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Doderer in Hintertux

Der Zillertaler Gletscherskilauf als Frucht eines irrtümlichen Besuchs Heimito von Doderers in Hintertux.
Von Georg Payr

Jedes Land brauche einen breiten Arsch und Lederhosen, auf dem es solide sitze, deswegen habe Deutschland Bayern und Österreich Tirol. Wer das gesagt hat? Heimito von Doderer. Und woher wir das wissen, hat doch Doderer über Tirol (und, weils halt auch genannt wurde, über Bayern) sonst kaum etwas gesagt? Von Wolfgang Fleischer, Doderers ehemaligem Sekretär. Das Gespräch mit ihm, geführt von Alexandra Kleinlercher, ist auf der Homepage der Heimito-von-Doderer-Gesellschaft nachzulesen.
Damit wäre über Doderer und Tirol eigentlich schon alles gesagt. Eigentlich. Uneigentlich nicht. Denn Heimito von Doderer war irrtümlicherweise in Hintertux. Das ist schon eine Weile her und Hintertux war damals wirklich noch Hintertux. Zwar mit einem Gletscher ausgestattet, aber noch nicht mit einem Gletscherskigebiet. Zwar mit Einwohnern ausgestattet, aber noch nicht mit so wohlhabenden wie seit dem Gletscherskigebiet. Zwar abgelegen, aber nicht so abgelegen wie seit dem Gletscherskigebiet.
Wer Näheres über Doderers versehentliche Reise nach Hintertux erfahren möchte, lese Georg Payrs Ausführungen dazu in Quart Heft für Kultur Tirol Nr. 36. Hier und heute kann aus Zeit- und Pietätsgründen nur eine knappe Darstellung des seinerzeitigen Kurzbesuchs des Großschriftstellers in Hintertux geboten werden.
Doderer wollte eigentlich mit dem Zug nach Reichenau an der Rax fahren und von dort auf dem Wanderweg nach Prein an der Rax spazieren (keine sehr lange Strecke, Doderer war kein Geher und erst recht kein guter), wo er ein Haus hatte, in das er sich zum Arbeiten gern zurückzog. Doch es war etwas Unvorhergesehenes und überhaupt Unvorhersehbares eingetreten. Doderer trieb es gern exzessiv, Disziplin wie jene eines Thomas Mann war ihm fremd, sosehr er sie sich manchmal auch für sich wünschte. (Funfact: Doderer war eifersüchtig auf Thomas Mann, trotz seines Erfolges mit der Strudlhofstiege war er eifersüchtig auf den noch viel Erfolgreicheren, weshalb er sich weigerte, von ihm auch nur eine Zeile zu lesen.)
Doch wir schweifen ab, wir waren bei Exzessen. Diese konnten gleichermaßen sexuelle (siehe Dorothea Zeemann, Jungfrau und Reptil) wie alkoholische sein. Was ihn letzten Endes nach Hintertux brachte, war ein Exzess alkoholischer Art. Wein, Cognac, Whisky – wir wollen nicht spekulieren, die Dokumentation darüber ist lückenhaft, was bei der Thematik nicht weiter verwundert. Jedenfalls war Doderer am Vormittag nach dem Exzess derart derangiert, dass er den Wiener Südbahnhof mit dem Westbahnhof verwechselte oder umgekehrt. Er stieg im Westbahnhof – ohne dessen Kopfbahnhofdasein auch nur ansatzweise wahrzunehmen – in einen Zug, und wenn er schon im Großen auf nichts achtete, so erst recht nicht im Kleinen, kein Schild auf dem Waggon interessierte ihn, keine Bahnsteignummer, keine Lautsprecherdurchsage. Er war sich sicher, im richtigen Zug zu sitzen. Und in dieser Gewissheit schlief er ein.
