sich auf das Ding einlässt und es mit absoluter Aufmerksamkeit betrachtet. Eine Notation zu entwerfen, die wirklich sofort verständlich ist, trotz all ihrer Komplexität, und – wichtig für mich persönlich – als kreatives Kompositionsmittel auch weiter fortsetzbar ist. Das Komponieren ist nicht nur hier (zeigt auf die Stirn) und in dem, was wir hören. Das Abstrahieren ist auch wichtig.

M. T.: Das bedeutet de facto, sehr nah an Phänomene und ihre Repräsentationen heranzugehen. Aber dann ist ja das Interessante immer wieder, von diesem Bild oder Phänomen weit wegzugehen, um es als Ganzes oder wenigstens diesen Teil als Ganzes betrachten zu können. Das meinte ich vielleicht mit Induktion und Deduktion …

R. S.: Ich verstehe jetzt, was du meinst. Natürlich ist es notwendig, immer wieder Abstand zu schaffen und rauszuzoomen. Es ist selbstverständlich auch beides gleichzeitig möglich, du kannst auch in dem innersten Klangdetail schreiben, dabei völlig in der Musik verlorengehen und trotzdem gleichzeitig das Ganze im Blick behalten. Aber es gibt unterschiedliche Mittel, die dazu dienen, nicht nur Abstand, sondern auch andere Perspektiven zu gewinnen, um das gerade entstehende Stück wirklich umfassend zu verstehen. Ganz banal zum Beispiel das ganze Stück an die Wand zu kleben, sodass man eine grafische Übersicht hat. Oder die Komposition mit dem Metronom mehrmals durchzuhören. Das kann anstrengend sein, tut fast weh, aber es entsteht für einen Moment eine andere Perspektive. Ich habe früher oft auch einzelne Gesten eines Werks auf einzelne Blätter geschrieben. Die Blätter habe ich aber nicht nummeriert und sie nach grafischen Darstellungen an die Wand geklebt. Dadurch konnte ich das Material ganz unterschiedlich betrachten. Das gab mir die Möglichkeit, die verschiedenen Facetten der Gesten oder des Materials besser zu verstehen und den Zusammenhang dieser Gesten anders wahrzunehmen. Denn natürlich – wie du genauso weißt –, der Kontext ist alles. Wie der Klang oder die Geste klingt, was für eine Musik das tatsächlich wird, ist abhängig davon, was vorher und nachher kommt, wie es gerahmt wird. Mit der Reihenfolge zu spielen schafft neue Perspektiven des Klangmaterials und Kompositionsprozesses.

M. T.: Der Philosoph Odo Marquard wurde einmal von Journalisten gefragt, was er am nächsten Tag tun würde, wenn er wüsste, dass er übermorgen sterben müsste? Und er sagte, er würde dann am liebsten schlafen. Er war fast schon berühmt dafür, dass er, um zu arbeiten, unheimlich viel schlief. (Was bei mir übrigens ganz ähnlich ist.) Das Gegenteil wäre die Schauspielerin Corinna Harfouch, die sagt, um arbeiten zu können, müsse sie in den luziden Zustand des Schlafentzugs kommen. Es stellt sich also die Frage, wie man mit sich selbst als Instrument umgeht, als Wesen, hinsichtlich der Möglichkeit zu arbeiten.

R. S.: Ich glaube, dass mein Arbeitsrhythmus, mein Schlafrhythmus, meine Beziehung zu meiner Arbeit anders ist als bei dir. Für mich hat es etwas mit Abwechslung zu tun. Abwechslung zwischen dem Komponieren, für mich ganz allein, und der Familie – also ein Teil von einem sozialen Gefüge zu sein. Das ist eigentlich eine Dynamik, ein Gleichgewicht, das wahnsinnig gut funktioniert. Ich kann, wenn ich Zeit habe, überall und immer komponieren. Aber das kommt zum Teil daher, dass ich oft wenig Zeit zum Komponieren habe. Ich habe nicht diesen Luxus des Leidens oder des Wartens oder des Rumschwirrens. Ich setze mich hin und arbeite, weil ich jetzt fünf Stunden für mich habe. Sonst würde ich nie komponieren. Insofern habe ich durch die Familie eine wahnsinnige Arbeitsdisziplin erlernt.

