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È pericoloso sporgersi*

Von Nick Oberthaler stammt das Cover dieser Ausgabe von Quart sowie die folgende Bildstrecke. Eine Einführung zu dieser Arbeit liefert Marie de Brugerolle, aus dem Französischen übersetzt von Kristina Lowis.

Nick Oberthaler fährt Zug. Ständig steigt er in Abteile ein, setzt sich und blickt aus dem Fenster, das die jeweils vorbeiziehende Landschaft rahmt. Das trainiert seinen Blick darin, immer wieder den Fokus umzustellen. Weil er weite Strecken zurücklegen muss, beobachtet er das Wechselspiel der atmosphärischen Variationen: Sie verändern die Detailschärfe der Landschaft. Immer wieder zoomt er ein einzelnes Element wie ein Haus auf einem Feld heran, gleich danach springt sein Blick zurück, um die sich rot färbende Sonne am Horizont zu sehen, dann wieder zieht er den Vorhang zur Seite, um das Blickfeld zu erweitern. Oberthaler überträgt die Erfahrung der Bewegung durch eine fahrende Landschaft auf das Blatt und ordnet auf der Suche nach Ansichtsvarianten heterogene Materialien an. Wie bei einem Story-Board oder einem Schnittplan beim Filmemachen fügen sich die Bildelemente in gegenseitiger Abhängigkeit zueinander.

Alle Doppelseiten hier sind identisch aufgebaut. Sie zeichnen sich durch einen breiten senkrechten Streifen aus, der die Farbigkeit der vorausgehenden Seite aufnimmt. Rhythmisch verschiebt sich die Farbe von einer Doppelseite zur folgenden, als ob sich eine Seite auf die nächste ausdehnen würde. Die Übertragung der Farbigkeit zeigt sich auf der zweiten Doppelseite als gelber Streifen, der die Fläche der linken Magazinseite begrenzt. Dieser gegenüber eröffnet sich ein weißes Feld, als hätte man ein Blatt Papier auf den grauen Hintergrund gelegt. Darauf befinden sich drei mit blauem Kugelschreiber gezeichnete Skizzen. Sie zeigen das Fragment eines durchgestrichenen Dreiecks und die schräge Basis zweier weißer Rechtecke auf blauem Grund, über dessen Linie die Filzstiftschraffur hinausgreift. Die beiden Vignetten zeigen eine Ansicht von oben auf so etwas, das an geöffnete Briefumschläge erinnert. Linksseitig wiederum ist ein kleines Gemälde zu sehen. Es scheint über dem grauen Hintergrund zu schweben, denn an seiner Unterkante ist ein Schatten zu erkennen.

Ist das eine Postkarte?
Das ist eine Postkarte! 


Wieso sich das so leicht behaupten lässt? Aufgrund des Formats. Alle anderen gemalten Elemente des vor uns liegenden Raums besitzen Proportionen, schlichte, wiedererkennbare Formen: Dreiecke, Quadrate … doch das einzig konkret dimensionierte Element ist dieses aufgelegte Bild. Es hat ein Standardmaß: Seine Proportionen sind bezeichnend und indexieren es als Postkarte. Ihre Komposition folgt einer bestimmten Gattungskategorie der Malerei. Sie zeigt eine Landschaft, genauer gesagt eine Landschaft niederländischer Art mit der für diese Malweise typischen tiefen Horizontlinie. Der graue Himmel füllt den überwiegenden Teil des mit einem blauen Pinselstrich abgeschlossenen Raums aus. Die rote Scheibe verweist auf jene erwähnte untergehende Sonne. Alles ist scharf umrissen, bis auf die blaue Pinselspur. Durch diese Geste wird das Bild zur „Komposition“: ein informelles, vom Kartenrand begrenztes Zusammenspiel von drei in der Fläche zusammengeführten Elementen. Der Begriff der Komposition geht mit einer Reihe von Regeln einher und bezieht sich auf die Konzeptionsphase eines Werks. Für Oberthalers künstlerische Praxis ist die konzeptionelle Entwicklung entscheidend.

