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Die Landschaft übernimmt. Landvermessung No. 5, Sequenz 8

Geschichten kann man auch durch geometrische Operationen auf der Landkarte generieren: In Quart folgen unterschiedliche Autoren mit unterschiedlicher Kondition unterschiedlichen Linien (s. Übersichtskarte). Wir befinden uns derzeit auf der Geraden, die von Obermauern im Osttiroler Virgental Richtung Südtirol und weiter ins Trentino führt. Hier die neueste Folge von Marie Gamillscheg – eine Reiseerzählung, die rund um den Dolomitengipfel Croda da Lago bei Cortina d’Ampezzo führt. Im Mittelpunkt steht der „Anthropos als ein Jemand, der noch an seine Regenjacke glaubt und nach Worten sucht“.

Ich dachte ja, es wird ein Text über das Wetter. Also ein Text über eine ehrgeizige Dolomiten-Wanderung, die dann in drei Regentagen verschwindet. Darüber, dass man im Radio, am Hinweg, erneut, schon wieder, über das Anthropozän gesprochen hatte, dass man dann natürlich gleich die ersten in den Fels gehauenen Tunnel, die Lawinenzäune und die Maschendrahtgitter über den Überhängen ober der Straße, fest über den Berg gezurrt, sah, dass man das alles natürlich gleich anders zu lesen wusste, dass man dann fortwährend über das Anthropozän und sich selbst in diesem Zeitalter nachzudenken hatte, dass sich das alles, 1000 Höhenmeter weiter oben, auf einmal nicht mehr einlöste, als man auf einmal verschwindend klein vor einer Felswand stand und die ersten Regentropfen eine andere Welt ankündigten, oder zumindest den Untergang der ersten, dass man sich dann doch schämte für den eigenen Größenwahn und sich dachte, ja genau, der Anthropos also … Ein Text über Erwartungen (Berge, Murmeltiere, wettervergilbte Bergsteigergesichter), in dem die Klosterneuburgerin im Flixbus Berlin – Wien erst noch „Österreichisches Essen stinkt nicht!“ schreien dürfte. In dem man zumindest kurz, beim Aufstieg, über die Hochlager des Ersten Weltkriegs nachdenkt. Und über Terence Hill mit den eisblauen Augen (oh eisblaue Augen), den es in den 2000ern aus Hollywood in die Dolomiten verschlagen hatte, um als Förster Pietro in Die Bergpolizei – Ganz nah am Himmel Verbrechen aufzuklären. Man sagt sich, seine einzige Bedingung für die Rolle war, dass Förster Pietro auf einem Pferd zu den Tatorten ritt.

Ich reise mit dem Auto an. Oder jemand anderer lenkt das Auto, damit ich aus dem Fenster heraus ins Auto hinein Notizen machen kann: In diesem Text fahre ich das Auto. Ich fahre über Cortina d’Ampezzo in den Kreis auf der Landkarte hinein, bleibe nur einmal für einen Blick auf den Himmel stehen. Ich fahre weiter. Ich werde trotz der abgehangenen Horizonte heute noch zum Rifugio Croda da Lago aufsteigen. Ich werde Murmeltiere, Edelweiß, schroffe Bergwände, ledrige Gesichter sehen. Ich werde zu jemandem sagen: Wir sind auf dem Mond. Ich werde sagen: Wir sind in der Wüste. Jemand antwortet: The Dolomites are otherworldly. Ich werde einen Liter Weißwein im Rifugio trinken und am nächsten Tag kein Kopfweh haben. Ich werde später, am nächsten Tag, Motorradfahrer sehen, die mit Schwindelköpfen einen Dolomiti-Toast nach dem anderen essen, und kleine, dünne Rennradfahrer mit glänzenden Beinen und glänzenden Trikots, die gegen die Serpentinen ankämpfen. Ich werde noch später am Hotel Corona vorbeifahren und eine Weile darüber nachdenken, wie ein Text über veränderte Menschenlandschaften nach einer Pandemie aussähe. Ich werde den Gedanken notieren und mich gleich danach dafür schämen. Ich werde vor Alleghe ganze Hänge voller Mikado-Bäume sehen, vom letzten Sturm durcheinandergewirbelt, ergraut.