M. T.: Du arbeitest am liebsten nachts?

R. S.: Ja, aber als meine Kinder klein waren, wäre das niemals möglich gewesen. Da war es ganz anders. Inzwischen bin ich aber zu meiner alten Gewohnheit zurückgekehrt, nachts zu arbeiten. Ich liebe es, wenn die Welt stillsteht. Ich mag es, in die Nacht einzutauchen. Keine E-Mails, keine Ablenkungen. Ich mag die Dunkelheit.

M. T.: Der Ausgleich zum Komponieren, den wir, glaube ich, alle irgendwie brauchen, der ist bei dir also vor allem sozial determiniert durch Familie, Familienleben, auch Verantwortung. Und da komme ich auf ein Stichwort zurück, über das wir schon gesprochen haben: Auch hier sehe ich eine Form des Widerstands. Wenn du jetzt 27 Stunden am Tag Zeit hättest und dich nur mit der Innenschau und Nabelschau beschäftigen würdest, dann wäre ein ganz anderer Stoffwechsel im Gange, als wenn du weißt, du hast nur so und so viel Zeit. Da wird die Zeit sehr kostbar, die man hat, um dann noch die solitäre Arbeit zu tun.

R. S.: Ich glaube, das sind zwei ganz wichtige Begriffe. Das ist natürlich Widerstand im besten und positiven Sinne. Und Kostbarkeit. Es ist doch ein Luxus, morgens aufzustehen und erstens diese Begeisterung zu empfinden, dass ich wieder Kaffee trinken kann, und dann zweitens zu denken: Scheiße, ich kann jetzt komponieren, schon wieder. Ich meine, was für ein Geschenk ist so ein Leben! Es macht mich glücklich, dass ich komponieren kann. Und es ist kostbar.

M. T.: Das hört man deiner Musik auch an. Man hört diese Freude, die du gerade beschrieben hast.

R. S.: Ich mag diese absolute Fokussiertheit. Sagt man das so, Fokussiertheit? Fokussiert zu sein, in dem Moment sich zu verlieren, diese absolute Aufmerksamkeit aufzubringen, in dem Klang drin zu sein. Ich habe manchmal einen brennenden Hunger auf das Komponieren.

M. T.: Gab es einen markanten Impuls für deine Entscheidung, das Leben dem Komponieren zu widmen? Oder war es eher ein schleichender Prozess, also etwas, was sich sukzessive ausgeformt hat?

R. S.: Es war keine Entscheidung, es ging schleichend und ziemlich unbewusst. Als ich noch ganz jung war, wusste ich überhaupt nicht, was ich machen sollte. Überlegt war das alles nicht. Ich wählte Komposition als mein Hauptfach, als ich mein Bachelor-Studium in Edinburgh machte. Als ich fertig war, bekam ich ein Stipendium, um ein Jahr im Ausland zu studieren. Ich hatte vom Goethe-Institut Musik von Wolfgang Rihm auf Kassette bekommen. Die habe ich angehört und gesagt: Wo ist der? Karlsruhe. Wo ist Karlsruhe? Deutschland. Wo ist Deutschland? Okay, rechts von Frankreich; da fahr ich hin. Es war fast instinktiv. Ich hatte sehr großes Glück. Als ich ankam, habe ich gesagt, ich gebe mir ein Jahr. Und wenn ich merke, das wird nichts, fahre ich wieder nach Hause.