In der Malerei bedeutet Komposition die Kunst, Farben und Formen zusammenzusetzen, und bezieht sich auf deren Anordnung auf einer Oberfläche. Oberthalers Komposition allerdings wird zur Partitur, weil sie sich nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich entfaltet. Durch die überlappende Anordnung der Arbeit auf den Seiten des Magazins wiederum und die sinnliche Wahrnehmungserfahrung des Lesens wird sie zur Konstruktion. Auf diese Weise nämlich entzieht sich die Arbeit den Rahmenbedingungen einer Zeitschrift und reflektiert einen veränderten Habitus des Lesenden. Ein Buch öffnet sich normalerweise auf zwei rechts und links vom Mittelfalz angeordnete Seiten. Man liest von links nach rechts oder umgekehrt, von oben nach unten, ein Blatt nach dem anderen, bevor man weiterblättert. Mit dem Aufkommen von Tablets und Computertastaturen mit integrierter Maus blättern wir aber keine Seiten mehr um, sondern schieben eine Bildschirmseite über die andere. Eben diese Tatsache hat Oberthaler in die Praxis umgesetzt. Er kombiniert zwei Modalitäten: das Schieben (slide) und das Blättern (flip), und eröffnet damit eine veränderte Form der Rezeption. Aus der Kombination beider Modalitäten entsteht eine hybride dritte Lesart: ein Gemälde, das sich umblättern lässt, ein Buch aus Bildern, das sich mit der Zeit entfaltet. Der Hintergrund tritt in den Vordergrund und wird wiederum selbst zum Hintergrund der nächsten Seite. Die Malerei wird in einen Erzählstrang überführt.

Um was für eine Art von Malerei handelt es sich? Eine Malerei, die Fenster öffnet.

„Die Malerei hat genau dann zwei Dimensionen, wenn sie aufhört, Hintergrund zu sein“, sagt Martin Barré.1
Eine Malerei, die sich ihres Gegenstands entledigt hat, ist a priori nicht figurativ darstellend, sondern abstrakt; Postkarten im eigentlichen Sinne zeigen Landschaften, Farben und Formen als konkret fassbare Elemente. Die frühesten Inspirationen Piet Mondrians waren konkrete Bäume, deren kraftvolle Linien er später in seine abstrakten Gemälde überführte. Das Landschaftsbild ist ein Ausschnitt, ein Stück eingerahmte Natur. Ein Gemälde ist ein Rahmen, ein Viereck, das einem Fenster gleichkommt. Dieses Fenster kann sich entweder nach außen öffnen oder den Blick nach innen freigeben. Der Ausspruch, die Malerei sei wie ein Fenster zur Welt, wird Alberti zugeschrieben. Zunächst hat er von ihr als einem Fenster zur Geschichte der Welt gesprochen, dann von einem offenen Fenster, von dem aus er sehen könnte, was hier zu malen sei.2 Oberthaler öffnet das Fenster auf die Malerei selbst. Am Anfang steht die frei erfundene Geschichte einer Reise, oder vielmehr einer Strecke, einer Bewegung zwischen zwei Punkten, zwei Orten, zwei Räumen. Dabei handelt es sich nicht um eine Erzählung mit Anfang, Höhepunkt und Ende. Alles findet unterwegs, zwischen zwei Haltestellen statt, wie auf Eisenbahnlinien. „Eisenbahn“ bezeichnet die eisernen Bahnen, auf denen die Züge fahren: Schienen. Mit einer Schiene arbeitet auch der Bildhauer, der eine Blockseite flach behauen will. Im gleichen semantischen Feld steht die Strecke für die Seitenabfolge im gedruckten Buch und die Straße bezeichnet die hintereinandergeschalteten Maschinen für seine Herstellung in der Druckerei. Oberthalers Strecken bringen die Gesamtstruktur in Bewegung und bilden das Nervensystem seiner Arbeit.

Design on the move. Index.

