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Fließtext*
Von Laura Freudenthaler

Es geht nicht gut mit dem Schreiben. Wir leiden unter Konzentrationsschwierigkeiten. Du sprichst von Unbehaustheit. Ich sitze unter einem schiefen Dach. Tage dehnen sich aus und ziehen sich zusammen. Wir sind nervös und unendlich müde. Ich war immer gern allein und bin plötzlich einsam. Wir wissen miteinander nichts anzufangen. Kein Anfang möglich. Ist das ein Paradigmenwechsel? fragst du. ¶ Du hast die Nacht immer als dein natürliches Habitat betrachtet, doch die Atmosphäre deines Habitats hat sich verändert. Oft fühlst du einen Druck auf der Brust. Ich spreche davon wegzufahren, um endlich in Ruhe zu arbeiten, obwohl mich hier niemand behelligt. Keiner behelligt den anderen. Es scheint, dass Stillstand etwas anderes ist als Ruhe. Der Rückzug war immer die Grundlage des Schreibens, aber rundherum muss Leben sein. Schreiben ist Leben, sagst du, eines gibt es nicht ohne das andere. ¶ Innen und Außen haben sich verschoben, die Bedeutung von Abgeschlossenheit und Ausgeschlossenheit hat sich verändert. Die Erfahrungen stimmen nicht mehr mit den Wörtern überein. Du sagst, wir müssen die Begriffe neu denken. Um sich zu sammeln, ist ein Raum nötig. Was dem Raum das Drinnen und Draußen ist, sind der Gegenwart Vergangenheit und Zukunft. Gegenwart ist ohne Zukunft nicht möglich. Man muss irgendwohin können. ¶ Mit Vergangenheit und Zukunft, schreibt Simone Weil, füllen wir die Leere. Es geht immer darum, die Leere auszuhalten. Passivität als Weg zur Transzendenz. Sich ausliefern, um erlöst zu werden. Der Sklave als eine Art Ideal: das Werkzeug des Herrn. Die Idee des Göttlichen ist mir fremd. Immer wieder aber setzt Weil Heiligkeit und Genie nebeneinander, also Glauben und Kunst. Gut ist, was man hervorbringt, indem man die Aufmerksamkeit beständig auf das Unaussprechliche, das Unmögliche gerichtet hält. ¶ Nicht die Dinge dieser Welt sind illusionär, sondern der Wert, den wir ihnen beimessen. Jeglicher Besitz ist unwirklich. In gewissem Sinne, schreibt Weil, sind Verbrechen, Krieg und Rache imaginär. Die Energie sei von den Objekten zu lösen, ob es sich dabei um Besitztümer oder den Wunsch nach Vergeltung handle. Die Energie ist wirklich. So wie zehntausende Gigatonnen Kohlendioxid im Gestein, in den Böden, Wäldern und Meeren gebunden sind, so stecken unvorstellbare Mengen an seelischer Energie in Besitztümern und falschen Werten. Wenn nur ein wenig davon frei würde. Gelingt die Loslösung, so Weils Gedanke, entsteht Leere. Durch die Leere kann die Gnade eindringen. ¶ Ich stelle mir Hügel vor, Erde, Wiesen und Bäume, grünen Wald. Eine Landschaft sehen, schreibt Weil, in der ich nicht bin. Wenn ich irgendwo bin, beschmutze ich die Stille des Himmels und der Erde mit meiner Atmung und meinem Herzschlag. ¶ Weils Leere und die Reinheit ihrer Sprache sind die denkbar größten Gegensätze zu dem, was uns medial umgibt. Zu den digitalen Bildern, Informationen und Inhalten. Die irreal sind. Ich lese Weils Schriften in einer Welt, aus der das Sinnliche verbannt worden ist. Ihre Abstraktheit entspricht meiner Perspektive: Ich bin aus der Welt, obwohl mittendrin. Ungreifbar sind Weils Aufzeichnungen für mich nur, wo ihr Wahn durchschimmert. Das religiöse Denken, nicht das Nachdenken über Religion. Manche Stellen erinnern an Exerzitien. Der unbedingte Wille zur Selbstauslöschung. Sie ist brutal und voller Liebe und sie ist mir nahe. Sie schreibt: Der Widerspruch ist die Spitze der Pyramide. ¶ Einen Moment lang begreife ich, was sie mit der Abwesenheit Gottes meint, im Angesicht der schlimmsten Geschehnisse. Wo religiöse und
atheistische Erfahrung auf gewisse Weise zusammenfallen: Es gibt keinen Trost. ¶ Solange ich allein bin, geht es. Solange wir nicht sprechen. Ich will nicht telefonieren. Nichts hören und sehen von der Welt. Nach und nach werden alle verrückt, höre ich dich sagen. Am ungefährlichsten ist es, nur für sich zu sein. Am ungefährlichsten nur für sich selbst. Du sprichst von der Angst, nichts zu sagen zu haben. Wir teilen den Erfahrungshorizont und die Handlungsmöglichkeiten, aber über unsere Unfreiheit wollen wir nicht sprechen. Über das alles Beherrschende. ¶ Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, wie die Glieder einer Kette. Das Leiden, schreibt Weil, sei nichts als die Verbindung zwischen Vergangenheit und Zukunft. Unmöglich, eine Zukunft zu denken, in der das Unglück fortdauere. Die Zeit sei irreal, aber unsere Unterwerfung darunter sei wirklich. Die Höhle zu verlassen bedeute, sich nicht mehr an der Zukunft auszurichten. Die Leere wird möglich. ¶ Von der Oberfläche gehen wir in die Tiefe. Dem Rasenden stellen wir die Langsamkeit entgegen. Mit der höchsten Aufmerksamkeit von Wort zu Wort. Dem Impuls nicht folgen, sondern betrachten, schreibt Weil. Und: Das Gute ist, was sich nicht nicht tun lässt. Wenden wir uns dem Wirklichen zu.

— * Text, der in einem Stück und ohne Unterbrechungen durch Absätze, Überschriften, Abbildungen, Fußnoten u. Ä. gesetzt wird.
— Aufforderung, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen und dabei nicht zurückzuschauen; freihändig draufloszulegen, ohne zu korrigieren; die Buchstaben zu Papier zu bringen und bedenkenlos aus der Hand zu geben.

 

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