M. T.: Das klingt so, als sei dann doch diese Zeit bei Wolfgang Rihm in Karlsruhe eine entscheidende Schwelle gewesen.

R. S.: Absolut. Ja, das war für mich eine entscheidende Chance. Ich habe meine Geige weggepackt und von einem Tag auf den anderen aufgehört, aufführende Musikerin zu sein. Ich glaube, es ist wahnsinnig wichtig, sich in eine andere Kultur zu begeben, mit einem leeren Blatt nochmal anzufangen. Bloßgestellt, fast nackt. Man betrachtet die Welt und auch sich selber aus einer völlig neuen Perspektive. Ich stelle mir manchmal vor, dass wir wie eine Art Prisma sind. Es gibt abhängig von unserer Geschichte, den Einflüssen, den Chancen, der Erziehung, den Gesellschaften, in denen wir gelebt haben, nur beschränkte und bestimmte Facetten unserer Persönlichkeit, die sich entwickeln können. Sobald du als junger Mensch außerhalb der eigenen Kultur alles infrage stellen kannst, ist es eine große Chance.

M. T.: Da möchte ich mir erlauben, in dem Zusammenhang eine Passage aus Paul Celans Büchner-Preis-Rede aus dem Jahr 1960 zu zitieren: „Die Kunst erweitern? Nein. Sondern gehe mit der Kunst in deine allereigenste Enge. Und setze dich frei.“

R. S.: Finde ich super. Ich stimme überein.

M. T.: Ich habe das Zitat ausgesucht, weil ich das Gefühl habe, es korrespondiert mit dir und deiner Arbeit, mit dem, wie ich dich wahrnehme, jedenfalls. Du hast die Geige weggepackt, du hast ein neues Leben begonnen. Und irgendwann kommt dann dieser Moment, in dem man sich sagt: Wenn ich das schon tue, dann versuche ich auch wirklich absolut mein Bestes. Der Versuch, die Praxis und die Notwendigkeit, mit der Kunst in die allereigenste Enge zu gehen – und „setze dich frei“. Das ist das Gegenteil von dieser äußerlichen Vorstellung von Innovation, wie sie uns zum Teil auch oktroyiert wird. Die Vorstellung, du wärest jetzt als Komponist damit beschäftigt, nochmal was Neues zu erfinden.

R. S.: Es geht weniger darum, etwas Neues zu erfinden. Wir erfinden ja keine neuen Klänge. Es ist alles bereits da. Wir rahmen, klammern das bereits Existierende aus, ermöglichen, etwas auf eine andere Art und Weise wahrzunehmen. Mir ist oft erst bewusst, wonach ich suche, wenn ich etwas Abstand habe und denke: Womit bin ich gerade beschäftigt? Welche Künstler begeistern mich? Was ist es in ihrer Kunst, das mich so fasziniert …

M. T.: Kannst du ein Beispiel nennen?

R. S.: Das erste Mal, als ich die Musik von Galina Ustwolskaja gehört habe, war so eine Situation. Das war für mich ein Schlüsselmoment. Es war 1992, als Wolfgang Rihm eine neu erschienene CD vorstellte. Ich habe das Duett für Violine und Klavier das allererste Mal gehört und es hat mich so umgehauen! Es hatte etwas mit dieser skelettartigen Struktur, dieser vollkommenen Reduziertheit zu tun; dass nur das absolut Notwendigste sichtbar und hörbar gemacht wird, dass die Struktur vibriert, so wie man es auch bei Bach erleben kann. Ich fand diesen Mangel an Überflüssigem so direkt und mutig. Ich hatte bis zu diesem Moment noch nie ein Werk gehört, das so über sich hinausgegangen wäre. Es fehlt oft – glaube ich – diese Unmittelbarkeit in der Kunst. Diese Musik hat mich geschlagen in ihrer physischen Direktheit und auch mit ihrer geistigen Klarheit. Es hat mir sehr imponiert. Als das Stück allerdings zu Ende ging, dachte ich: Scheiße, ist schon gemacht worden! Es hat mir aber auch Mut gemacht und mich bestätigt: Auf diesem Weg muss ich gehen, ein Komponist muss eigentlich so sein.

M. T.: Mein Lehrer Mauricio Kagel hat mir gegenüber mindestens zwei-, dreimal gesagt: „Wissen Sie, die anderen haben alle Krisen in ihrem Leben. Ich hatte nie eine Krise, ich hab’ immer weitergeschrieben.“ – Das war mir schon damals, ehrlich gesagt, ein bisschen suspekt. Das Wort Krise selber geht ja auf „krínein“ zurück, im Griechischen heißt das: unterscheiden, sondieren. Ich meine, was wir tun, hängt sehr mit dem Unterscheiden zusammen, der Werdegang eines Komponisten hängt stark damit zusammen: zu unterscheiden und auch sich zu entscheiden. Deshalb die Frage an dich: Wie ist dein Verhältnis zur – nehmen wir mal dieses Wort – „Krise“? Wie klingt das für dich?