Als er aufwachte, war es nicht etwa der Schaffner, der ihn geweckt hatte, sondern ein offenbar langes Stillstehen des Zugs. Doderer schaute aus dem Fenster und fand sich nicht zurecht. Was er sah, sah nicht so aus, wie es hätte aussehen sollen. Keine Silhouette eines vertrauten Rax-Gebirges, nichts Semmeringhaftes, es war ein offensichtlich großer Bahnhof inmitten einer konturlosen Diesigkeit. Er war allein im Abteil und konnte also niemanden fragen. Das hätte er aber ohnehin nie getan, jemanden gefragt, noch dazu etwa so etwas wie „Wo bin ich?“. Aber denken tat er es. Das durfte er. Und jetzt öffnete auch jemand die Tür, es war der Schaffner. „Sie haben aber lang geschlafen“, sagte er. „Und Sie machten den Eindruck, als hätten Sie es nötig. Darum hab ich Sie nicht geweckt. Jetzt aber darf ich Sie um Ihre Fahrkarte bitten.“ Doderer reichte sie ihm (naturgemäß verwirrt), der Schaffner wollte sie schon lochen, stutzte, kratzte sich am Kopf und sagte: „Mein Herr, Sie sitzen im falschen Zug.“ Palaver hin, Palaver her, Doderer war in Rosenheim mitten im Deutschen Eck zum Stehen gekommen mitsamt einem völlig falschen Zug, und aussteigen war unmöglich, weil nicht erlaubt. Nicht nur nicht erlaubt, nicht möglich, der Korridorzug hatte versperrte Türen, auf dem Weg von Österreich nach Österreich durfte in Deutschland niemand aussteigen, niemand zusteigen. Wozu der lange Halt dann gut war, war fraglich, aber nicht die primäre Frage, die Doderer beschäftigte.
In Kufstein stieg er aus. Er entsann sich, dass Dorothea von einem Sommeransitz Egon Friedells am Kufsteiner Thierberg erzählt hatte. Nun, Friedell interessierte ihn nicht besonders, Jude halt, aber Dorothea hatte auch von einem Gasthaus in der Nähe von Friedells Villa gesprochen, das sie an Gasthäuser oder überhaupt an Häuser am Semmering erinnert habe. Und so traf Heimito von Doderer am 12. Juni 1964 im Gasthaus Edschlößl ein, einem wahrhaft semmeringischen Bau, auf dessen Speisekarte (verschollen, seitdem das Haus nicht mehr Gasthaus ist) der Besuch nie vermerkt wurde, weil Doderer zu seinem doch recht großen Erstaunen und Bedauern unerkannt blieb. Bis in den Westen der Republik war sein Ruf offenbar nicht vorgedrungen. Doch der Tafelspitz, auf die Karte gesetzt auf Friedells Anregung hin – er war gern im Edschlößl zu Tische gesessen –, war gut, selbst in Wien hätte man (hier: Doderer) ihn nicht von der Bettkante gestoßen (bei aller Schiefe des Bildes).
Wenn er nun schon einmal in Tirol war, wollte Doderer die Gelegenheit nützen und einen weiteren Ort, von dem ihm Dorothea erzählt hatte, aufsuchen: Hintertux. Dort war sie nicht sehr lange geblieben, weil ihr und ihrem Mann Walther (der Philosoph Walther Schneider) nach eigener Aussage bald „die Luft zu dünn“ wurde.
Heimito von Doderer reiste also weiter. Kufstein – Jenbach ward rasch erledigt, Jenbach – Mayrhofen weniger rasch, und umso noch weniger rasch, als dem Dichter eine Bahn vor der Nase davonfuhr, was aber nur eine Marginalie sowohl in dieser Geschichte als auch im ganz großen Weltgeläuft darstellt. Die Achenseebahn, die Doderer in der Wartezeit besichtigte, dampfte selbst im Stehen mächtig, mächtiger, als es die Zillertalbahn, die ihm davongefahren war, im Fahren getan hatte. Eigenartig, aber wohl technisch erklärbar.