Aber zuerst parke ich das Auto drei Kilometer vor dem Giau-Pass, dort beginnt der Wanderweg 437. Bergab, bergauf, ein schmaler Bach. Der Anthropos als ein Jemand, der noch an seine Regenjacke glaubt und nach Worten sucht, er muss ja schreiben, die Bäume abschreiben und in seinen Text übersetzen, immer schreiben, immer schauen, was man noch rausholen kann aus diesem Wind: Aber je länger er geht, desto mehr verkommt er, Schritt für Schritt, zu einer unscheinbaren Nebenfigur, bald nur mehr Beobachter, Schwitzender. Die Landschaft übernimmt.

CRODA DA LAGO
Gleich auf der anderen Seite des Sees geht eine steile Kalkwand hoch, gerade den Wolken zu, pflanzenlos, glatt gespült vom Urmeer. Tagsüber mühen sich darauf Klettermenschen ab, die Senkrechte zu überwinden, schreien den Fels an, der mit ihnen neckische Spiele spielt, sie anlockt, bezirzt, verführt am Ende, um sie dann doch wieder fallen zu lassen, abzustoßen. Immer wieder probieren sie es. Abends fallen sie gleich nach dem Essen im Rifugio Croda da Lago, am Fuße des Berges, in ihre Betten, in einen festen, traumlosen Schlaf, und der Berg kann nachts seinen eigenen Geschäften nachgehen, nachdem er sich den Tag mit Lohnarbeit im Tourismusgewerbe abgemüht hat. Nachts wird der Berg zweidimensional, flächig grau, bald schwarz vom Tal aus gesehen, und später, wenn der Himmel aufglüht, ist er brennend rot. Wenn doch mal einer der Menschen aufwacht, weil ihm die Sonne des Tages im Schlaf in die Schläfen drückt oder doch der Wein oder die gezerrten Handgelenke, tauschen vor dem Fenster der Himmel und die Landschaft gerade ihre Waren aus und die Felsen feilen bereits ihre Felsen für das Morgengeschäft spitz und glatt. Der Mensch sieht nur ein Aquarell in den Horizont gemalt, in Farben, das wird er dann beim Frühstück erzählen, die es nur in Träumen geben kann.

LAGO FEDARA
In seinen Pausen wirft sich der Croda da Lago, müde vom Tagesgeschäft und von der durchwachten Nacht, in den See. Er verzerrt sich zu den Seiten hin, macht sich breit, fett, und nur wer genau hinsieht, merkt, dass in der glatten Oberfläche des Sees seine Konturen zittern. Die Legende sagt, dass ein Drache das Loch des Lago Fedara aushob, um sich dort in den Bergen vor seinen Fress- und Lebefeinden zu verstecken. Mit der Zeit floss aber das Wasser von den Schneefeldern ab und füllte das Erdloch nach und nach auf, bis es auf einmal ein See war. Nur die Zacken, auf die Oberfläche des Sees gemalt, verrieten das Versteck des Drachen. Jedes Jahr, während der ersten kalten Oktobertage, wenn die Klettermenschen schon verschwunden sind und die Skimenschen noch auf den Schnee warten, macht sich der Drache aus dem Wasser in den warmen Süden auf und das Tal steht dann ohne Croda da Lago da; für ein paar Tage leben die Tiere, Pflanzen, Steine ihre anarchischen Fantasien einer Zivilisation ohne Hierarchien. Was sagt die Legende? Legenden erzählen doch nur die Menschen.

FORC. D’AMBRIZZOLA
Um diese Talseite kümmert sich der Croda da Lago erst ab dem späten Nachmittag, wirft ihr einen Schattenmantel über und lässt sie, vom Vormittag überhitzt und übermüdet, ruhen. Schließlich ist die eitle Landschaft hier in einer Tour mit Aufräumarbeiten beschäftigt, damit den Wandermenschen, wenn sie oben an der Kuppe stehen und zum ersten Mal auf die andere Seite schauen, als Erstes ein Wort einfällt: unberührt. Der Mensch ist der Landschaft hier an sich natürlich ganz gleich, ob er kommt oder nicht, ob und was er denkt und ob er die Gewitter hier überlebt. Es geht ihr vielmehr darum, dass – auch wenn stets höhere Häuser und Türme, giftige Pilze im Tal in die Höhe sprießen und über immer größere Distanzen dünne Fäden die kargen Strommasten wie ein zittriges Spinnennetz verbinden –, dass sich all das von hier nicht erahnen lässt. Es ist ein Witz der Natur. Dem ersten einfallslosen unberührt folgt nämlich ein Gefühl, für das der Mensch tatsächlich keine Worte findet. Müsste er dafür doch zuerst wissen, dass er sich, da an der Kuppe stehend, von der Talseite kommend, wo man hinter dem Lago Fedara stets nur noch mehr Berge gesehen hat, doch ein Zeichen gewünscht hat, dass dieses unaufhörlich größer und kräftiger und satter werdende Gelände irgendwo endet, dass es irgendwo von Menschenhänden erobert und gezähmt wurde. Aber von der Kuppe sieht er auf keine Stadt, keine Bahngleise, kein Dorf, kein Haus, keinen Turm, keine Strommasten. Er sieht auf ein grünes, weiches Tal. Wie ein Meer rollen dort die Gräser mit dem Wind auf ihn zu und wieder zurück, dahinter kleinere Felszacken, dahinter mehr grünes Meer, dahinter Felsen, Berge, weiterhin drängt sich der Himmel hinein. Und irgendwo, weit weg, schleichen sich Füchse in Hotelzimmer und beißen den Gästen ins Genick. Sie kommen von hier, aus der Forc. d’Ambrizzola.