R. S.: Das hat für mich wenig mit dem Komponieren zu tun. Das Komponieren ist ein lebensbejahender Akt, es ist das Tun, das Erschaffen. Egal ob du scheiterst, egal was du da riskierst – es ist das Machen, das wichtig ist. Es ist ein Akt der Hoffnung. Und dass wir in dieser Zeit trotz aller Widrigkeiten komponieren, das ist immer wieder ein erneuter Versuch, Hoffnung zu bewahren – und das ist wahnsinnig wichtig. Jeder hat seine Krisen, jeder hat immer wieder diese Momente des Umbruchs im Leben. Das Leben ist bekanntlich fragil und äußerst unberechenbar. In einem Augenblick kann es dich umschmeißen. Das passiert jedem irgendwann. Als Komponist erlebst du das auch. Du musst neu anfangen, bist aufgefordert anders zu denken, dich infrage zu stellen, ganz andere Schaffensräume aufzureißen. Es gab für mich Momente, in denen mir bewusst war, dass ich ein Stück schreiben muss, um durch die Wand zu hauen, und dass es höchstwahrscheinlich nicht gelingen kann; aber dass es notwendig war, das zu schreiben, um mich in einen anderen Raum zu begeben, um mich mit einer anderen Ästhetik oder Form, einem anderen Klang auseinanderzusetzen, ja, um weiterzukommen. Das ist vielleicht meine Art, wie ich eine Krise umsetze. Vielleicht ist das eine Art. Ich habe immer weiter geschrieben, geschrieben und geschrieben und geschrieben. Es ist sehr unangenehm, wenn man nicht arbeiten kann, aber es ist wahrscheinlich auch wichtig, das zuzulassen.

M. T.: Du zählst – das kann man ja ruhig in diesem Rahmen sagen – zu den international erfolgreichsten Komponisten der Gegenwart. Kann Erfolg einen auch … ich will nicht sagen: in eine Krise stürzen … aber kann das auch zum Dämon werden, Prize Winner zu sein?

R. S.: Wenn man viel Aufmerksamkeit bekommt, ist es ein Problem. Es ist gefährlich und unangenehm, sich von außen zu betrachten. Es hat nichts mit der Arbeit, mit Kunst zu tun. Ich habe wirklich immer wenig nach links und nach rechts geguckt. Das hat etwas mit meiner Lebenssituation zu tun, ich hab immer einfach gearbeitet und versucht, wenig darüber nachzudenken, was über mich gesagt wird, was andere über mich denken, und einfach mit Beharrlichkeit das gemacht, was ich machen will. Und ich habe versucht, das so gut zu machen, wie ich kann. Das machen wir irgendwie alle, oder? Man darf sich nie in die Situation begeben, dass man sich zu ernst nimmt, dass die eigene Stimme zu laut und wichtig wird. Es ist nicht das, worum es geht. Man muss super bescheiden bleiben, das ist notwendig für unsere Arbeit, man muss einfach aufstehen und sagen: Ach, großartig, Kaffee, und mit dem Komponieren loslegen.

