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La coltivazione di un luogo ideale

Vor fast 40 Jahren erschien das legendäre Buch „Die Erben der Einsamkeit“, in dem Aldo Gorfer (Text) und Flavio Faganello (Bild) die abgelegensten Bergbauernhöfe Südtirols porträtierten. Quart unternimmt in einer Artikelserie den Versuch, an diesen Orten wieder einmal Nachschau zu halten. – Folge 2: Der Bauernhof als ein Ort für Aussteiger, als Gasthof und als Kunstlabor. Von Simone Mair / Lisa Mazza (Text) und Nicolò Degiorgis (Bild)

Nach Monaten, die wir zuhause verbracht haben, sind wir endlich wieder draußen. Können uns im öffentlichen Raum, der Natur, der Landschaft bewegen. Nach dem endlos scheinenden Verweilen in unseren privaten Räumen machen wir uns auf den Weg, auf eine Entdeckungsreise getrieben von der Neugierde, unterschiedliche Lebensweisen am Berg zu erkunden. Drei Bauernhöfe sind unser Ziel, die in ihrem Erscheinungsbild und dem eigenen Selbstverständnis, das Leben am Berg zu gestalten, wohl nicht unterschiedlicher sein könnten. Es vereint sie die Beschaffenheit der Landschaft, in der sie eingebettet sind: meist steil und karg, schmale kurvige Bergstraßen führen zu den Höfen. Hat man das Ende der Straße erreicht, ist man am Ziel. Ein beruhigendes Gefühl – ganz nahe an der Einengung. Die Erreichbarkeit der Höfe über asphaltierte Straßen ist dank der politischen Maßnahmen, die den Bergbauernhöfen in den letzten Jahrzehnten zugewiesen wurden, eine Selbstverständlichkeit geworden. Die Distanz zu den Dörfern und Städten in der näheren Umgebung scheint sich so auch im Kopf reduziert zu haben. Die Höfe sind aber nicht als Endpunkte zu begreifen, sondern als Anfangspunkte für ganz unterschiedliche Lebensmodelle, die sich in einen natürlichen Kreislauf der Jahreszeiten und sich verändernde klimatische Bedingungen einbetten. Sie laden zur geschäftigen Langsamkeit ein: Wenn auch das Auto stehen bleiben muss, so können neue und ausgetretene Pfade erkundet werden – sowohl mit dem Körper als auch im Geiste.
Das „landwirtschaftliche Unterproleteriat“, wie es Aldo Gorfer noch Anfang der 1970er Jahre beschrieben hat, scheint der Vergangenheit anzugehören. Wir treffen auf Menschen, die in diesen Orten einen Möglichkeitsraum sehen, ihren eigenen Lebensweg zu gestalten und neue Modelle zu erproben. Das Leben am Berg bedeutet längst nicht mehr ein Leben in der Abgeschiedenheit, Erledigungen im Tal sind Teil des Alltags und, sofern keine meteorologischen Extremsituationen vorherrschen, auch motorisiert machbar. Der Lebensrhythmus ist geprägt durch die Jahreszeiten. Das Leben findet in den warmen Monaten meist außerhalb des Bauernhauses, in kälteren Perioden vor allem drinnen statt. Wirklicher Müßiggang tritt nie ein.
Und doch hat, wer auf diesen Höfen lebt, nicht den einfachsten Weg gewählt. Warum sich einen Lebensraum in der Einsamkeit suchen? Wie steht es um die Verwurzelung in der Tradition und im Glauben heute – Grundsätze, die vor 50 Jahren noch unhinterfragt blieben? Welche Lebensmodelle sind für das Bäuerin- und Bauer-Sein denkbar?
Alle drei Höfe, der Löcher-Hof und Stallwies im Martelltal und der Aspmayr-Hof in Unterwangen, versuchen auf ihre ganz eigene Art, ihren idealen Ort zu gestalten und zu leben.