Das hat jedoch nichts Romantisches – hier gibt es nichts Erhabenes, keine Übersicht und keinen allumfassenden Panoramablick. Im Gegenteil, jede Gesamtansicht wird unmöglich, durch das Nacheinander der Figuren in den hintereinander aufgeschlagenen Seiten. Indem Oberthaler ein Detail streckt, wird es zur Malerei, der Zwischenraum übernimmt die Malfunktion, wie in den Vertikalen Panoramen von Walter Obholzer.3
Diese internen Strecken schaffen eine unendliche Menge an unsichtbaren Punkten und Linien – erst aus ihrer Verdichtung entstehen die Formen. An diesem Gerüst tasten wir blätternd mit den Fingern entlang. Der Finger, mit dem man auf etwas zeigt, heißt „Zeigefinger“ oder „Index“. Index bezeichnet in Pierces Zeichentheorie eine Ikone, die von dem durch sie repräsentierten Gegenstand beeinflusst wird: Die Interaktion generiert eine Abwandlung. Zudem ist ein Index ein Register, ein Namensverzeichnis, eine Nomenklatur, die wortwörtlich „beim Namen ruft“.

Farbennamen, der Name. Outsourced colors. Exformation.

In bestimmten Bildabschnitten (den senkrechten Streifen) hat Oberthaler auf Farben aus ungewöhnlichen Quellen zurückgegriffen, wie etwa den Google color charts:

BLUE: Hex Color #4285F4
RED: RGB (219, 68, 55)
YELLOW: Pantone PMS 123 C
Diese Namen wirken wie geografische Standortangaben, bei denen Längen- und Breitengrade zueinander in Beziehung stehen. Der rote Punkt auf der gemalten Postkarte erinnert an den Punkt auf Google Maps, der als Anhalts- und Orientierungspunkt dient. Genau diesen Effekt erzielt Oberthaler, wenn er zwei Flächen grafisch miteinander verbindet: Er stellt Schnittpunkte bzw. Begegnungspunkte her.

Seine künstlerischen Quellen liegen zum Teil im Realen, was den zwischen Partitur (score) und Permutation (poetic system) angesiedelten Arbeitsprozess erklärt. Oberthaler zeichnet per Grafikpalette am Computer, wobei vorangegangene Skizzen und Recherchen als unsichtbare Informationen mit einfließen. Eine solche Arbeitsökonomie nennt man Exformation: Der abwesende Teil ist genauso wichtig wie der sichtbare Part. Der Künstler selbst nennt es „die unsichtbare Information (noch) nicht ausgeführter Arbeiten“4, wobei nicht ausgeführt nicht heißt, dass es sie nicht gibt. Diese Gleichbehandlung von Skizze und fertigem Werk macht jede Hierarchie zunichte – nach dem gleichen Prinzip, mit dem auch die Unterscheidung zwischen Form und Inhalt aufgehoben wird.

Rewinding pages: a corner twist.

Zeitschriften haben die Eigenschaft, dass man sie von vorne nach hinten und wieder zurück durchblättern kann. Auf der ersten von Oberthaler gestalteten Doppelseite bilden die senkrecht angeordneten grauen, blauen, gelben und grünen Linien ein rhythmisches Raster mit drei Ebenen und Größen aus. Blättert man rückwärts, so wird der Anfang zum Ende, das Vorher zum Nachher, das Motiv zum Hintergrund, das Behältnis zum Inhalt. Im Index der Zeichnungen5 führt Ernst Caramelle eine kleine Skizze wie folgt auf:

1 IDEA
Gedanke
1 picture
Bild
Werk

Er benennt damit das Grundprinzip der sogenannten Konzeptkunst: Ein Gedanke zeitigt eine Form. Ober-
thaler geht noch weiter: In seinen vieldeutigen Werken entspricht einem einzelnen Gedanken gleich eine ganze Serie von Variationen. Auch hierin zeigt sich, dass er Hierarchien auszuhebeln versucht, denn er stellt Grundierung und Oberfläche, Motiv und Thema, Konturen und Flächen gleichwertig nebeneinander. Die von ihm spielerisch eingesetzte Typologie aus wiederkehrenden Formen ist zu seinem Markenzeichen geworden.