M. T.: Was bedeutet Wiederholung für dich? Das ist jetzt der Moment, wo ich das fragen muss.

R. S.: Sehr viel. Ich würde das so unterteilen: Meine Pianissimo-Musik – das sind hauptsächlich statische, mobile-artige, räumliche Werke, wo die Einzelmusiker in einem geteilten akustischen Raum in eine Art Dialog miteinander treten –, diese Musik hat sehr viel mit Wiederholung zu tun. Immer wieder gleiche oder ähnliche Fragmente werden in immer neuen Konstellationen und Überlagerungen wiederholt. Diese kleinen Wiederholungen bilden in verschiedenen Kombinationen eine Gesamtform, es entsteht nach und nach eine Art klingende Skulptur. Aber auch in meinen anderen Werken ist Repetition wahnsinnig wichtig, weil ein Stück oft auf einem einzigen Klangfragment beruht. Organisch, aus der Vielfalt oder aus dem Potenzial dieses Kernklangs, entwickelt sich ein ganzes Werk. Das Ausloten dieses einen Klanges oder der einen Geste ist eigentlich auch eine Art Fragestellung. Es wird wiederholt, immer wieder. Der Klang wird in unterschiedlichen Rahmen, in unterschiedlichen Kontexten verändert und mutiert so weit, dass die neue, mutierte Form eigentlich kaum noch als ursprüngliches Material erkennbar ist, aber organisch immer noch eng damit verbunden ist. Wenn man mein Violinkonzert „Still“ hört – das ist eigentlich Wiederholung pur. Das ist fortlaufend, beharrlich, erschöpfend, immer weiter, immer weiter das Gleiche, das Gleiche, das Gleiche – aber jedes Mal anders.

M. T.: Das korrespondiert doch mit dem Leben eines Komponisten – oder?

R. S.: Ja, absolut. Immer das Gleiche, aber hoffentlich immer etwas anders.

M. T.: Der Kaffee ist auch zwangsläufig immer ein bisschen anders, aber es ist eben Kaffee. Und dann die Hoffnung jeden Tag – und das Fenster, das sich öffnet …
Ich bin dir sehr dankbar für das Gespräch. Aber eine letzte Frage finde ich jetzt doch noch notwendig, nämlich: Was lernen wir von den Kindern?

R. S.: Von Kindern? Die Welt als ein Wunder zu betrachten, ein Ding wie zum ersten Mal zu erleben, ihm unbeschränkte Aufmerksamkeit zu widmen. Und Kinder schenken einem einen Abstand zu sich selbst – man merkt, dass man nicht das Zentrum des Universums ist.

M. T.: Was fehlt noch?

R. S.: Ich wollte noch etwas über das sogenannte Unbenennbare sagen. Du hast diese Prize-Winner-Frage gestellt – das ist etwas unangenehm. Ich empfinde, dass das gesprochene Wort auch sehr viel kaputtmachen kann. Wir arbeiten mit dem Unbenennbaren. Und das ist so kostbar, so magisch. Musik ist tief in der heutigen Realität verankert, die sie widerspiegelt, sie entspringt ja aus dem here and now. Diese ungeheure Kraft, der Sinn und die Bedeutung, die Musik hat – sie hat die Fähigkeit, unter die Oberfläche zu gehen, sich mit etwas zu beschäftigen und etwas Raum zu geben, das kaum artikulierbar, das verborgen ist. Musik kann etwas enthüllen, es geht über das Normale hinaus und deutet etwas Fragiles und höchst Menschliches an. Und wenn man spricht, habe ich das Gefühl, dass einem diese Dimension entgeht. Mit dem geschriebenen Wort versuche ich manchmal eine Essenz zu erlangen, aber ich komme nie ans Ziel. Mit der Musik aber kommt man unmittelbar an das Ding selbst heran. Man kann zumindest ganz nah herantreten, so dass man auch durch das Schlüsselloch schauen kann.

* Anmerkungen:
Triller – Verzierung in der Musik; schneller Wechsel des notierten Haupttons mit dem darüber liegende Nebenton (Halbtonschritt oder Ganztonschritt) über die Dauer der Hauptnote hinweg
Doppeltriller – Triller auf zwei Tönen desselben Akkords
Flageolett – ein meist auf einem Streich- oder Saiteninstrument erzeugter Ton bzw. Oberton, der durch die Anregung einer Oberschwingung als Teilschwingung der Saite entsteht
glissando – kontinuierliche (gleitende) Veränderung der Tonhöhe beim Verbinden zweier Töne
Abstrich – Streichen des Bogens in der Richtung vom Frosch zur Spitze
sul ponticello – Spielanweisung für Streichinstrumente, bei welcher der Bogen möglichst nahe am Steg geführt werden soll

 

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