Die Aussteiger und Landschaftserhalter

Unseren ersten Halt machen wir im Martelltal, beim Löcher-Hof auf 1.780 Metern. Seit knapp zehn Jahren wohnt hier das aus Deutschland stammende Ehepaar Scheurer. Der letzte Erbe des Hofes hatte keine direkten Nachfahren, niemand aus dem näheren Umfeld hatte Interesse, sich des schon etwas baufälligen Hofes an steilen Hängen anzunehmen. Die Scheurers haben sich nach einem Leben in der geschäftigen Stadt nach Ruhe und Einsamkeit gesehnt und diese im oberen Martelltal am Löcher-Hof gefunden. Sie sind Aussteiger, haben sich ausgeklinkt aus dem Weltgeschehen und entscheiden selbst, wann und mit welcher Intensität sie mit der Zivilisation in Kontakt treten. Fast immer lag das bisher in ihren Händen. Außer im letzten Winter, als es nicht aufhören wollte zu schneien. Wochenlang waren sie von der Welt abgeschottet. Die Vorratskammer war zum Glück gefüllt und der Weg zu den Schafen im Stall zwar beschwerlich, aber passierbar. Auch wenn sie nicht die natürlichen Erben des Hofes sind und nicht mit der lokalen Tradition verwurzelt sind, haben sie außer den notwendigen Arbeiten, um den Hof zu sichern, keine großen Veränderungen vorgenommen. Großteils ist alles noch so belassen, wie sie es vorgefunden haben; die Decken niedrig, die Schwellen hoch. Die Aufgaben sind zwischen den Eheleuten klar verteilt, oft sehen sie sich nur beim Essen, da die restliche Zeit von einer steten Beschäftigung geprägt ist – im Gemüsegarten, im Stall, an den steilen Hängen oder in der Werkstatt. Wolfgang, der Hausherr, fragt sich immer wieder, welche Aufgabe sie mit dem Beleben und Bewirtschaften dieses Hofes am Berg übernehmen. Mehr als um Erträge aus der Bewirtschaftung – ihre Lebensgrundlage ist die Rente – geht es darum, die Landschaft zu erhalten. Sie sind keine Selbstversorger im engeren Sinn, doch versuchen sie so viel wie möglich am Hof selbst zu produzieren; vor allem Gemüse, ein wenig Fleisch und immer genügend Lebensmittel vorrätig zu haben. Auch Amazon Prime findet immer wieder seinen Weg zu ihnen, da das Leben am Berg nicht bedeutet, dass man nicht mit der neuesten Technologie ausgestattet sein kann.

Vom Bauern zum Gastwirt

Nach einer kurzen Autofahrt vom Löcher-Hof bergauf erreicht man Stallwies (1.953 m). Dank der Lage auf einer kleinen Hochebene wirkt die Landschaft etwas freundlicher. Diese geografische Position sowie besondere Rahmenbedingungen (wie die Bergbauernförderung und der Bau von Infrastrukturen) haben es der Familie Gamper erlaubt, sich stetig weiterzuentwickeln, zu vergrößern und verändern. Der junge Bauer Eduard, den Flavio Faganello in den 1970er Jahren in der Stube abgelichtet hat, ist mittlerweile Großvater. Auch wenn sein Sohn den Hof geerbt hat, ist er derjenige, der uns einen Einblick in das Leben am Hof gibt.

Vom ursprünglichen Bauernhaus aus dem Jahr 1864 sind nur mehr wenige Elemente sichtbar. Mehr als Bauern sind die Hofbewohner mittlerweile Gastwirte. Der Hoferbe kocht, sein Bruder hat den Service über. Die Frau des heutigen Erben stammt aus Ostdeutschland. Man spürt, dass die Herkunft ein Detail ist, das auch am Berg nicht nebensächlich ist. Ob ein Mädchen aus dem Tal tatsächlich hier oben durchgehalten hätte, ist sich Eduard nicht sicher. Hinter dem Hof befindet sich ein neues Gästehaus im modernen Holzbau inklusive Panoramablick auf den dahinschmelzenden Cevedale-Gletscher. Der Lebensrhythmus ist den touristischen Saisonen angepasst, der landwirtschaftliche Kreislauf spielt nur mehr bedingt eine Rolle. Was auf dem Feld angebaut wird und im Stall wächst und gedeiht, dient vor allem dafür, die Gäste und die Familie zu versorgen. Es ist die Gastwirtschaft, dank der keinem Nebenerwerb nachgegangen werden muss; damit gibt es auch keine Abhängigkeiten von anderen. Nach den quirligen warmen Monaten scheint sich die Familie regelrecht auf die Ruhe und die wenigen Monate der Einsamkeit und Stille – ohne das enge Zusammenleben mit den Touristen – zu freuen.