Senkrechte Linien (Google color chart)
Das (gelbe, rote) Dreieck
Das Rechteck (der Seite, der Postkarte)
Der (rote) Punkt
Die Postkarte (ein aus zwei Dreiecken gebildetes Rechteck) wird selbst zum Motiv, sie trägt die Komposition, gliedert das Bild und spielt eine Hauptrolle in dieser Arbeit. 


Postkarten: Reisegemälde

Die Postkarte tritt in verschiedenen Erscheinungsformen auf. Sie ist gemalt dargestellt, doch der unterhalb angedeutete Schatten lässt die Illusion entstehen, sie sei in hyperrealistischer Manier auf das Blatt geklebt. Sie ist die Darstellung einer Darstellung, ein Bild im Bild, das die Malerei an sich in Zweifel zieht. 
Duchamp hat 1918 den Begriff „Reiseskulpturen“ („Sculptures de voyage“) geprägt, hier könnte man nun im übertragenen Sinne von „Reisegemälden“ sprechen. Die Postkarten sind eine Art erweiterte tautologische Definition. Als ob man Joseph Kosuths One and Three Chairs von 1965 noch ein Element hinzufügte: das Bild eines Gegenstands, der Gegenstand selbst und seine Definition. Die Postkarte in Quart 37 erweitert die Darstellung im 21. Jahrhundert um eine vierte Dimension: Malen im Bildschirmzeitalter. Vom Fenster zur Screentime.
Die in einem Briefumschlag steckende Postkarte präsentiert den in Quart 37 verwendeten Farbcode wie ein Blatt aus dem Pantone-Fächer. Oberthaler hat eine Reihe solcher kleiner Gemälde mit schwarzen Buchstaben (Letraset) darauf verschickt. Man liest „S. O.“, was einer geografischen Richtung – Sud-Ouest (Süd-West) im Französischen, Süd-Ost im Deutschen – oder dem Anfang von S. O. S. (dem Notruf im Morsealphabet) entsprechen könnte. Auf der mittleren Doppelseite ergeben die Karten eine versprengte kaleidoskopische Ansicht – wie eine durch ein schräg geöffnetes Fenster gesehene Landschaft.

Die meisten Zugfenster lassen sich nicht vollständig öffnen. Manchmal kann man die obere Scheibe herunterklappen, andere sind Schiebefenster, die sich nur horizontal und teilweise öffnen lassen. Es ist sehr gefährlich, in einem fahrenden Zug das Fenster zu öffnen, denn wenn man sich zu weit herauslehnt, läuft man Gefahr, den Kopf zu verlieren.

* Warnhinweis an Zugfenstern: Bitte nicht hinauslehnen.


1    „La peinture a deux dimensions quand précisément elle cesse d’être un fond“, Martin Barré in einer Videoaufnahme, die auf der Seite des Mnam-Centre Pompidou zu seiner Retrospektive (14. Ok-
tober 2020 bis 5. April 2021) abrufbar ist.
2    Leon Battista Alberti: De pittura, im Original in lateinischer Sprache von 1435, Buch I: „quod quidem mihi pro aperta fenestra est ex qua historia contueatur.“ In der von Alberti selbst verfassten italienischen Ausgabe von 1436 heißt es dagegen: „una finestra aperta per donde io miri quello che quivi sarà dipinto“. Zum Übergang von der „historia“ zur Malerei s. Gérard Wajcman, in: Fenêtre, Paris: Editions Verdier, 2004, S. 54–55.
3    S. Walter Obholzer: Vertikale Panoramen, Ausst.-Kat. Galerie Thaddaeus Ropac, Salzburg, 1991.
4    „Invisible information of non-executed works“, Nick Oberthaler im Gespräch mit der Autorin im April 2021.
5    Ernst Caramelle: Josef Troma schläft heute (Marginalien) / PA-RA-BU 11, Frankfurt am Main: Ed. Karl Riha, Patio Verlag, 1978.

 

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