Doderer wartete am Bahnhof, es kamen Züge und es gingen Züge. Sie kamen aus Wien und München und Hamburg und gingen nach Innsbruck und Bregenz und Verona. Ein bisschen Fernweh, ein bisschen Heimweh, das durfte er sich zugestehen. Doch das Volk, das hier auf den Bahnsteigen verkehrte, beunruhigte ihn. Es war kein vornehmes, es war der Ruass, wie er diese Art von Menschen, die unendlich weit weg von einer Menschwerdung waren, in seinen Dämonen nannte. Die Dialektgrenze überschritten, wie seine Romanfigur Leonhard Kakabsa, hatte hörbar keiner, es war also niemand wert, Gegenstand des Nachdenkens über ihn zu sein. Und Doderer bekam Bedenken, wie das denn dann erst in Hintertux werden würde.
Die nächste Garnitur der Zillertalbahn stampfte heran, ihrer Remise entkommen, und nahm den Fahrgast auf, der, nebenbei und der Ordnung halber sei es bemerkt, kaum Reisegepäck mit sich führte, da sein Ziel ja eines war, in dem alles für ein kommodes Leben bereitgestellt war. Das Tal, durch das es ging, mochte zwar ein viel besungenes sein, aber einzunehmen vermochte es Doderer nicht, es bleibt in seinem Repertorium, dem Begreifbuch von höheren und niederen Lebens-Sachen, unerwähnt. Die Unannehmlichkeit des Umsteigens von der Eisenbahn in einen Omnibus der Post in Mayrhofen wird in unserem kleinen, alles raffenden Bericht nur kurz gestreift, die Ankunft in Hintertux nach einer haarsträubend rumpelnden und abenteuerlichen Fahrt durch enge Schluchten und über schwindelnde Eichendorff’sche Felsenschlüfte nahezu ebenso.
Und in Hintertux? Es war nicht viel los, außer dünner Luft (wie Recht Dorothea doch gehabt hatte!) gab es kaum etwas. Und doch: Es hatte sich damals eine Theorie der regionalen Ethnologen, von denen die Landesuniversität im nicht gar so fernen und nach dieser Anfahrt doch aus der Welt zu sein scheinenden Innsbruck ein paar wenig Nennenswerte hatte, bemächtigt: Das hintere Zillertal, hieß es, sei von Sizilien aus besiedelt worden. (Dass sich das Jahrzehnte später als Irrtum herausstellte, sei hier der wissenschaftlichen Ordnung halber erwähnt. Es war das hintere Ötztal, nicht das Zillertal.) Das Dunkle (eigentlich war es für Doderer eher etwas Finsteres als etwas Dunkles) der Haut und der Haare der wenigen Menschen ließ Doderer, der von dieser Theorie gelesen hatte, an dieser nicht zweifeln. Erst recht nicht, als sich ihm zwei Kinder, um ein Almosen bettelnd, in den Weg stellten. Und er notierte etwas, was Dorothea Zeemann später in Jungfrau und Reptil zitieren sollte: „Sie betteln und verneigen sich – kein Stolz in diesem miesen Plebs – statt dass sie Steine nach mir werfen. Dieses Volk hat keine eigene Daseinsberechtigung. Es hat keine schöpferische Disziplin.“ Beziehen tat sich das auf Sizilianer, aber es war auch auf die Leute hier anzuwenden.
Es ist unklar, auf welchem Weg diese Bemerkungen den Weg ins Tuxertal gefunden haben. Aber sie haben ihn gefunden. Nur wenige Jahre nach Doderers Besuch wurde in Hintertux die Gletscherbahn eröffnet und der Sommerskilauf aus der Taufe gehoben. Auf einem Transparent über der Eingangspforte der Talstation standen die Worte: „Der schöpferischen Disziplin des hiesigen Menschenschlags verdankt die Welt dies Wunderwerk.“
Wir müssen hier einen harten Schnitt machen, es hilft nichts.
Wie enden Die Merowinger?
„Verzeihen Sie, aber das Ganze ist doch ein Mordsblödsinn.“
„Ja freilich, freilich Blödsinn!“

 

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