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Rolle als Realität

Tacita Dean hat das Cover und die folgenden Doppelseiten für diese Ausgabe von Quart gestaltet. Hier ein Text von Raimar Stange zu ihrer Kunst:

„Das Gemeine und das Göttlichste, beides muß im Dichter Statt finden. [Aeußerste Ungleichheit in Hamlets Charakter].“ Friedrich Schlegel 1

I.

Protagonisten aus der Welt der Kunst und Kultur spielen in Tacita Deans Arbeit immer wieder eine zentrale Rolle. Dabei handelt es sich um reale Personen ebenso wie um fiktive Figuren. In ihrem Film „Craneway Event“ (2009) zum Beispiel setzt die vor allem für ihre Filmarbeiten international bekannte Künstlerin dem legendären Tänzer und Choreographen Merce Cunningham (1919–2009) ein Denkmal. Es handelt sich übrigens um den letzten Film, in dem Merce Cunningham selbst noch mitgewirkt hat. Da Merce Cunningham sich in diesem Film selber „spielt“ und bei Proben mit seinem Tanzensemble zu sehen ist, ist seine Präsenz in dieser Arbeit eine gleichsam potenzierte, denn Authentizität und Rolle verschmelzen untrennbar ineinander. In „Berlin and the Artist“ (2012) hingegen steht der Schriftsteller Robert Walser (1878–1956) im Mittelpunkt des von Tacita Dean collagierten Geschehens. Skizzenhafte Zeichnungen des relativ unbekannten Künstlers Martin Stekker (1878–1962), die das Berlin zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum Thema haben –
also jene Zeit, in der Robert Walser in der Stadt war –,
werden da mit alten Postkarten, die Tacita Dean auf Berliner Flohmärkten gefunden hat, auf an der Wand hängenden Tableaus in einen Dialog gebracht. Anders als bei „Craneway Event“ also ist der eigentliche Protagonist der Arbeit, nämlich Robert Walser, hier nicht sichtlich präsent. Der in Berlin lebenden Künstlerin gelingt es also sowohl mit der Strategie der visuellen Präsenz als auch mit der Strategie der visuellen Abwesenheit über Qualitäten von realen Personen aus der Welt der Kultur künstlerisch zu reflektieren.

II.

Fiktives Personal tritt nicht zuletzt in Tacita Deans analogem Film „Antigone“ (2018) auf, in dem das gleichnamige Stück des antiken Tragödiendichters Sophokles (496 v. Chr. – 406 v. Chr.) im Zentrum steht, genauer: die Blindheit des Königs Ödipus und wie ihm seine Tochter – und Schwester – Antigone dann als Blindenführerin dient. Blindheit wird hier mit Hilfe von Doppelbelichtungen und Maskierung der Darsteller konkret in filmische Ästhetik übersetzt. Zudem setzt die Künstlerin unter anderem eine gefilmte Sonnenfinsternis, die die Natur in Dunkelheit versetzt, und collagierte Bilder, die Sophokles’ Stück interpretieren, in Szene. Da Tacita Deans ältere Schwester ebenfalls Antigone heißt, kommen zudem noch biographische Momente ins Spiel, so dass sich die eben nur scheinbaren Widersprüche von Rolle und Realität hier wieder ein Stück weit aufheben.
Der Film „His Picture in Little“ (2017) spitzt dieses spannende Verhältnis von Rolle und Authentizität, von Spiel und Nichtspiel noch einmal zu. Der Titel der Arbeit ist einerseits ein Zitat aus Shakespeares Stück „Hamlet“, andererseits benennt er den Umstand, dass dieser Film von 45-mm auf 16-mm herunterkopiert wurde und so als konkrete Miniatur fungiert. „His Picture in Little“ ist nämlich ein im Miniaturformat konzipiertes Porträt dreier Schauspieler, die bekannte Hamlet-Darsteller sind. Gezeigt wurde die Arbeit, und hier schließt sich der Kreis, dann in einem Raum der Londoner National Gallery, in dem gemalte Porträtminiaturen zu sehen sind. Gefilmt hat Tacita Dean die Schauspieler Ben Wishaw, David Warner und Stephen Dillane in einer Art und Weise, die ein wenig an Andy Warhols legendäre „Screen Tests“ (1964–66) erinnert: Die Darsteller werden abgelichtet ohne jedwede Regieanweisung, keine Handlung und kein Text wird von ihnen erwartet. So präsentieren sie sich vor laufender Kamera zwar, wenn man so will, in Posen, allerdings nicht in solchen, die ein fiktiver Rahmen ihnen in irgendeiner Weise vorschreibt. Das fiktive Moment ergibt sich also einerseits durch die Tatsache, dass ihre Präsenz in das Medium Film übersetzt wird, andererseits dadurch, dass alle hier „auftreten“, weil sie Hamlet-Darsteller von Rang sind. Stephen Dillane hat sein Spielen der Hamlet-Rolle übrigens unter anderem folgendermaßen umschrieben: „Manchmal empfindest du wie Hamlet, dass es die Freiheit, Hamlet zu sein, nicht gibt, weil die Obersten Geister der Kultur sein Schicksal im Vorhinein beschlossen haben“. (Der vollständige Text ist auf S. 47 zu lesen, Anm.) Rollenspiele, sei es auf der Bühne, sei es im „richtigen Leben“, sind halt kulturell determiniert und haben daher nicht zuletzt auch eine geschichtliche Dimension. Und dies gilt gerade für einen Charakter wie Hamlet, der – schon Friedrich Schlegel, der Kulturphilosoph der Frühromantik betonte es – sich durch ein besonderes Maß an Widersprüchlichkeit auszeichnet.