CRODA DA LAGO
Es gefällt dem Croda da Lago, dass die meisten Wandermenschen sich nicht auf den Weg zu seiner Spitze trauen, sondern sich damit begnügen, in aller Demut um ihn rundherum zu pilgern. Am höchsten Punkt des Rundwegs schickt er sie über eine Geröllpiste, über Steine, zwischen Felsvorsprüngen hindurch. Das Weiß des Steins sticht in den kleinen Augen der Menschen, die ein paar Meter blind herunterstolpern, bis sie wieder an einen Felsen anstoßen oder über eine plötzliche Kante stolpern. Verzweifelt suchen sie nach Anzeichen, dass hier Wandermenschen vor ihnen schon gewesen sind, schließlich ist noch schmerzhafter als der blinde Fleck in den Augen die Vorstellung, dass diese Orte, Wege, Gestalten aus Stein tatsächlich nicht vom Menschen gemacht sind. Hier, wo es keine Gräser, keine Büsche mehr gibt, nur ein paar besonders mutige Moosflecken, gehen die Geschäfte in der Nacht am meisten um. Es ist eine Landschaft, die sich unaufhörlich umgräbt und neu schafft, die Steine, Felsen sind in ständiger Bewegung, ordnen sich jeden Morgen neu an. Kritiker meinen, dass der Croda da Lago hier einem Fließbandkapitalismus und der Selbstoptimierung verfallen ist. Die Steine allerdings wissen von Begegnungen mit größeren, älteren Felsen zu berichten, die auf einer Augenhöhe passieren, von denen andere Berge nur träumen können.

RIO COSTEANA
Es geht bergab, immer weiter bergab, bis die ersten Bäume kommen, Sträucher, Blumen, ein Bach, dann ein ganzer Wald. Die Bäume sind Geschöpfe ohne Ehrgeiz und Neid, alles, was sie suchen, finden sie in der Gemeinschaft. Farben und Formen gibt es im Überfluss, hier ein Licht von einer fernen Planetensonne, ins Hellrosa gehend, dort noch ein Sonnenstrahl von letzter Woche, schon milchiggelb, dieses fünfdimensionale Tannengrün, was will es nur – was will vor allem dieses Grau hinter den Bäumen, das sich bald nicht mehr verbergen lässt?

Der Wanderweg 437 endet an der Passstraße. Ich steige ins Auto und fahre hoch zum Giau-Pass, halte an der Raststation dort. Von links treten die Radfahrer hoch, von rechts kommen die Motorradfahrer. Hier oben haben sie den Pass besiegt, die 28 Serpentinen von Alleghe hoch, jetzt essen sie, trinken sie, machen Fotos vor der Tafel Giau-Pass, rufen ihre Verwandten und Freunde an, schreiben Postkarten, pflegen ihre Fahrräder und Motorräder, trinken das erste Bier des Tages. Eine Weile sitze ich in ihrer Mitte auf der Terrasse der Raststation. Ich trinke ein kleines Glas Cola und wundere mich über den Menschen, am meisten über mich selbst.

Erratum: Bei der Zählung der Landvermessungen in den beiden letzten Ausgaben (Nr. 34 und 35) hat sich ein Fehler eingeschlichen. Korrekterweise wäre der Beitrag von Daniel Wisser die Landvermessung No. 5, Sequenz 6, jener von Anna Weidenholzer die Landvermessung No. 5, Sequenz 7 gewesen.

 

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