Der Anbau eines idealen Ortes

Der Aspmayr-Hof liegt knapp 90 km vom Martelltal entfernt in Unterwangen (Ritten) in der Nähe von Bozen. Er befindet sich auf 820 m Meereshöhe, vergleichsweise viel niedriger als die anderen beiden Höfe, ist jedoch eingebettet in eine Berglandschaft und abfallende Wiesen und Weiden. Der Hof wird von einem jungen Paar bewirtschaftet, Margareth und Simon, zu denen sich seit Kurzem ihr gemeinsames Kind Julius gesellt hat. Margareth ist auf dem Hof aufgewachsen und nach dem Studium der Literaturwissenschaften und Performancekunst in Österreich und Belgien mit ihrem österreichischen Partner vor acht Jahren zurückgekehrt auf der Suche nach neuen Wegen, um diesen abgelegenen Ort zu (be)leben. Gelangt man zum Hof, nimmt man gleich wahr, dass hier neue Formen erprobt werden, das Leben am Berg zu begreifen. Neben den landwirtschaftlichen Gerätschaften trifft man auf Spuren künstlerischen Arbeitens am, im und um das Haus. Seit 2012 wird nämlich am Hof eine Künstlerresidenz und ein Veranstaltungsprogramm organisiert, der Hof wird zum „Hotel Amazonas“, einer temporären freien Zone, die zum Experimentieren zwischen den Kunstformen einlädt. Künstlerinnen und Künstler verweilen am Hof, setzen sich mit dem, was sie umgibt, auseinander und lassen Interventionen entstehen, die Materialien neue Bedeutungen zuschreiben und unser Dasein als Teil eines größeren ökologischen Systems begreifen, das eine Trennung zwischen dem Menschlichen und Nicht-Menschlichen zu überwinden versucht. Dann wird Fermentieren als produktiver Prozess und Metapher gesehen oder das Züchten und Zusammenleben unterschiedlichster Hühner-Arten mit Hilfe der Technologie erprobt. Die Rollen der Hofbewohner gehen versatil ineinander über: Bäuerin, Köchin, Performerin, Künstlerin, Mutter oder Gastwirtin. Es gibt Schweine und Kartoffeln, Schafe, Kastanien, Weinreben und verschiedene Obstsorten, die biologisch angebaut werden, nach dem Prinzip der Permakultur, um so natürliche Kreisläufe zu respektieren. Die Vermietung einer kleinen Wohneinheit im Dachboden und das Aushelfen bei einer benachbarten Tischlerei bilden einen Nebenverdienst; der Buschenschank ist derzeit nicht in Betrieb.
Der Aspmayr-Hof, das Hotel Amazonas in den Bergen, ist ein Ort, an dem der Anspruch La coltivazione di un luogo ideale („Anbau eines idealen Ortes“) tagtäglich gelebt wird, losgelöst von Normen und Konventionen; mit der Natur – nicht in der Natur. Er erinnert uns an „Agricola Cornelia SpA“, ein Projekt des italienischen Künstlers Gianfranco Baruchiello, der zwischen 1973–1981 einen landwirtschaftlichen Betrieb außerhalb von Rom betrieb. Getrieben vom Wunsch, seine künstlerische Praxis mit der Landwirtschaft und der Tierhaltung zu vereinen, hat er sich den Kreisläufen von Boden und Erde angenähert, um ihre Verknüpfung mit der Realität tiefer zu durchdringen. Wie kann Kunst, Agrikultur und Kreativität gemeinsam gedacht werden?
In der Agricola Cornelia verschwanden die Grenzen zwischen den Produktionsformen, auch was angebaut wurde, um primäre Bedürfnisse zu befriedigen, wurde zur Kunst, zur Utopie, zur politischen Aktion und Poesie.
Auch am Aspmayr-Hof ist das Kultivieren und Anbauen von utopischen Ideen auf der Suche nach dem idealen Ort Teil des bäuerlichen Alltags. Kunst, Agrikultur und Kreativität vereinen sich und das Zusammenleben zwischen Mensch, Tier und anderen – mehr als menschlichen – Lebensformen im Hier und Jetzt rückt ins Zentrum. Margareth beschreibt den Hof als „steil, feministisch und experimentell“. Diese drei Adjektive vereinen die Landschaft mit einer gesellschaftspolitischen Geisteshaltung und Herangehensweise, die in die Zukunft blickt.

 

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