III.

Die hier in Quart erstmals gezeigte Serie „Hamlet“ von Tacita Dean stellt wiederum die Figur Hamlet vor, dieses Mal auf gedruckten historischen Schauspielerkarten, die ebenfalls Darsteller zeigen, die den Hamlet „gaben“. Im theatralischen Kostüm sind diese jetzt zu sehen, sie scheinen so auf der Bühne zu stehen. Verschiedene Posen werden dabei von den in dieser Arbeit tatsächlich schauspielenden Schauspielern vorgeführt, die vom Betrachter dann schnell mit der eigenen Vorstellung des Hamlet-Dramas in Verbindung gebracht werden. Diese Karten, eine von ihnen weist übrigens eine handschriftliche Beifügung auf, wurden von der Künstlerin in ihren Lithografien dann nachträglich bearbeitet, es wurden ihnen nämlich farbige, amorphe Formen, Farbschlieren und -kleckse beigefügt, die einerseits als fragile, ja poetische Kommentare oder Interpretationen gelesen werden können, andererseits aber auch an das Auflösen der Fotos in Folge einer chemischen Reaktion denken lassen. Dualismen sind es erneut, die hier auf den ästhetischen Masterplan treten: das Schwarzweiß der Fotos versus die von der Künstlerin beigefügte Farbigkeit; das Alter der Fotos versus die Aktualität der Bearbeitung; die Gegenständlichkeit des Fotos versus die Abstraktheit der Farbe; die Fiktionalität der Rolle Hamlet versus das Materiell-Tatsächliche der Farbe; und nicht zuletzt die Statik der still verharrenden Schauspieler versus die offensichtliche Dynamik der künstlerischen Bearbeitung. Das ästhetische Resultat dieser, wenn man so will, „Dialektiken“ sind Zeitbilder, frei nach Gilles Deleuzes Filmtheorie, in denen ein analoger Zeitverlauf inklusive der Tradition der von Stephen Dillane ins Spiel gebrachten „Obersten Geister der Kultur“ sein Recht ebenso behauptet wie eine sich einmischende und aggressiv-schöne Unterbrechung dank individueller Schöpfungsakte.

1    Friedrich Schlegel, Literarische Notizen 1797–1801, ed. Frankfurt am Main / Berlin / Wien 1980 Notiz 1201, S.131

 

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